Gegen das Atelier
von Wolfgang Ullrich
14.6.2021

Mobile Kunst zwischen reaktionärer und postavantgardistischer Kritik

Dass zwischen Friedrich Overbeck und Daniel Buren – Nazarener und Konzeptkünstler – Gemeinsamkeiten bestehen, ist ihren Werken nicht ohne weiteres anzusehen. 

Links: Johann Friedrich Overbeck, Joseph wird von seinen Brüdern verkauft, 1817; rechts: Daniel Buren, 4 Tore, 1987 (©Rüdiger Wölk, Münster).

Tatsächlich aber teilen beide ein Misstrauen gegenüber dem Atelier – genauer: gegenüber Kunst, die in einem Atelier entsteht und deshalb erst an einen anderen Ort – in ein Museum oder in eine Ausstellung – gebracht werden muss, um sichtbar zu werden. Es ist also ein Misstrauen gegenüber einem Kunstbetrieb, an dem der Ort der Herstellung eines Werkes nicht identisch ist mit den Orten, an denen es zur Geltung gebracht wird. Dahinter steht bei Overbeck wie Buren die Befürchtung, dass Werke auf dem Transport vom Atelier zu einem Ausstellungsort an Wirksamkeit verlieren. Entfernen sie sich von ihrem Ursprungsort, droht ihnen Unverbindlichkeit; sie werden den Regeln des Orts ihrer Präsentation unterworfen und dadurch entfremdet.

In einem Briefentwurf aus dem Jahr 1844 fand Overbeck eine anschauliche Formel, um diesen Verlust zu beschreiben. Auf die Frage, ob er ein Gemälde mit einem religiösen Sujet zu einer Ausstellung schicken könne, äußert er, es werde sich dort „wie etwa ein Psalm in einem Almanach“ ausnehmen.[1] Eigentlich gehört der Psalm in die Bibel, hat dort einen festen Ort, ja ist Teil der Heiligen Schrift, so dass man ihm besondere Qualitäten und Kräfte zutraut. Diese aber gehen verloren, wenn der Psalm an irgendeinem anderen Ort – etwa in einer Sammlung diverser Texte – auftaucht. Dann ist er einfach ein beliebiges Stück Dichtung, wird vielleicht aufgrund seines Stils oder seiner Metaphern geschätzt, aber hat seine religiöse Heilswirkung, seine höhere Geltung eingebüßt. Ähnlich gilt gemäß Overbeck für das Kunstwerk, dass es an einem Ort, dem es nicht von vornherein zugedacht war, zwar noch ästhetischen Genuss bereiten, aber keine Heilswirkung – keine läuternde, befreiende oder bildende Kraft – entfalten kann. Das Gemälde, das er für einen ganz bestimmten Kirchenraum angelegt hat, droht in einer Ausstellung, in der es plötzlich vielleicht in der Nachbarschaft von Landschaftsdarstellungen oder Akten auftaucht, zu einer beliebigen Attraktion zu werden, die der Unterhaltung dient. Generell: Jenseits eines festen Bestimmungsortes bleibt ein Kunstwerk hinter seinen Möglichkeiten zurück, ist gleichsam nur noch ein Abklatsch seiner selbst, ontologisch reduziert, zombiehaft.

In Burens viel zitiertem Aufsatz über „Die Funktion des Ateliers“, entstanden 1970/71, erstmals publiziert 1979 und oft geradezu als ein Manifest für die sogenannte ‚Post Studio‘-Bewegung gedeutet, wird dieselbe Überzeugung mit den Worten ausgedrückt, dass „das Wesentliche des Werkes sich irgendwo zwischen dem Ort seiner Produktion (dem Atelier) und dem seiner Konsumption (der Ausstellung) verl[iert]“. Ferner heißt es, infolge seiner „Ortsveränderung“ – vom Atelier in die Ausstellung – werde das Werk „in seiner eigenen Wirklichkeit und bis in seine Wurzeln geschwächt“, dies ein Einschnitt, „von dem es sich niemals erholt“. Vielmehr, so Buren weiter, verlören die Werke, „ihrer Umgebung entrissen, […] Bedeutung und Leben“. Sie würden „gleichsam ‚falsch‘“.[2]

