Der Weg ins Büro
von Hubert Winkels
23.7.2021

Eine Miszelle zu Moritz Baßlers Kritik der Literatur/Kritik

INHALTE ÜBERWINDEN war jahrelang in großen Lettern auf einer Redaktionstür der Kulturabteilung des Deutschlandfunk zu lesen. Ausgerechnet bei der Pop-Redaktion der täglichen Sendung „Corso“. Täglich kam ich an dieser satzzeichenlosen Aufforderung vorbei. Ich musste sie jedesmal zwanghaft murmeln, meist gedankenlos, manchmal zu plötzlichen Einfällen animiert. Zum Beispiel, dass es eine Kulturredaktion doch schmücke, wenn sie auf diese Weise, also via negationis, die Dominanz, ja die Absolutheit der Form propagiert; erst recht, wenn sie sich der Musik hingibt, der Kunstform mit den stärksten, weil konstitutiven antiessentialistischen Impulsen. Oder ein anderer Gedanke en passant, sozusagen den Corso abschreitend: Was heißt das eigentlich, und wie funktioniert es: ‚Überwinden‘? Der Begriff ‚Sublimieren‘ als Psychotechnik zur traumaüberwindenden Kulturbegründung ist ja etwas aus der Mode gekommen. Dass Jesus den Tod überwunden hat in der österlichen Auferstehung ist hingegen eine Art motivische Hintergrundstrahlung für jede Idee einer Befreiung aus den Fesseln der materiellen Welt. Diese unsere Welt als Sündenpfuhl zu denken ist im Gegensatz zur Auferstehung selbst ebenso aus der Mode gekommen. 

Allerdings knüpfen sich Überwindungsenergien in den letzten Jahrzehnten immer stärker an sexuell maskierte ekstatische Momente, oft von Musik und Kollektiverregungen aller Art getragen. Sozial dosierte, eher dionysisch inspirierte Erlösungsangebote zur Überwindung der Schwerkraft des Herkommens, der sozialen Markierung, des alten Adam eben. Erlösung auf Zeit und auf Verlangen, insulare Versprechen für insulare Menschen, die sich in einem anderen Medium selbst verlieren wollen. Verausgabung, Hedonismus. Überwindung des Ich und der Seinsschwere. Aufsteigen in den Äther mit geschlossenen Augen. INHALTE ÜBERWINDEN.

Wie gesagt, die tägliche Botschaft der Pop-Redaktion an den Passanten aus der Literaturredaktion. Der im Redaktionsflur nun ein plakatgrossses altes Spiegelcover passiert. Darauf mit einer Atomrakete lachend Kim Jong-un als Popstar: DER VERRÜCKTE MIT DER BOMBE. Noch ein Einfall von der Seite: Das planetarisch-technisch gesehen maximale Inhaltskonzentrat wäre der atomare Sprengkopf einer Rakete. Essentialisierung bis zum Punkt ohne Rückkehr. Seine Wirkung wäre entsprechend die völlige Formauflösung. 

Entkoppelung, Pulverisierung, Rauschen, Grau…

Gelassen geht er weiter, der Literaturkritiker, ohne Flurschaden hinüber ins Eigene, kehrt ein unter sein Dach mit der Frage, wie denn mit der Sprache ein solches nicht-atomares, sondern formbewusstes Kunststück der Welt-Überwindung zu installieren wäre. Und wie, man ist ja als Kritiker und Redakteur tätig, ein solches Form-Energie-Konzentrat zu identifizieren, zu beschreiben, zu feiern oder auch zu kritisieren wäre. Die zu überwindenden Inhalte wären ja nicht nur literarischer, sondern in jedem Fall grundlegend sprachlicher Natur. Inhalte sind Sinngebilde, deren exquisiteste, weniger geschmäcklerisch gesagt: deren älteste und vornehmste Ausformung poetischer Natur ist. Am genealogischen Anbeginn trifft sie auf die noch nicht von ihr geschiedene religiöse Formgebung. 

Im sprachlichen Laboratorium wird diese Inhalt=Welt überhaupt erst erzeugt und weitergezeugt durch die Zeiten bis zu dem Punkt, wo eben dieser genealogische Prozess durchschaut oder doch weitgehend transparent wird. An diesem Punkt der Redaktionsflurgedanken entsteht die Idee eines literaturredaktionellen Gegenplakats mit der Aufschrift INHALTE ERZEUGEN.

Das klingt nun zugegeben weniger charmant und spitzbübisch, eher nach einer Allmachtsphantasie der Literatur und erst recht der Kritiker, der blassen „Vertreter einer sekundären Welt“, um es mit Günter Grass zu sagen. Aber wir Leser, erst recht wir beruflichen, sind doch nicht nur Empfänger tieferer Botschaften von anderswo. Wir kollaborieren doch in Verstehensakten mit dem, was sonst als Literatur genannter objektiver Block vor uns stünde. Wir bauen doch mit an den Verstrebungen der Welt und an den medialen Möglichkeiten, sie einzureißen und ins Jenseits davonzufliegen. Eigentlich doch eine phantastische Tätigkeit, die Beruf zu nennen nur eine schützende Dissimulation ist.

Ja: INHALTE ERZEUGEN. Ich öffne die Tür zu meinem Literaturredaktionszimmer, nehme vor dem Bildschirm Platz und lese die neuen Emails. Neben Einladungen zu diversen Sitzungen auch eine Aufforderung zur Teilnahme an einem Seminar über das jüngste CMS-update. Das ist: Content Management System (System der Inhaltsverwaltung). Es erfordert die Präparierung eines inhaltlichen Kerns jeder medial und formal gestalteten Botschaft. So wie sie idealerweise ohne Verzerrung durch die äußere Gestalt sich zeigte. Das wäre dann FORM ÜBERWINDEN, ein zentraler digitaler Topos. In technischer Konkretheit als binäres Zeichensystem wirksam, in der sozialen Interaktion als homogenisierte instrumentelle Diversität: linear, online, social media, verschiedene Apps, Druck, script für Gespräche, Podcast…. Schnell die Tür zu. 

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