Der Neue Midcult
von Moritz Baßler
28.6.2021

Vom Wandel populärer Leseschaften als Herausforderung der Kritik

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 132-149]

Milch und Honig

»milk and honey« (2014) von Rupi Kaur ist der erfolgreichste Lyrikband der Literaturgeschichte. Mit einer Auflage von 3,5 Millionen Exemplaren stand er länger als ein Jahr auf der Bestsellerliste der »New York Times«. »milk and honey«, so heißt es im Stil der Gedichte selbst am Ende des Buches, »is a / collection of poetry about / love / loss / trauma / abuse / healing / and femininity«; jedes seiner vier Kapitel behandele »a different pain«. »milk and honey takes readers through / a journey of the most bitter moments in life / and finds sweetness in them / because there is sweetness everywhere / if you are just willing to look«.

Als Gertrude Stein einst schrieb »Successions of words are so agreeable« – das Motto ziert den Lyrik-Buchladen Open Books in Seattle – hatte sie vermutlich anderes im Sinn, doch 79 % der Amazon-Kundenrezensionen der deutschen Ausgabe vergeben 5 Sterne. »Am liebsten würde ich die Autorin umarmen und mich bedanken dafür, dass sie soetwas geschrieben hat. Das Buch ist herzzerreißend und wunderschön. Die Texte sind sehr tiefgründig und mit sehr viel Gefühl geschrieben. Ich liebe es«, schreibt Shimo. »Regt zum Nachdenken an, macht Hoffnung und berührt im Herzen!«, ergänzt Laura H. »Bin sonst kein besonderer Fan von lyrischen Texten, aber das würde ich jeder Frau empfehlen, die gerne tiefgründige und bewegende Texte liest!« Preslava stimmt zu, warnt jedoch, es handle sich keineswegs um leichte Lektüre: »Es ist sicherlich sinnvoll, das Buch zu haben, aber man muss sich dessen bewusst sein, dass es sich hierbei um richtige Kunst handelt, die nicht nur unterhaltend wirkt, sondern auch nachdenklich macht.«

Einer professionellen Literaturkritik oder gar der Literaturwissenschaft geraten Kaurs simple, zugängliche Verse vermutlich gar nicht in den Blick oder wenn, dann würden sie an ihnen nichts Bemerkenswertes finden oder, falls gezwungen, allenfalls ihre formale und intellektuelle Trivialität diagnostizieren, die den ›schweren‹ Themen (Missbrauch, Trauma) nicht recht angemessen scheint. Es ließe sich allerdings auch mit einigem Recht sagen, dass literaturwissenschaftlich geschulte Lyrikkritik hier weder zuständig noch irgendwie vonnöten ist. Die Userinnen in den Sozialen Medien sind vollständig in der Lage, sich ohne professionelle Richtschnur über die Qualitäten zu verständigen, die diese Gedichte für sie haben. Betonung auf: für sie! würde man sagen, doch letztlich unterscheiden sich diese Qualitäten, so wie sie hier formuliert werden, kaum von denen, die guter Literatur auch traditionell zugesprochen werden. Kaurs Lyrik bewege und berühre emotional, sie sei aber auch tiefgründig und rege zum Nachdenken an. Das erfüllt nicht nur die Horaz-Kombi aus »prodesse et delectare«, sondern auch die Voraussetzungen für ein ästhetisches Urteil nach Kant, in dem ein angeregtes Spiel der Erkenntniskräfte auf das Lustempfinden wirkt.

Träte jetzt eine Kritikerin vom alten Schlage wie, sagen wir, Sigrid Löffler (»Die twittern vor sich hin mit subjektiven Geschmacksurteilen.«) oder ein Literaturwissenschaftler wie, sagen wir, ich auf, um diesen Leserinnen zu erklären, sie hätten hier keineswegs »richtige Kunst« vor sich, sondern trivialen Kitsch, so würden wir ihnen aus unserer professionellen, literaturhistorisch und -systematisch autorisierten Warte ein Lektüreerlebnis madig machen, das sie offenkundig bereichert hat, und ihnen dabei sowohl Geschmack als auch intellektuelle Kapazität absprechen. Und selbstverständlich hätten wir damit vollkommen recht – oder eben auch kein bisschen.

Während die zufriedenen Leserinnen in den Zeiten vor Social Media das professionelle Verdikt gar nicht wahrgenommen hätten, jedenfalls aber selbst dazu nicht zu Wort gekommen wären, müsste dieses heute mit einer öffentlichen Reaktion rechnen, die bei Rupi Kaurs 4 Millionen Instagram-Followern womöglich heftig ausfallen könnte. Verleger und Buchhändlerinnen könnten sich anschließen. Sie würden uns dann eine abgehobene Position, Elitismus, (mir) männliche Unzuständigkeit, Arroganz und den Versuch unterstellen, die allgemeine Bedeutungslosigkeit unserer Zünfte mit solchen unangemessenen Urteilen kompensieren zu wollen. Das ist keineswegs ein reines Gedankenspiel, genau das geschah hierzulande 2019 in der Debatte um Takis Würgers Erfolgsroman »Stella« um den historischen Fall einer attraktiven Jüdin, die von den Nazis zur Greiferin gemacht wurde. Auch ging die sozialmediale Gefolgschaft Jasmin Schreibers auf die Barrikaden, als die Kritik Anfang 2020 ihren ersten Roman »Marianengraben« (Sascha Lobo: ein Buch, »das vom Sterben handelt, gleichzeitig sehr lustig und tieftraurig ist, sich aber anfühlt wie ein Roadmovie«) eher als Jugendbuch einordnen wollte.

Soziale Medien und das interaktive Web 2.0 setzen professionelle Gatekeeper-Funktionen aber nicht nur auf der Rezeptionsseite außer Kraft, ähnliches geschieht auch schon in der Produktion. Rupi Kaur wurde bekannt, als sie als Literaturstudentin an einem kanadischen College ein Foto auf Instagram postete, das sie selbst liegend in Hinteransicht mit einem Fleck Menstruationsblut auf der Jogginghose zeigt. Die Plattform löschte das Foto mehrfach, der Skandal machte die junge Autorin bekannt. Auch ihre Lyrik publizierte sie zunächst auf Instagram und dann als Buch im Selbstverlag, bevor ein professioneller Verlag aufsprang. Hätte sie ihre Verse auf traditionellem Wege bei Lyrikverlagen eingereicht, wäre ihre Erfolgsgeschichte womöglich frühzeitig beendet gewesen.

Ästhetische Genuinität

Im weltweiten Netz kursiert eine ungeheure Menge von Gedichten, Romanen, Auto- und Fanfiktion, von der nur ein winziger Bruchteil je größere Aufmerksamkeit erlangt, geschweige denn es zur Popularität einer Rupi Kaur oder E. L. James bringt. Im Prinzip kann jeder hier seine literarischen Versuche publizieren, bewerben und auf eine breite Nachfrage hoffen. Das Verdikt der Frankfurter Schule, die Massenkultur sei nichts als die »Umkleidung eines Immergleichen«, nämlich der Warenform, erweist sich angesichts dieser Netzpraxis noch nachträglich als falsch. Im Netz entstehen Milieus von Angebot und Nachfrage, die denen einer mediengestützten Marktwirtschaft ziemlich genau entsprechen, nur dass erstmal gar kein Geld im Spiel ist. Die Autor*innen schreiben, was ihnen am Herzen liegt, die Leser*innen finden, was ihnen gemäß ist, was wiederum die Angebotsseite bestätigt und so weiter; nicht selten sind die Rollen von Produzentin und Konsument dabei auch vertauschbar.