Tatsächlich stammen nahezu alle Gedanken aus Burens Aufsatz aus dem 19. Jahrhundert. Sie waren sogar schon bei Overbeck nicht mehr ganz originell, gehörten vielmehr zum Grundbestand des Diskurses über das Ausstellen von Kunst, unabhängig davon, ob dieses innerhalb eines Museums oder im kommerziellen Rahmen einer Messe oder eines Kunstvereins stattfand. Einer der frühesten und zugleich wirkungsmächtigsten und prominentesten Belege dafür stammt aus Wilhelm Heinrich Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ (1797). Dort wird geklagt, „Bildersäle“ würden „als Jahrmärkte“ betrachtet, „wo man neue Waren im Vorübergehen beurteilt, lobt und verachtet“; es sollten aber „Tempel sein, wo man in stiller und schweigender Demut […] die großen Künstler […] bewundern, und mit der langen, unverwandten Betrachtung ihrer Werke, in dem Sonnenglanze der entzückendsten Gedanken und Empfindungen sich erwärmen möchte“.[3] Nur in einem Tempel, wo sie einen festen Ort hat, vermag die Kunst also heilend und beglückend wirksam werden. In ihm sind die Werke aufgehoben wie der Psalm in der Bibel, überall sonst hingegen sind sie wie in einem Almanach versammelt, befinden sich also nur in zufälliger und äußerlicher Anordnung.

Verschiebebahnhof Atelier: Kritik an mobiler Kunst

Wackenroders Jahrmarkt-Metapher impliziert, dass die Kunst an Orten, für die sie nicht bestimmt ist, zum bloßen Spektakel verkommt oder auf eine Ware reduziert wird. Man sucht dann ein Schnäppchen oder will mit dem Kalkül eines Käufers den Preis drücken und daher Mängel entdecken. Vor allem aber drückt sich in der Jahrmarkt-Metapher ein grundsätzliches Unbehagen über die Mobilität von Kunst aus. So schlägt ein Jahrmarkt immer nur für ein paar Tage seine Buden auf, dann zieht er weiter. Wird Kunst wie auf einem Jahrmarkt betrachtet, wird sie also als etwas Ortloses, Unverbindliches erfahren; sie wechselt immer wieder ihre Bezüge, schlägt nirgendwo Wurzeln. Dies gilt umso mehr, wenn sie Ware wird. Jeder neue Besitzer bringt sie anderswo hin und verknüpft neue, eigene Zwecke mit ihr.

In Burens Atelier-Aufsatz kommt genau dasselbe Unbehagen gegenüber der Mobilität von Kunst zum Ausdruck. Da das Atelier nur der Ort der Produktion von Kunst ist, müsse diese aus „zwangsweise transportablen Dingen“ bestehen. Künstler*innen können nur überleben, wenn sie Werke schaffen, die sie verkaufen und daher aus dem Atelier an andere Orte gelangen lassen. Das Atelier werde damit zum „Verschiebebahnhof“.[4] Das ist Burens Vokabel anstelle von Wackenroders ‚Jahrmarkt‘. Seine Kritik am Atelier und an Atelierkunst richtet sich somit gegen die Zwangsmobilität von Werken.

Woher genau kommt aber der Vorbehalt gegen mobile Kunst? Wieso kommt man darauf, das für die Wirkung eines Werks Relevante liege nicht ganz und gar in ihm selbst, sondern sei abhängig von seinem jeweiligen Ort, abhängig sogar davon, dass es einen festen Ort hat, der idealerweise zugleich der Ort ist, an dem es entstanden ist? 

Für die Anfänge des Topos lassen sich diese Fragen noch gut beantworten. Er ergab sich aus der lange Zeit weit verbreiteten Erfahrung, dass an sich immobile, an ihrem Ort (also nicht in einem Atelier) entstandene Werke aus ihren angestammten Zusammenhängen gerissen wurden. Altäre und Skulpturenprogramme in Kirchen firmierten oft als Kriegsbeute, Ahnengalerien und Prunksäle verloren infolge familiären Unglücks immer wieder ihre Funktion und wurden zu Verfügungsmasse, anderes – sei es in Klöstern oder in Schlössern – geriet in das Visier geldgieriger Leute, die es stahlen oder sich günstig verkaufen ließen. Das Mobilwerden von Kunstwerken war entsprechend negativ konnotiert, und so wie man es heute als Zerstörung empfindet, wenn das Piece eines Street-Art-Künstlers wie Banksy gewaltsam von einer Hauswand entfernt und dem Kunsthandel zugeführt wird, musste man jahrhundertelang sehr oft als Opfer unseriöser oder sogar krimineller Handlungen einschätzen, was auf einem Markt auftauchte und damit seines ursprünglichen Geltungsraums beraubt war. Umso größer wurde die Sehnsucht nach einer Kunst, die – noch – einen festen Ort und eine definierte Funktion hat.

„‚Leben‘ im Museum ist wie Sex auf einem Friedhof.“: Das Museum als Entfremdungsanstalt

Sofern ursprünglich ortsfeste Kunst ihre Funktion und damit ihre Bestimmung verloren hatte, war auch naheliegend, dass man sie zugleich um ihre Wirkung oder zumindest „um ihre Jugendfrische gebracht“ sah. So formulierte es 1874 der Kulturwissenschaftler Karl Hillebrand, der sich damit allerdings weniger auf Werke bezog, die auf einem Markt auftauchten, sondern vor allem gegen Museen wandte, in denen viele der Artefakte landeten, die ihre originalen Bezüge verloren hatten. Für ihn war unstrittig, dass „ein Künstler, der diesen Namen verdient“, seine Werke immer „für eine gewisse Umgebung, eine gegebene Beleuchtung und Architektur, zu einem bestimmten Zwecke, oder doch wenigstens in Voraussetzung gewisser Stimmungen“, oft zudem bewusst in immobilen Formen wie etwa dem Fresko – also gerade nicht in einem Atelier – geschaffen habe. Daher sei es „Vandalismus“, die ortsgebundenen Werke mobil zu machen und in ein Museum zu transferieren. Die „armen Bilder scheinen ja zu frieren im nordischen Tage einer Londoner oder Berliner Galerie“.[5] Diese Formulierung stellt das passende Pendant zu Wackenroders Aussage dar, Kunst, die an ihrem wahren Bestimmungsort – im Tempel – sei, könne „erwärmen“.

Wurde das Museum von Hillebrand und vielen seiner Zeitgenossen als Entfremdungsanstalt wahrgenommen, so gilt dasselbe aber auch noch ein Jahrhundert später. Neben Buren gaben sich genauso andere Künstler, die den ‚Status quo’ des Kunstbetriebs kritisch analysierten, so etwa Robert Smithson oder Allen Kaprow, als Museumsgegner zu erkennen. Smithson sagte 1967: „Unsere älteren Museen sind voll von Fragmenten, von zusammenhanglosen Stücken der europäischen Kunst. Sie wurden aus vollständigen Kunststrukturen herausgerissen und in eine völlig neue Klassifikation eingeteilt und kategorisiert. Die Kategorisierung der Kunst in Malerei, Architektur und Skulptur scheint mir mit das Verunglückteste überhaupt.“[6] Und auch er war überzeugt, dass ein Kunstwerk, sobald es im Museum landet, „seine Sprengkraft“ verliert und „zu einem tragbaren Objekt ohne Bezug zur Außenwelt“ wird. Es werde „auf visuelles Futter und transportable Ware“ reduziert.[7] Ganz ähnlich sieht Kaprow Museen als Institutionen, die die Kunst um ihre Vitalität bringen und daher den Charakter von „Mausoleen“ haben: „‚Leben‘ im Museum ist wie Sex auf einem Friedhof.“[8]