In Wirtschaftswissenschaften und Marketing gibt es für dieses Verhältnis neuerdings den Begriff der »ästhetischen Genuinität«. Ausgehend von der Tatsache, dass wir in der digitalen Welt mit schier unendlichen Entscheidungsmöglichkeiten konfrontiert sind, »setzt ein Vergleichsmechanismus ein, welcher sich als Affirmation bzw. Konformität (›Ja, das entspricht mir‹) oder Negation bzw. Abgrenzung (›Nein, das entspricht mir nicht‹) vollzieht« (Knödler/Martach 2018: 165). Wie die Bezeichnung schon nahelegt, schreibt sich dieser Prozess vorwiegend über ästhetische Urteile fort, jene Urteilsform also, die »Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet« (Kant, »Kritik der Urteilskraft«, § 8). Wenn dieser Beitritt dann tatsächlich erfolgt, wenn andere das mögen, was ich mag, und umgekehrt, entsteht dabei eine Form von ungezwungener Gemeinschaft, wie sie schon Kant mit dem Ästhetischen verbindet. Zumindest empirisch spricht dabei allerdings nur selten eine »allgemeine Stimme«, sondern meist der Geschmack einer mehr oder weniger spezifischen Stilgemeinschaft, einer Bubble, die kontinuierlich die Qualitäten des Eigenen affirmiert. 

Ästhetische Genuinität bezeichnet also das Prinzip des ›You may also like‹ nicht als Figur der Öffnung, sondern als eine Form der selbstverstärkenden Schließung, die sich sowohl mit dem Kalkül von Angebot und Nachfrage als auch mit dem Mythos des Eigenen und Authentischen bestens verträgt, und zwar gleichzeitig. Was dagegen hier nicht mehr benötigt wird, sind informierte Interventionen von außen, etwa aus Kritik und Wissenschaft. Wo sie überhaupt wahrgenommen werden, werden sie wie alles andere unter der Kategorie ›entspricht mir/entspricht mir nicht‹ prozessiert; die Autorität des Urteils aber verbleibt innerhalb der Bubble. Das ist schon länger die typische Reaktion von Fan Communities etwa aus den Bereichen Gaming, Science-Fiction, Fantasy oder TV-Serien auf wissenschaftliche Forschung zu ihren Gegenständen. Rein positivistisch kennen sie sich in ihrem Bereich zumeist ja auch viel besser aus, mit einer Textkenntnis, einem nerdigen Detailwissen, dem die Wissenschaft nur hinterherlaufen kann. Früher ist das allenfalls Forschern so gegangen, die sich etwa mit Rudolf Steiner oder Arno Schmidt außerhalb von deren Kult-Gemeinschaften und Dechiffriersyndikaten beschäftigen wollten. Heute ist es angesichts populärer Kulturphänomene die Regel.

Was Musil sagt

Die Leser*innen von Rupi Kaur, Takis Würger oder Karen Köhler (»Miroloi«) können sich bestens gegenseitig empfehlen, was für sie gute und geeignete Lektüren sind. Die Stilgemeinschaften von Fantasy oder Quality-TV-Serien verständigen sich erfolgreich über das, was an den jeweils neuen Produkten gut ist. Im Ergebnis, schimpft Löffler, »wird unter dem Deckmantel einer angeblichen Demokratisierung die Literaturkritik in Wahrheit entprofessionalisiert«.

Angesichts eines Heimatkunstromans von Paula Grogger (»Das Grimmingtor«) hatte Robert Musil bereits 1926 sehr grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Gegenwartsliteratur und Kritik angestellt. Heute, so stellt er fest, »gibt es in Deutschland eine katholische, eine völkische, eine sozialistische, eine kommunistische Dichtung (nicht als ›Strömung‹, sondern handfest organisiert!), und was durch ungefähr hundertfünfzig Jahre als ›die‹ Dichtung, als die Dichtung der großen und Urmaße gegolten hat, muß sich je nachdem als bürgerliche, liberale oder gar nur freimaurerische Abart bezeichnen lassen.« Literaturkritik gerate dabei an ihre Grenzen, weil jede einzelne dieser Dichtungen – und entsprechend ihre Leseschaft – »einen ganzen Block von Lebensanschauungen« voraussetzt: »Kritik von Weltanschauungen ist aber eine ganz andere Aufgabe als Kritik von Dichtungen«. Musil redet dabei keineswegs einfach einem L’art pour l’art das Wort; er nimmt seinen Befund eher zum Anlass, mal darüber nachzudenken, »welche Bedeutung der Ideologie in der Dichtung zukommt.« Zugleich bemerkt er allerdings auch, dass diese partikularen Literaturen sich generell durch »eine Abneigung gegen Kritik« auszeichnen: »Kritik gilt als Zeichen der Zersetzung, man lehnt ein Kunstwerk entweder als artfremd sofort ab oder bejaht es freudig« in einer »ganz bestimmte[n] Art von Gläubigkeit« (Musil 1978: 1176f.). Will sagen: Kritik wird von der Stilgemeinschaft »in jedem einzelnen Versuch der Ausführung« als Kritik an ihrer ›Weltanschauung‹ aufgefasst und nicht als Kritik an der spezifisch literarischen Verfasstheit des Einzelwerks.

Was Musil sagt, kommt uns bekannt vor, wenngleich sich seit 1926 die Parameter noch einmal deutlich verschoben haben. Was damals politisch-weltanschauliche Organisationen regulierten, reguliert inzwischen der Markt – Literaturen mit sehr spezifischen Zielgruppen, die den auf sie zugeschnittenen Produkten mit einem Block von selbstverständlichen Erwartungen begegnen. Diese können weltanschaulicher Art sein, müssen es aber keineswegs, wie die paradigmatischen Szenen im Bereich der Fantastica zeigen. Schon Musil erkennt, dass die »Gläubigkeit« von Stilgemeinschaften interessanterweise »keinen bestimmten Glauben« voraussetzt. Das Zugehörigkeitsgefühl, etwa innerhalb der Heimatkunst-Bubble, wird häufig von Textmerkmalen getriggert, die für sich genommen durchaus im Ästhetischen liegen; die Gruppenlebensanschauung geht aber oft weit darüber hinaus. 

Das Dispositiv der neuen Medien begünstigt solche Partikularisierung weiterhin dadurch, dass Kritik heute eben auch medial nicht mehr auf traditionelle Gatekeeper-Positionen (Publikationsmöglichkeiten bei großen Zeitungen und Medienanstalten, Universität) angewiesen ist, um gehört zu werden. Kritik von außerhalb, das gilt dezidiert auch für positive Kritik (und für wissenschaftliche Forschung sowieso), wird bezogen auf den gesamten »Block«, und dann abgelehnt oder freudig bejaht nach dem Muster ›passt uns/passt uns nicht‹. Und die ›eine‹ Dichtung muss sich je nachdem als Literatur alter weißer privilegierter Cis-Gestalten bezeichnen lassen oder wird selbst als Abart partikularisiert, als Frauenliteratur etwa, als Pop-Literatur oder als Young Adult Fiction.

Oder als Adult Oriented Rock – im Bereich der Pop-Musik ist dieser Zerfall in nebengeordnete Stilgemeinschaften ja längst vollzogen. In der Literatur dagegen erhalten wir über Institutionen wie Verlage, Feuilletons und Universitäten, vor allem aber auch über Literaturpreise, Gastdozenturen und Schreibinstitute die Fiktion ›einer‹ Literatur, einer »Dichtung der großen und Urmaße« immer noch mehr oder weniger explizit aufrecht. Das nerdige Zeug kommt dabei in aller Regel nicht so gut weg, bei Bewerbungen in Hildesheim beispielsweise werden Fantasy-Texte sofort aussortiert. Das sitzt trotz aller sympathischen Close-the-gap-Diskurse, die es uns seit den 1960ern ausreden wollen, denn doch noch recht tief. Es gibt zwar enorm divergierende Vorstellungen davon, wie diese Literatur derzeit aussehen soll, was dazugehört und was keinesfalls, doch bleibt irgendwie vorausgesetzt, dass es diesen einen valorisierten Strang noch gäbe – wenn auch eher implizit. Wenn sich Peter Handke als frisch gekürter Nobelpreisträger 2019 explizit darauf beruft (»Ich bin ein Schriftsteller, komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes, lasst mich in Frieden«), dann wirkt das heute auf uns so deplatziert wie einst sein Pilzkopf auf die Gruppe 47 in Princeton (›Ich komme von den Beatles‹).

Ich hatte Kunstgeschichte studiert

Neu ist, dass die Ingroup-Bestätigungsfigur der ästhetischen Genuinität nicht mehr nur, wie gewohnt, spezielle avantgardistische, weltanschauliche oder nerdige Szenen zusammenschweißt, sondern auch den Mainstream. Wie kommt es denn, dass erst die Debatte um ein doch eher unbedeutendes Buch wie Würgers »Stella« die Kluft zwischen Publikum, Buchhandel und Verlagswesen auf der einen und Kritik und Akademie auf der anderen Seite so deutlich hat aufbrechen lassen? Wie war das denn eigentlich vorher? Fragt man so, wird sichtbar, dass gerade im Bereich der eingängigen Erzählliteratur ›mit Anspruch‹, zu der auch »Stella« zählt, im Grunde eine große Einigkeit herrscht. Seit dem internationalen Erfolg der Südamerikaner stellt der Mainstream des gehobenen Buchmarktes, der Murakami-Franzen-Schlink-Knausgård-Ferrante-Kehlmann-Komplex, ja noch am ehesten das vor, worauf man sich als ›die‹ Literatur jenseits der Sparten einigen kann: einen souverän erzählten Populären Realismus, angereichert mit magisch-realistischen Sinnangeboten oder wahlweise auch mit schweren Zeichen aus dem Bereich der deutschen und/oder Familiengeschichte, alles well made und mit Tendenz zum Midcult, will sagen: ohne große Anstrengung zu goutieren (›bewegend‹) und doch mit dem Versprechen verbunden, das Herz der Kultur schlagen zu hören (›tiefgründig‹).

Wo diese Literatur über sich selbst nachdenkt, beruft sie sich auf Vorbilder aus dem Realismus und basht die experimentelle, tendenziell schwierige Literatur der Avantgarden, obwohl die doch längst historisch geworden sind (schon alles, was Musil da 1926 aufzählte, war ja realistisch verfasste Literatur). Die humanisierende Leseliste für die Ex-KZ-Wärterin Hanna in Schlinks »Der Vorleser« etwa, dem erfolgreichsten deutschen Roman der 1990er Jahre, umfasst die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts und deutsche Nachkriegsliteratur der Gruppe 47. »Es verstand sich für mich«, heißt es an der entsprechenden Stelle, dass »experimentelle Literatur, Literatur in der ich die Geschichte nicht erkenne und keine der Personen mag, […] mit dem Leser experimentiert, und das brauchten weder Hanna noch ich.« (Schlink 1995: 176) Das ist zweifellos poetologisch zu lesen, gilt also auch für Schlinks eigenes Schreiben.

Man muss nicht so weit gehen, hier ein fernes Echo der nationalsozialistischen oder auch stalinistischen Verachtung und schließlich Vernichtung der Avantgarden zu vernehmen, was sicherlich nicht in des Autors Absicht läge. Doch wenn dieser hier seinem Publikum unterschwellig versichert: ›Wir wissen schon, was uns taugt, und dazu brauchen wir diesen ganzen intellektuellen arte-Experten-Avantgarde-Kram nicht‹, dann bedient er genau die Figur der ästhetischen Genuinität mit ihrem impliziten Anti-Elitismus und -Akademismus, die auch Fan Communities pflegen. Einst mag es ja so gewesen sein, dass Kritik und Universität sozusagen letzte Bastionen einer Liebe zur komplexen Avantgarde waren. Wenn aber heute eine (durchaus avantgardistische) Buchhändlerin verkündet, sie wäre lieber ein Murakami-Girl als ein David Foster Wallace-Lit-Bro (Christiane Frohmann), wenn ein Kritiker im Feuilleton der SZ erklärt, ästhetisch sperrige Texte seien heute obsolet, weil all die »Migrationsbiografien, die individuellen Selbstentwürfe, die Geschlechterverhältnisse« schon an sich so kompliziert seien, »dass man von ihnen am besten in verständlicher Sprache erzählt« (Felix Stephan), bleibt kaum ein Zweifel daran, in welche Richtung sich der Diskurs verschiebt.

Auch im eigenen Fach. Amy Hungerford, Literaturprofessorin an der Columbia University, verblüffte 2016 mit der Aussage, keine dicken Bücher mehr lesen zu wollen, ganz besonders nicht die von DFW. Sie hatte einer Wallace-Biografie entnommen, dass der Autor mit seinen Studentinnen schlief und überhaupt ein problematisches Verhältnis zu Frauen hatte, und fragte sich daraufhin rhetorisch: »Hat David Foster Wallace wirklich irgendetwas über Frauen oder Gender oder Sex oder Misogynie zu sagen, das der Beachtung wert ist?« (Hungerford 2016: 149) Die Literaturprofi will also »Infinite Jest« nicht etwa nicht lesen, weil es sich um schlechte oder unbedeutende Literatur handelte, sondern weil es einen inhaltlich-ethischen Komplex, einen Kreis von Lebensanschauungen verfehlt, der für sie wichtig ist. Nun könnte man einwenden, dass »Infinite Jest« »von allem möglichen handelt, von Konditionierung, Sucht, Unterhaltung, allen Formen des Monströsen vom Physiologischen bis ins Politische – aber eigentlich nicht wirklich von Misogynie« (LeClair 2016), doch bliebe selbst diese Kritik an der Kritik ja noch im Motivisch-Inhaltlichen stecken – vom ästhetischen Eigenwert des Wallace’schen postironischen Schreibprojektes, das sich für Generationen junger Autoren und Filmerinnen bis heute als Inspiration erweist, ist noch gar nicht die Rede. Grob gesagt wird hier ein Œuvre gedisst, weil es zur eigenen politisch-weltanschaulichen Stilgemeinschaft nicht passt, anstatt dass die Literaturwissenschaftlerin es zunächst in seiner Eigenlogik zu entfalten trachtete – was ja Kritik, auch fundamentale, nicht ausschließt, allerdings zugegebenermaßen Zeit und, mit einem Ausdruck Hungerfords, »investment« kosten würde. Dafür wäre sie immerhin ausgebildet; inwieweit sie als Literaturwissenschaftlerin aber besonders qualifiziert ist, ethische Urteile über Fragen von Sex und Misogynie zu fällen, wäre zumindest die Frage.

Und womit verknüpft sich so eine (in diesem Fall akademisch begründete) Position? Na klar, einmal mehr einerseits mit einem anti-akademischen Impuls und andererseits mit einem Bashing von Verfahren der literarischen Moderne. Hungerford argumentiert (mit Rita Felski), dass eine »Wissenschaftlerin, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die Einbettung eines Werkes in seinen kulturellen und historischen Ursprungskontext richtet, ›sich bloß vor der Verantwortung drückt, ihre eigene Beziehung zu dem Text, den sie liest, zu durchdenken« (Hungerford 2016: 143). Stattdessen solle man doch zugeben, dass man immer irgendwie werte, und auf seine Emotionen vertrauen. Hier wird also die literaturwissenschaftliche Analyse des literarischen Kunstwerks und seiner Text-Kontext-Beziehungen zugunsten eines persönlich-wertenden Zugangs abgewertet. Ein solches Werturteil kann sich dann ja nur aus dem bereits bestehenden Geschmack speisen, und in der Tat scheint Hungerford nicht nur im Falle von DFW, sondern auch sonst immer ziemlich klar, was sie von literarischen Texten erwartet. So bemerkt sie, dass Paul Auster und John Updike zwar mit Themen jonglierten, die sie interessieren, allerdings sei ihr bei der Lektüre schnell klargeworden, dass beide »eben auch nicht mehr taten als das. Die Themen rotierten im Kreis, aber es wurde nie eine Erkenntnis gelandet […], ihre Romane konnten mich nichts lehren« (ebd.: 151). Von Literatur wird also keine ästhetische Ambiguität mehr erwartet, sondern ethisch-didaktische Einsichten, am besten solche, die die Überzeugungen treffen, die man ohnehin schon hat.