Derartige Aussagen verwundern. Immerhin gab es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts längst sehr viele Werke in den Museen, die eigens für sie produziert worden waren. Sie mussten also nicht erst von ursprünglichen Bestimmungsorten entfernt werden, um ins Museum zu gelangen, sondern sollten sie in ihm finden. Doch offenbar stand das Museum in Verdacht, grundsätzlich nicht so angelegt zu sein, dass Kunst darin einen festen und wirksamen Ort haben könnte. Museen hätten „Zellen, nicht anders als Irrenhäuser und Gefängnisse“, bemerkte Smithson (etliche Jahre vor Brian O’Dohertys Analyse des ‚white cube‘) und unterstellte damit, die Werke seien dort zu abgeschottet, zu isoliert, um überhaupt zur Geltung gelangen zu können.[9] Das Museum „untergräbt unser Vertrauen in Sinnesdaten“, sagte er bei anderer Gelegenheit.[10] In ihm würden alle Bezüge und „Spuren“, die ein „Verständnis“ der Werke ermöglichten „ein für allemal aus[ge]löscht“, beklagte ganz ähnlich Buren.[11]

Gerade er aber deutete das als zwangsläufige Folge der Mobilität von Kunst. Allein, dass ein Werk das Atelier verlassen muss, um sichtbar zu werden, genügt seiner Auffassung nach, damit es unverständlich wird. Buren schreibt, Werke, die er zuerst in Künstlerateliers gesehen habe und die dort ganz stimmig gewirkt hätten, seien für ihn in den Ausstellungen, in denen er ihnen wiederbegegnete, „nicht dieselben gewesen“; es schiene ihm, als seien sie „nicht von denselben Personen gemacht worden“. Alle Versuche, die „Kluft“ zwischen Atelier und Ausstellung zu überwinden und diese „schreckliche Erfahrung“ zu vermeiden, hält Buren jedoch für vergeblich. Für ihn reicht es auch nicht, dass Künstler*innen sich vorab vorstellen, wo ein Werk seinen Platz finden könnte, um es dafür passend anzulegen. Denn sofern das Werk mobil sei, sei es „schlicht unmöglich“, so Buren, alle denkbaren Situationen vorherzusehen.[12]

Historisch betrachtet haben Künstler jedoch immer wieder Strategien entwickelt, die es erlaubten, ein Werk noch auf einen Ort abzustimmen, nachdem es das Atelier bereits verlassen hatte. So bewarb Peter Paul Rubens 1608 in einem Brief eines seiner Gemälde, das er für den freien Markt produziert hatte und nun verkaufen wollte, mit dem Argument, es sei im Moment noch passend für verschiedene Umgebungen. So hätten die darauf dargestellten Heiligen „kein besonderes Abzeichen oder Attribut, das nicht für irgendeinen andern Heiligen gleichen Grades verwendet werden könnte“.[13] Sobald geklärt war, wo das Bild seinen Platz findet, ließ sich also noch ein spezifisches Attribut hinzufügen, oder das Umfeld verlieh dem Gemälde die Eindeutigkeit, die es für sich alleine nicht hatte. Seine Mobilität spiegelt sich somit in einer semantischen Offenheit, um die sich der Künstler gezielt bemüht hat. Entscheidend wird hier die Postproduktion, die ‚Post Studio‘ stattfindet.

Ähnliches ist etwa von William Turner überliefert. Wenn er an einer der großen Ausstellungen der Royal Academy of Art in London teilnahm, rückte er am ‚Varnishing-Day‘ – dem Tag vor der Eröffnung, an dem alle Bilder noch mal frisch gemacht und gefirnisst wurden – mit Pinsel und Palette an.

William Parrott: J. M. W.Turner 1775-1851 at the Royal Academy, Varnishing Day, 1946.

Er reagierte dann auf das Umfeld, in dem ein Gemälde hing, auf die Beleuchtung oder sogar die Sujets benachbart hängender Bilder, änderte und ergänzte also noch etwas und legte oft auch jetzt erst den Titel fest.[14] Das zeigt, wie gut sich manche Künstler auf die Mobilität der Kunst eingestellt, ja in Reaktion darauf eine eigene Form von Professionalität entwickelt haben, den Werkprozess also über das Atelier hinaus bis an den Ort ausdehnten, an dem das jeweilige Werk sichtbar gemacht wurde.

Für Buren bleiben diese Strategien jedoch unzulänglich, im Hase-und-Igel-Spiel sind die Werke immer wieder schon vor den Künstler*innen an einem neuen Ort, auf den sie nicht vorbereitet waren. Statt auszuloten, welche Werkformen möglich wären, die die mobilitätsbedingten Probleme der Kunst zwar nicht lösen, aber zumindest interessant damit umgehen, statt also etwa Strategien chamäleonartiger Vieldeutigkeit zu erörtern, die sich in der Moderne großer Beliebtheit erfreuen, beharrt Buren darauf, mobile Kunst insgesamt als Irrweg abzutun. Dabei macht er sich nicht einmal die Mühe, genauer zu analysieren, wie der jeweilige Ort ein Werk verändert und schwächt – und was umgekehrt ein immobiles Werk durch sein Umfeld an Qualitäten verliehen bekommt, die es stärker, mächtiger, lebendiger als jedes mobile Werk werden lassen. 

Reaktionäres Plädoyer für immobile, ‚verwurzelte‘ Kunst

Die Aversion gegenüber dem Atelier und dem Museum, vor allem aber die ihr vorausliegende Ablehnung von mobiler Kunst überrascht aber noch aus einem weiteren Grund. So wurde eine Kritik an der Mobilität von Kunst und umgekehrt ein Plädoyer für immobile, ortsfeste, ‚verwurzelte’ Kunst lange Zeit vornehmlich von restaurativen und reaktionären, zum Teil sogar von nationalistisch-chauvinistischen Milieus formuliert und genährt. Bekanntlich waren schon die Nazarener eher an einer Wiederherstellung mittelalterlicher Verhältnisse, an der Renaissance einer von starkem christlichem Glauben geprägten Nation denn an Fortschritt und Aufklärung interessiert. Zugleich waren sie die ersten, die aus ihrem Misstrauen gegenüber dem Transportieren und Ausstellen von Atelierkunst Konsequenzen zogen und sich etwa für die Wiederbelebung der Fresko-Malerei stark machten. In einem Brief an den katholischen Publizisten Joseph Görres sprach Peter Cornelius 1814 davon, die „Al fresco malerey“ könne das „Fundament zu einer neuen großen, dem Zeitalter und Geist der Nation angemessenen“ Kunst sein, würde sie doch “wie in einem Brenpunkt die von Gott ausströmenden Lebensstrale zu einem glühenden Bande zusammen[ziehen]“, sich also nicht in vielerlei unverbindliche „Weege des leeren Eklektizismus“ verlieren. Dafür gehörten die Werke „in geistiger und körperlicher Hinsicht […] demjenigen Flecklein der Erde[,] wo sie entstehen[,] so eigentlich an“; „kein gebildeter Barbar“ könne sie wegführen, um damit ein Museum zu bestücken oder Handel zu treiben. Immobile Fresko-Malerei, so die von Wackenroder inspirierte Hoffnung der Nazarener, sei ein erster Schritt hin zu dem Ziel, den „heiligen Tempel“ der Kunst wieder „zu reinigen“, ja „sein Inneres zu säubern von Käufer und Verkäufer“. Solange sie Ware sind, gehören Kunstwerke hingegen immer nur Einzelnen; sie sind Statussymbole, bewegliche Spekulationsobjekte, etwas Exklusives, das daher keine Gemeinschaft stiften, keine Wirksamkeit entfalten kann. Fest und verbindlich geworden, dem Handel entzogen, könne die Kunst hingegen wieder „wohltätig die Welt erleuchte[n] und erwärm[en].“[15]