Wer aber schon bei John Updike Ambiguitätsprobleme bekommt, der kann mit den Verfahren der literarischen Moderne schwerlich glücklich werden. Ausführlich beklagt Hungerford, Wallace habe seine Kanonisierung überkommenen, aber bei Kritikern angeblich verbreiteten Idealen eines literarischen Modernismus zu verdanken, horribilen Dingen wie »erschwerter sprachlicher Form, Anspielungsreichtum, formaler Selbstbezüglichkeit, einer unverwechselbaren individuellen Stimme, Ambitioniertheit (die sich im Skopus des Werks, seiner Innovation, Intensität, Intertextualität oder auch bloß in seinem schieren Umfang ausdrückt).« Besonders stört sie die damit verbundene »Erwartung, die Leserinnen sollten Arbeit in ihre Lektüre stecken«, und Gipfel der Arroganz ist ihr der Anspruch, man müsse einen Text womöglich mehrfach lesen, um ihn zu verstehen (ebd.: 157). Ihr Buch klingt aus mit einem Lob von – George Eliots »Middlemarch«.

Das ist nun gar nicht so ketzerisch, wie Hungerford selbst glaubt, vielmehr formuliert hier dankenswerterweise mal jemand aus, was längst gängige Praxis im Umgang mit Kunstdingen ist. Immer öfter werden sie nicht mehr bloß von Fantasy-Fans und Amazon-Kunden, sondern auch von Fürsprecherinnen minoritärer Positionen und professionellen Lesern aus einer starken Erwartungshaltung heraus beurteilt, in der die Rezipienten immer schon im Voraus wissen, was das Werk ihnen bieten muss, soll es »der Beachtung wert« sein. Dabei verbindet sich die anti-akademische Position zwanglos mit einer Ästhetik des Populären Realismus, eines International Styles leichter Lesbarkeit, die zuverlässig mit dem Bashing einer literarischen Avantgardeästhetik einhergeht, die schon seit beinahe hundert Jahren keine Dominante im Literaturbetrieb mehr bildet (und in den USA überhaupt noch nie gebildet hat). Stattdessen beruft man sich auf den guten alten Realismus des 19. Jahrhunderts (»Middlemarch«). Den können alle lesen und verstehen, und die Herzensbildung ist gesichert. 

Genau diese Argumentationsfiguren findet man, wie gesagt, mit schöner Regelmäßigkeit in populärrealistischen Megasellern mit literarischem Anspruch wieder, von Schlinks »Der Vorleser« bis Karl Ove Knausgårds »Sterben«: »Ich hatte Kunstgeschichte studiert und war es gewohnt, Kunst zu beschreiben und zu analysieren, schrieb jedoch nie über das einzig Wichtige, nämlich wie man sie erlebte«, bereut dessen autofiktionaler Erzähler angesichts seiner emphatischen Betrachtung von Constables Wolkenbildern. »In den Augen der Gegenwartskunst, also jener Kunst, die für mich im Prinzip die gültige sein sollte, waren die Gefühle, die ein Kunstwerk auslöste, nicht wertvoll« (Knausgård 2013: 271f.). Die Autoren rennen damit beim Midcult-Leser offene Türen ein, denn genau das will der ja hören: Du musst nicht auf Krampf akademisch-experimentelles Zeug gut finden, du musst dir auch keine analytischen Kompetenzen draufschaffen, du kannst getrost darauf vertrauen, dass das, was dir gefällt, schon irgendwie gut ist, und stehst trotzdem nicht unter Trivialitätsverdacht, denn so ungefähr sagen das die Literaturprofessorin und einer, der Kunstgeschichte studiert hat, auch. So erzeugt man ästhetische Genuinität.

Die Doofen

Nun könnte man sagen: Himmel, lasst sie doch alle machen, von Shimo bis Hungerford, von den Buchhändlerinnen, die Takis Würger lieben, bis zu den Lit-Bros, die sich nerdig in DFW bespiegeln. Hier geht es schließlich bloß um ästhetische Urteile, um Geschmack, da ist eh nichts zu erzwingen, also bitte! Es ist ja auch was dran an der Demokratisierung (wir drücken den höhnisch lachenden Adorno im Hintergrund weg), es kommen deutlich mehr Stimmen zu Wort, ist doch gut. Allerdings ließe sich einwenden, dass das Phänomen der niedrigqualifizierten Meinungsblasen derzeit eben nicht nur im Ästhetischen Konjunktur hat. Schon Musil beklagt ja, dass hier immer gleich ganze »Lebensanschauungen« im Einsatz sind; und wenn wir auf die Armee der selbsternannten Querdenker und geistigen Exilanten, der Aluhütchenträger und Rechtsausleger schauen, die weltweit derzeit die Nachrichten beherrscht, dann können wir schlecht so tun, als ob die Verachtung von Bildungseliten, Wissenschaft und generell durch Ausbildung qualifizierten Positionen ein Problem allein der Literaturkritik wäre. Eine auf geringes ›investment‹ gestützte Selbstbestätigung, die zuvor allenfalls nischige, von außen eher belächelte Szenen prägte, drängt auch hier neuerdings in Richtung eines populären Mainstreams. Strukturgleichheit besteht auch darin, dass die entsprechenden Urteile sich nicht länger als parteiliche Beiträge verstehen, die zwar geäußert, dann aber auch selbstverständlich analysiert und kritisiert werden dürfen, bevor sie Teil einer ›allgemeinen Stimme‹ werden. Wie Wahnsysteme beanspruchen sie stattdessen jene Absolutheit, die sie sich per ästhetischer Genuinität selbst suggerieren. Ihre eigene Partikularität nehmen sie dabei weder wahr noch würden sie sie akzeptieren. Auf diese Weise findet keine Aushandlung mehr statt – die Ingroup mit ihrem genuinen Gefühl bleibt die letzte Instanz. Und wenn Jana aus Kassel sich wie Sophie Scholl fühlt, weil sie eine Alltagsmaske tragen muss, wird man ihr echte Emotion ja nicht absprechen wollen; Scholl ist ihr nahe als junge Frau, die von einem bösen Staatsapparat an der Entfaltung gehindert wird. Woran es fehlt, ist eine zureichende Reflexion auf den kulturellen und historischen Ursprungskontext, eine Investition in Bildung.

Im klassischen Fantum kann sowas durchaus sympathisch sein. Natürlich ist man gegebenenfalls absoluter Schalke- oder Michael-Jackson-Fan, aber im Modus des Pop ist man das halt immer auch irgendwie in Anführungszeichen, die das Ganze erträglich machen. Man weiß um die eigene Begrenztheit – was wäre schließlich ein Schalke-Fan ohne Borussia Dortmund. Und wenn die Tochter dann irgendwann einen Dortmund-Anhänger nach Hause bringt, dann lässt sich damit auch leben. Dieser Modus aber ist in der neuen Identitätsfreudigkeit selbstbestätigender Bubbles weitgehend abwesend – möglicherweise eine ›differentia specifica‹ zu den Stilgemeinschaften der Popkultur. Identität aber, A = A, ist schon aus rein semiotischer Warte strukturell rechts. Nach Barthes kennzeichnet sie den Mythos, jene Formation kulturellen Wissens, die ihre eigene Zeichenstruktur – und damit das Bewusstsein ihrer Gemachtheit, Relativität und Veränderbarkeit – verschleiert, verdrängt oder schlicht vergessen hat. Dass sich die Wirklichkeit kunstlos realistisch erzählen ließe, ist ein solcher Mythos.

To be sure: Niemand will irgendwelchem prätentiösen Kunstgeschwurbel das Wort reden; wer heute noch im Avantgardekanal raunt, muss sich zweifellos Fragen gefallen lassen, etwa solche nach Pose, Substanz und Zugänglichkeit, wie sie Hanna Engelmeier an Ann Cottens »Lyophilia« (2019) gestellt hat. »Aber wenn man keine Erfahrungen mehr mit der modernen Entautomatisierung des Verstehens macht, dann merkt man gar nicht mehr, was die realistischen Erzähler so alles mit einem anstellen«, bemerkt Sascha Michel zu Recht (Michel 2020: 41). Von rechts fällt unsereinem die Ideologie der Mythen zumeist direkt ins Auge; um aber nicht zu denen zu gehören, die immer schon »eine allzu klare Vorstellung davon haben, wer die Doofen und wer die Schlauen sind und sich selbst gewiss scheinen, niemals in die falsche Kategorie zu fallen« (Engelmeier 2019), müssen wir dahin gehen, wo es weh tut, zur populärrealistischen Prosa jener Autorinnen und Autoren also, die uns in ihrer politisch-sozialen Haltung nahestehen und potentiell sympathisch sind.

Nazis am Baggersee

Was also stellen sie mit uns an, die realistischen Erzähler? In den literarischen Fronttexten des »Inneren Reichs«, ebenso wie in zahlreichen Kriegsromanen und -filmen nach 1945 und bis heute, zerfällt die Welt in Freund und Feind einfach durch die Perspektive, aus der erzählt wird. Ein soldatisches Ich, das irgendwo durch eine feindliche Landschaft fährt, wo hinter jedem Busch die Partisanen lauern, hat allein deshalb unsere Sympathie, weil es von außen bedroht wird, und wir, die wir mit seinen alltäglichen Sorgen, Zusammenhängen und Idiosynkrasien vertraut sind, quasi mit ihm. Die historischen Umstände, die die Figur in dieses Feindesland verschlagen haben, geraten dabei tendenziell aus dem Blick, und erst recht gilt das für die Logiken der Gegner. 

Es gibt auch eine Verwendung der personalen Erzählsituation, die diesen Effekt zeitigt. Mir ist das zum ersten Mal bei der Lektüre von Siegfried Kracauers »Ginster« (1928) aufgefallen – die Hauptfigur mag noch so viele, auch explizit benannte Defizite und problematische Aspekte aufweisen, strukturell hat sie sozusagen recht. Anders als etwa bei Flaubert relativiert hier die interne Fokalisierung die Position der Figuren nicht, sondern verabsolutiert sie. Diese Logik wird durch den Populären Realismus, die Dominante unserer Erzählliteratur, noch einmal massiv verstärkt, weil er uns in die erzählte Welt versetzt, ohne dass wir auf deren Gemachtheit aufmerksam werden (›Realismus‹), und weil er unsere Identifikation mit der Protagonistin befördert (›populär‹). Ich erkenne die Geschichte und mag eine der Personen besonders – ein doppeltes Immersionsverfahren.

In Fantasy, dem Inbegriff populärrealistischen Erzählens, ist das kein Problem. Verkürzt gesagt: Wir bewohnen hier eine Welt, die nicht die unsere ist oder bezeichnet, und identifizieren uns mit einer Heldin, die echte Agency hat. Feinde werden bekämpft. Die Stilgemeinschaft hält diese Welt als Ikone hoch, diskutiert in den Sozialen Medien ihre Binnenlogiken und verlangt nach seriellen Fortschreibungen, um sie weiter bewohnen zu können. Alles bestens. Sobald die populärrealistische Diegese aber aussieht wie unsere Welt und der Text nicht deutlich als Genrestück markiert ist, beginnen die Probleme. Die realistische Erzählung referiert jetzt qua Verfahren auf unsere Wirklichkeit, d.h. wir verallgemeinern die erzählten Begebenheiten automatisch auf Gesetzmäßigkeiten hin. In diesen erkennen wir aber nicht die Gesetzmäßigkeiten des Textes, sondern, mythologisch, die unserer Welt; sie bilden, so Barthes, die »Essenz von dem, was« vom realistischen Text »nicht (neu-)geschrieben werden kann«, sondern als kulturelles Wissen immer schon vorausgesetzt ist. (Barthes 1987: 203) Sie repräsentieren mit anderen Worten die Ideologie der jeweiligen Stilgemeinschaft – und bestätigen diese damit tendenziell. »Das Moralische«, heißt es bei Friedrich Theodor Vischer, »versteht sich immer von selbst.«

Nehmen wir die Nazis-am-Badesee-Szene in »1000 serpentinen angst« von Olivia Wenzel. Die autornahe Ich-Figur und ihr Freund haben sich an einem Badesee in Ostdeutschland gestritten. »Als die Nazis kommen«, heißt es dann, »gehören wir wieder zusammen. Sie ziehen sich aus, so wie ich mir das bei Soldaten vorstelle, stramm und zackig. Sie falten ihre Kleidung, stehen aufrecht und steif da, an einem heißen Sommertag, nackt und selbstbewusst, schauen auf den Strausberger Badesee, als gehörte er ihnen. Rechter Terror ist: nicht über diese Steifheit lachen zu können aus Furcht, entdeckt zu werden.« (Wenzel 2020: 29f.)

Die latente Möglichkeit, die Nazis könnten Gewalt anwenden, führt zu einer Selbstzensur des Verhaltens. Das ist längst ein topisches Motiv für Texte, die im Osten spielen, und entspricht unserem kulturellen Wissen: Nazis sind soldatisch, böse und eine Bedrohung, besonders für People of Color, aber auch irgendwie lächerlich. Da wir Wenzels Codes teilen und qua Fokalisierung in der Haut der Ich-Erzählerin stecken, finden wir die Situation emotional schwer erträglich und können auch die didaktische Verallgemeinerung nachvollziehen: »Rechter Terror ist«. Dazu reicht es, unsere idées reçues zu aktivieren. Wäre das einfach fiktional, würden wir es vielleicht für ein bisschen sehr erwartbar halten und den intersektionalen Overkill – Frau, of Color, ostdeutsch, bi und in sensiblem Alter von Vater und Mutter verlassen – für etwas dick aufgetragen. Allerdings schließen wir bei der Lektüre von Wenzels Roman ja einen autofiktionalen Pakt, und das ist für die unterstellte Leseschaft des Romans entscheidend: Die Bedeutsamkeit des Erzählten entsteht aus der Beglaubigung durch die Autorin. Mit ihr sehen wir hier denn also, wie intendiert, privilegierte weiße soldatisch-männliche Schlägertypen, denen die Ossi-Welt gehört. 

Das funktioniert allerdings nur, weil der Text bei seiner Leseschaft eben erfolgreich »einen ganzen Block von Lebensanschauungen« voraussetzen darf, die er nicht selbst (neu)schreiben kann. Man stelle sich einen nationalsozialistischen Text vor, der so verführe: Wir würden ihn als kunstfern, als blanke Ideologie empfinden. Wir werden qua Verfahren in die strukturell privilegierte Sicht der autornahen Erzählerin gezwungen, und diese Sicht ist nicht nur die Wahrheit des Textes, sondern auch die der Autorin sowie praktischerweise zugleich ohnehin auch unsere Wahrheit. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Für uns, die wir zur unterstellten Leseschaft des Buches gehören, handelt es sich trotz allem, was hier an Schlimmem zur Sprache kommt, im Grunde um einen Wohlfühltext. Was wir qua Verfahren dagegen nicht sehen, ist beispielsweise die Unsicherheit dieser Männer, über die überall gelacht wird außer hier an ihrer Badestelle, und die womöglich niemals, wie die Erzählerin hier, einen Fragebogen zur Einreise in die USA ausfüllen und sicher nie ein Buch bei S. Fischer publizieren werden. Schon eine Erzählung aus ihrer Sicht würde uns aus unserer Komfortzone herausholen – sofern sie denn ästhetisch gelänge; denn die Erzählerin könnte dann ja nicht mehr quasi-natürlich mit der Stimme der Autorin sprechen. 

Wie schnell man aus der Kuschelzone mythischer Wohlfühlselbstverständlichkeit hinausgeworfen wird, sobald einfach nur eine zweite Position mitrepräsentiert wird, führt beispielsweise Bettina Wilperts Roman »Nichts, was uns passiert« (2018) vor, der eine Vergewaltigung und ihre Folgen aus der Sicht beider Beteiligten erzählt. Obwohl das Ganze völlig realistisch und – nach Auskunft aus dem Connewitzer Milieu – auch realitätsnah gestaltet ist, greifen basale Mechanismen des Populären Realismus nicht mehr: Man findet keinen der beiden Protagonisten mehr in einer identifikatorischen Weise sympathisch, weiß plötzlich nicht mehr selbstverständlich, was eine Vergewaltigung und ob das hier überhaupt das zutreffende Wort ist, und bildzeitungsartige Formeln nach dem Motto ›Rechter Terror ist‹ stellen sich auch nicht ein. Trotzdem lernt man dabei womöglich mehr als in der selbstbestätigenden Mitsicht von »1000 serpentinen angst«. 

Mit einiger Raffinesse zwingt dagegen Anke Stellings Roman »Schäfchen im Trockenen« (2018) in die Sicht seiner Protagonistin Resi und sorgt dafür, dass man trotz der von ihr permanent geäußerten Selbstzweifel und -kritik letztlich auf ihrer Seite bleibt. Der woke Berlin-Mitte-Freundeskreis der Schriftstellerin und Mutter dreier Kinder entschließt sich zu einem gemeinsamen Hausbau, an dem sie mit ihrer Familie aus Geldmangel nicht gleichwertig teilhaben kann. Alle, insbesondere Architekt und Ex-Lover Ulf und Resis beste Freundin Vera, versuchen, ihr den Weg dahin zu ebnen, aber sie lehnt ab und macht sich dann schriftstellerisch über die eben noch eigene Blase lustig, was diese wiederum nicht lustig findet. Sie fliegt aus ihrem Mietvertrag, der ebenfalls auf einen der Exfreunde lief, was für sie bedeutet: Berlin innerhalb des S-Bahn-Rings ade! Geradezu topischer Schwäbisch-Berliner Bohème-Leftism-gone-sour mit hohem Mimimi-Faktor also, und darum weiß das Buch auch. 

Auf subtile Weise bringt die Ich-Erzählerin Handeln und Motivation der anderen nun aber mit Fragen von Klasse, Gender und Gewalt zusammen. Die großbürgerliche Familie ihres liebevollen Exfreunds Ulf, so wird suggeriert, bestand aus Nazi-Profiteuren, die Frauen in ihrer eigenen Familie wurden eh immer unterdrückt und ließen sich zu viel gefallen, und an Ingmar, einem überaus zugewandten und interessierten Mediziner, der ihr die Teilnahme am Wohnprojekt finanziell ermöglichen will, ist ihr suspekt, »dass er es gut fand, dass Silas in der Kita auch Spielkameraden aus einfachen oder migrantischen Verhältnissen hatte, ›nicht so schrecklich weiß und arriviert‹. Da fiel mir auf, dass Armut für Ingmar ein willkommenes Unterscheidungsmerkmal zu sich selbst darstellte, ›herrlich bunt und ausgeliefert‹, und es kam mir absurd vor« (Stelling 2018: 75). Und damit hat sie uns, denn so jemanden wie Ingmar können wir uns am Prenzlberg gut vorstellen, Nazis, Unterdrückung und herablassende Großbürger finden wir natürlich auch nicht gut, und das mit dem bezahlbaren Wohnraum ist inzwischen ja auch wirklich ein Problem.

Nun könnte man vorsichtig einwenden, dass es für Kitas wie die genannte vielleicht ein Segen ist, wenn Eltern wie Ingmar ihre Kinder hinschicken, egal aus welchen Gründen (während Resi sich offenbar nicht vorstellen mag, in etwas gemischteren Wohnvierteln zu leben); und wie schlimm ist es denn eigentlich, wenn ein wohlhabender Arzt, der zuvor schon mit »seiner zuverlässigen Anwesenheit bei Lesungen und Vernissagen, seiner Aufmerksamkeit als Gastgeber« aufgefallen war, sein Geld zur Förderung der geringverdienenden Literatin einsetzen möchte? Macht sie das automatisch zu seinem »Clown«? Doch trifft ihn die ganze Verdammung des Textes (und ja, das ist durch die problematische Erzählerfigur vermittelt, aber trust me, es ist schon auch so gemeint). Thomas Edlinger würde hier von »opfernarzisstischer Hyperkritik« sprechen (Edlinger 2015).

Und wie ist das geschrieben? Genau besehen, ist die Rede von »einfachen oder migrantischen Verhältnissen« Resi zuzuordnen, die hier noch dazu ein Vermächtnis an ihre Tochter formuliert. Sie und letztlich der Text liefern dann auch gleich die Deutungen mit (»Da fiel mir auf«, »absurd«), anstatt sie den Leserinnen zu überlassen; so etwas wurde schon am Realismus des 19. Jahrhunderts als rhetorische Soße kritisiert. Geradezu perfide sind aber die in diesen Rant eingelassenen Binnenzitate: ›nicht so schrecklich weiß und arriviert‹, ›herrlich bunt und ausgeliefert‹. Als markierte Zitate werden sie mehr oder weniger direkt Ingmar in den Mund gelegt. Aber funktioniert das? ›herrlich bunt‹ ist Werbesprech für Keramik, Blumen, Herbstlaub oder mexikanischen Salat – ein junger, gebildeter Arzt würde aber kaum die Kindermischung in der Kita so bezeichnen. Was als Beleg für die Ideologie Ingmars dienen soll, ist einfach schlecht beobachtet, es ›stimmt‹ nicht. Die strukturelle Lüge dient dabei allerdings nicht dazu, literarische Deepness zu simulieren wie im Midcult alter Art – was sie hier suggeriert, ist vielmehr eine avancierte ethische Position der Erzählerin.

»Schäfchen im Trockenen« wurde vom Publikum geliebt, vom Feuilleton gefeiert und brachte der Autorin den Preis der Leipziger Buchmesse und den Hölderlinpreis ein. Nur Iris Radisch äußerte den Verdacht, hier zeichne die Jury »ein literarisch unbedarftes Werk aus, weil es so tapfer und sozial engagiert ist«; wobei sie den Verzicht auf komplexere Form durchaus für Absicht im Sinne von Felix Stephans oben zitierter Auffassung hält, die Verhältnisse seien schon kompliziert genug: »Man könnte diese selbstbewusste antiliterarische Maxime den Bitterfelder Weg der Prenzlauer-Berg-Mütter nennen«.

Der Neue Midcult

Das ist offenkundig nicht mehr der gute alte Midcult. Dort war es ja darum gegangen, sich bei entspanntem Easy Reading trotzdem als Rezipient von Hochkultur zu fühlen. Dies wird u.a. dadurch ermöglicht, dass in den populärrealistisch erzählten Text schwere Zeichen eingefügt werden (Nationalsozialismus, KZs, Stasi, Missbrauch, Krebs und andere Leiden) oder auch mit formalen Dingen gespielt wird, die aber das Verständnis nicht erschweren (Short Cuts, magische Elemente, Metaismen). Der Vorwurf des Midcult kommt dann von den Literaturprofis, die eine Form einklagen, die der inhaltlich angemaßten Bedeutungsschwere gerecht würde. 

So war es noch bei »Stella«, wobei sich zeigte, dass bereits dieser Vorwurf auf ein Verhältnis von Angebot und Nachfrage trifft, das eigentlich beide Seiten zur Zufriedenheit bedient. Dass es sich in den Fällen von Wenzel, Stelling oder auch von Jeanine Cummins’ »American Dirt« (2020) jedoch noch etwas anders verhält, zeigt der einfache Umkehrschluss. Wer Midcult beklagt, müsste ja zufrieden sein, wenn man die angemaßten, ästhetisch unbewältigten schweren Zeichen und Probleme aus den jeweiligen Texten entfernte und stattdessen entweder süffige Unterhaltungsliteratur ohne ›Anspruch‹ oder eben eine ästhetisch anspruchsvolle Hochliteratur produzierte, die sich aufgrund ihrer avancierten Form als solche auswiese, egal welchen Gegenstand sie traktiert (was nicht heißen muss: unabhängig von diesem). Das ist jetzt aber nicht mehr der Fall. Es kommt im Gegenteil alles darauf an, dass die Themen und Probleme, für die sich die partikularen Gruppen interessieren (loss, trauma, abuse, Misogynie, Rassismus, Kapitalismus, Flucht), in den Texten behandelt werden. Jedes Kapitel »a different pain«, aber bitte in der richtigen Weise und vor allem: von den richtigen Autorinnen! – das ist es, was man im Neuen Midcult lesen, womit man sich identifizieren will.

Als Qualitätsargument und Antwort auf die Frage: ›Wer darf und kann das schreiben und beurteilen?‹ kommt dabei vor allem Identität in Betracht. Wenzel kann den Rassismus als selbsterfahrenen ebenso beglaubigen wie Stelling die Berlin-Mitte-Ungerechtigkeiten als dort ansässige Autorin mit schwäbischen Wurzeln. Umgekehrt lautet der ethische Vorwurf an Cummins ja insbesondere, die Autorin habe sich die Stimme ihrer Latina-Protagonistin in »American Dirt« unrechtmäßig angeeignet, um weiße Mittelklasseamerikanerinnen zu unterhalten. Wer so urteilt, beansprucht für sein Urteil die Autorität einer betroffenen Gruppe (der Latinas, der illegalen Immigranten) oder maßt sich, wenn diese keine Stimme erheben (können), womöglich auch nur die Kompetenz an, für diese zu sprechen. Hier wird ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis von realer Person und Werk wieder eingeführt, das in den Kunstwissenschaften mit guten Gründen weitgehend verabschiedet wurde. Es führt unter anderem zu dem einigermaßen unappetitlichen Phänomen, dass die genetischen Anteile der Autor*innen zu Argumenten werden: Cummins ist ›nur‹ zu einem Viertel Latina, Würger führt seinen von den Nazis ermordeten Großvater ins Feld. 

Ästhetische Argumente sind im Neuen Midcult dagegen nicht mehr so wichtig. Das lässt sich auch an der Enttäuschung über den Nobelpreis für die US-amerikanische Lyrikerin Louise Glück 2020 ablesen. »Unter ästhetischen Gesichtspunkten«, so Christina Dongowski in der »taz«, »lässt sich an der Vergabe des Preises wenig kritisieren«; man verstehe zwar den Impuls, sich »in die ›strenge Schönheit‹ universeller Werte zurückzuziehen«, doch sei diese Gegenwelt halt »schon wieder weiß, westlich, englischsprachig«. Ästhetisches Gelingen gibt im Urteil über Glücks Nobilitierung zur Autorin mit »Weltanspruch« also nicht den Ausschlag, weil eine Entscheidung »für das literarische Spiel« (Knipphals) eben als luxuriöser Rückzug und nicht, wie in der idealistischen Ästhetik, als Ausdruck eines Menschseins im vollen und eigentlichen Sinne verstanden wird. Anders als Würger oder Cummins wird Glück ethisch zwar nichts angelastet, hier spreche immerhin eine jüdische Frau, aber es wäre, so der Tenor vieler Reaktionen, doch deutlich intersektionaler gegangen. Anderes Beispiel: Zum 50-Jahre-Jubiläumstatort, der das Wirken der ’Ndrangheta im Ruhrgebiet zum Gegenstand hat, beklagt sich Anne Haeming: »Keine Idee? Wirklich? Hier mal eine Liste: Da ist das Netzwerk aus Bundeswehrsoldaten, Polizisten, Reservisten, Verfassungsschützern« …und es folgt eine ganze Reihe von Themen, derer sich die Jubiläumssendung stattdessen hätte annehmen sollen. Dass in der Sendung selbst eine Figur sagt, derzeit hätten Rechtsextremismus und Islamismus ja Konjunktur, auf die Mafia würde aber niemand schauen, bemerkt sie nicht. Es ist dieselbe Reaktion wie die Hungerfords auf DFW: Statt sich produktiv mit dem auseinanderzusetzen, was angeboten wird, wünscht sich die Blase die eigenen Themen und Positionen und verhält sich andernfalls (nicht etwa neutral, sondern) vorwurfsvoll ablehnend.

Dieser Neue Midcult ist also zwar nicht mehr ganz der alte, doch nutzt er mit dem populärrealistischen Erzählen (verständliche Sprache, nachvollziehbare Handlungen, Identifikationsfiguren) und ethisch-sozial bedeutsamen Themen durchaus vergleichbare Mittel, um seinen Anspruch, bedeutende Literatur zu sein, zu erheben und zu untermauern. Auch ist sein Irrtum der gleiche: dass nämlich Leiden und Probleme, wie relevant auch immer, ohne formale Durcharbeitung identifikatorisch mit Kunstanspruch dargeboten, zu etwas anderem führen würden als – Kitsch. Dieser Kitsch entsteht, wenn immer schon vorausgesetzt und der Zielgruppe klar ist, was relevant und richtig ist; wenn die entsprechende Arbeit nicht geleistet wird, eine Arbeit an Form und Kontext. 

Und es gibt diesen Kitsch nicht nur produktionsseitig, in Form von Gedichten oder Romanen, sondern auch rezeptionsseitig. Wie gesagt, bei den anderen erkennt man die Splitter im Auge leichter: Die jungen Frauen, die sich wie Anne Frank oder Sophie Scholl fühlen, weil sie in ihrem Right to Party eingeschränkt werden, waren ja schon lange vorher einem Holocaust-Kitsch aufgesessen, der uns die Opfer des Nationalsozialismus als arme, liebe Identifikationsgeschöpfe vorführt und die Nazis als fiese zackig-soldatische Männer. Die Marginalisierung der historischen Kontexte ist dabei sicher anderer Natur als die von Gauland und Konsorten betriebene, aber ganz arbiträr sind die neuen Straßen-Allianzen eben auch nicht.

Wir können auch anders

Was dem nun entgegensetzen? In Pop-Kreisen herrscht Einigkeit darüber, dass komplexes Prog-Gefrickel nicht zwangsläufig die bessere Musik ergibt. »Paperback Writer« kommt mit zwei Akkorden aus. Dennoch war Pop immer schon auch als komplexere Alternative zum Populären Realismus lesbar. Das liegt daran, dass Pop von Beginn an offensiv mit seinen Mythen umgeht, mit seiner Künstlichkeit und auch mit seiner Warenform, sogar mit seinem Kitsch. Es liegt an seiner tief verwurzelten Affinität zu paradigmatischen Strukturen, zu Katalogen, Hitlisten, serieller Neuerfindung, Re-Make/Re-Model; an den modalen Anführungszeichen, der konstitutiven Ambiguität der Pop-Persona zwischen Authentizität und Maske und der Pop-Performance zwischen Show-Spektakel und existenzieller Ansprache.

In der Gegenwart wird Pop als Label für Literatur zwar eher vermieden, doch lässt sich unter anderem im popaffinen Randt-Miami-Malibu-Komplex ein nachhaltiges Schreibprojekt identifizieren, das die strukturellen Möglichkeiten des Erzählens weder dafür nutzt, nachträglich »die Weltgeschichte mit den Mitteln eines vermeintlichen Realismus in Ordnung« zu bringen (Steinaecker), noch dazu, aus einer privilegierten Erzählperspektive opfernarzisstische Hyperkritik zu üben. Wirklichkeit, innere wie äußere, wird hier grundsätzlich als medial geformte, von Stilgemeinschaften geprägte, auch als augmentierte, enhancte, immer aber als nicht-identitäre präsentiert. 

Statt Nazis am Baggersee gibt es in Juan S. Guses »Miami Punk« (2019) dann beispielsweise eine Triebtäterkolonie auf dem Gelände des verfallenden Seeaquariums. »Mehr als vor der Polizei«, heißt es von den ehemals wegen Kindesmissbrauch verurteilten Bewohnern, »fürchteten sie sich vor besorgten Eltern. Denn wo immer sie übernachteten, wuchs rasch die Wut der Anwohner auf sie und die gefühlte Handlungsunfähigkeit der Behörden. Das machten sich BEKANNTERMASSEN vor allem die Todesschwadronen zunutze, die sich als Befreier und fähige Verteidiger einer restbürgerlichen Stadt inszenierten, indem sie (oftmals von der Polizei geduldet) Jagd auf die Triebtäter machten und sich so in die Herzen der Menschen schlichen« (Guse 2019: 565). Hier ist, in einem leicht dystopischen Szenario, in wenigen Sätzen mehr über Konstellationen unserer Gegenwart gesagt als in allen autofiktionalen Opfererzählungen dieser Welt: Die Bösen sind immer die anderen, die zuständigen Stellen tun nichts dagegen; und diese gefühlten Wahrheiten dienen letztlich zur Legitimation einer undemokratischen Gewalt im Namen des je Eigenen (der »Herzen der Menschen«). Und – Vorsicht, Ambiguität! – das Gegenteil ist auch nicht einfach wahr.

Im selben Roman führt die unerhörte Begebenheit, die seine Grundidee ausmacht – Miami liegt plötzlich nicht mehr am Meer – auch dazu, dass sich in den Kellern eines verlassenen Wohnkomplexes ein ›Kongress‹ etabliert, auf dem jeder, ohne Ausweis seiner Qualifikation und Vorbildung, sich zu dem rätselhaften Phänomen äußern darf, sofern er nur ein Publikum findet. Das führt zum einen zu einer erfreulichen Vielfalt der Stimmen, zum anderen aber zieht es vor allem Personen an, die »ein etwas fragwürdiger Geist des Widerstandes gegen den Zustand der Realität« eint (ebd.: 280). Damit modelliert »Miami Punk« ziemlich genau das hier zur Rede stehende Wissensdispositiv. 

Ein derart komplexer, reicher und anspruchsvoller Roman, der formal wie thematisch ein breites Repertoire einnehmen kann, der von Computerspielen genauso viel versteht wie von Philologie, aktueller Theorie und der langen Tradition der Science-Fiction in allen Medien, hat derzeit, versteht sich, keine allzu großen Chancen auf einen Literaturpreis. Das ist schade. Dabei besteht überhaupt kein Anlass, sich über Rupi Kaur, Takis Würger, Olivia Wenzel oder Jeanine Cummins zu erheben. Alter und Neuer Midcult wären kaum zum International Style unserer Gegenwart aufgestiegen, wenn sie ihre Funktion im literarischen Feld nicht überaus kompetent erfüllten – und doch sollten wir ihnen dieses Feld nicht kritiklos überlassen. Vielleicht braucht es eben doch ein bisschen mehr Kunst, um literarisch in einer Weise, die uns insgesamt weiterbringt, davon zu handeln »what it means to be a fucking human being« (DFW). Und ein bisschen mehr ›investment‹ und Wissenschaft, um das dann zu lesen. Klar – wir, die wir dazu in der Lage sind, sehen von außen erst einmal auch nur aus wie eine elitäre Bubble. Die Herausforderung an eine professionelle Kritik besteht darin, diesen Eindruck nicht zu bestätigen, sondern immer wieder und unermüdlich die einzelnen Geschmackssysteme zu öffnen und zu prüfen auf die eine Literatur, die allgemeine Stimme, auf ein Gesamtsystem hin – und sei es nur als regulative Idee.

 

Literatur

Barthes, Roland (1987): S/Z [S/Z (1970)]. Frankfurt.

Barthes, Roland (2010): Mythen des Alltags [Mythologies (1957)]. Berlin.

Dongowski, Christina (2020): Auf der Suche nach Weltanspruch. In: die tageszeitung, 9.10.2020.

Edlinger, Thomas (2015) : Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik. Berlin.

Engelmeier, Hanna (2019): Wer das liest ist doof. In: die tageszeitung, 30.4./1.5.2019.

Groß, Joshua u.a. (Hg.) (2018): Mindstate Malibu. Fürth.

Guse, Juan S. (2019): Miami Punk. Frankfurt.

Haeming, Anne (2020): Berauschende Tatortigkeit. In: die tageszeitung, 28./29.11.2020.

Hungerford, Amy (2016): Making Literature Now. Stanford.

Kant, Immanuel (1976): Kritik der Urteilskraft [1790]. Stuttgart.

Kaur, Rupi (2015): milk and honey. Kansas City. Missouri.

Knausgård, Karl Ove (2013): Sterben [Min kamp (2009)]. München.

Knipphals, Dirk: Plappern mit Jürgen Habermas. In: die tageszeitung, 14.10.2020.

Knödler, Hermann und Martach, Swantje (2018): Ästhetik, Digitalisierung und Konsum: mehr Umsatz durch Genuinität? In: C. Arnold und H. Knödler (Hg):  Die informatisierte Service-Ökonomie, Wiesbaden, S. 155-181.

Löffler, Sigrid (2020): Machen Blogger die Literaturkritik kaputt? (DLF Kultur, 16.7.2020).

LeClair, Tom (2016): Making Literature Now – Amy Hungerford. In: Full Stop, 20.10.2016.

Michel, Sascha (2020): Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht. Stuttgart.

Musil, Robert (1978): Bücher und Literatur [1926], in: R.M.: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Reinbek, S. 1170-1180.

Radisch, Iris (2019): Im Höllenkreis der Baugruppe. In: Die Zeit, 27.3.2019.

Schlink, Bernhard (1995): Der Vorleser. Zürich.

Steinaecker, Thomas von (2012): Alles bloß literarische Wellness? in: Die Literarische Welt, 4.2.2012.

Stelling, Anke (2018): Schäfchen im Trockenen. Berlin.

Stephan, Felix (2018). Monster: Literatur. In: Süddeutsche Zeitung, 3./4.3.2018.

Venus, Jochen (2013): Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie. In: Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke  (Hg.): Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken. Wiesbaden, S. 49-73.

Wenzel, Olivia (2020): 1000 serpentinen angst. Frankfurt.

Wilpert, Bettina (2018): Nichts, was uns passiert. Berlin.

 

[um Fehler bereinigte Fassung des Essays »Der Neue Midcult. Vom Wandel populärer Leseschaften als Herausforderung der Kritik« in der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik«, Band 10, Heft 1, Nr. 18, S. 132-149]