Tatsächlich gelang es den Nazarenern, in Rom eine Reihe von Fresken zu schaffen und so einer Technik, die sie anfangs selbst nicht beherrschten und für die sie sich vor allem an Raffael orientierten, zu neuer Bedeutung zu verhelfen. Der erste Auftrag kam vom preußischen Generalkonsul Jacob Ludwig Salomon Bartholdy, dessen Haus – die Casa Bartholdy – sie 1816/17 mit Szenen aus der Josephs-Geschichte des Alten Testaments ausmalten.[16] Die Themenwahl spiegelte das Selbstbild der Nazarener gut wieder. Sie identifizierten sich mit Joseph, sahen sie sich und ihre Kunst doch ebenfalls in der Rolle des Verkannten und Geringgeschätzten. Wie Joseph von seinen Brüdern verkauft, von den Herrschenden gedemütigt und sogar eingekerkert wurde, bis er dank seiner einzigartigen seherischen Fähigkeiten die Träume des Pharaos zu deuten vermochte und selbst mit Macht belohnt wurde, so wollten auch die Nazarener nach einer Zeit, in der sie Unverständnis, gar Spott erlebten, als Heilsbringer verehrt und mit ihrer Kunst weithin wirksam werden.

Johann Friedrich Overbeck, Joseph wird von seinen Brüdern verkauft, 1817.

Besonders aufschlussreich ist Friedrich Overbecks Darstellung vom Verkauf Josephs. Niedergeschlagen und fast nackt, frierend und schutzlos, wird Joseph von dem Ismaeliter weggeführt, an den ihn seine Brüder gerade verkauft haben. Sie freuen sich über das Geld, ein prall gefülltes Säckchen findet ihre gesamte Aufmerksamkeit und lässt sie ihren Bruder sogleich völlig vergessen. Diese nicht zuletzt antisemitisch konnotierte Szenerie soll demonstrieren, dass der Handel alle natürlichen Bindungen zunichtemacht; was ihm zuliebe zur Ware wird, obwohl es nie als solche gedacht war, wird verschoben und entsprechend ortlos, bezugslos, heimatlos. Die Figur des Joseph wird so – demonstrativ auf einem Fresko – zur Metapher für die zwangsmobilisierte Kunst. (Im Übrigen wurden die Fresken in den 1880er Jahren selbst von ihrem Ursprungsort entfernt und nach Berlin transportiert.)

In ihrem Klagen gegen die Zwangsmobilisierung der Kunst folgten den Nazarenern viele meist ähnlich rückwärtsgewandte Intellektuelle des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts. Hierbei verbanden sich antimodernistische, antiökonomische und antisemitische Motive oft untrennbar miteinander, in jedem Fall aber ging es auch hier immer wieder um die scharfe Ablehnung eines Kunstbetriebs, an dem der Ort der Herstellung von Werken nicht identisch ist mit den Orten, an denen sie zur Geltung gebracht werden. Plädiert wurde für eine Kunst, die jenseits von Ateliers entsteht und die an der Stelle und in der Funktion verbleibt, für die sie ursprünglich bestimmt war. 

„Das Werk gehört als Werk einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird“, heißt es etwa in Martin Heideggers 1936 verfasstem, 1950 erstmals publiziertem Kunstwerks-Aufsatz. Würden Werke hingegen „aus ihrem eigenen Wesensraum herausgerissen“, ließen sie sich nur noch als „die Gewesenen“ erfahren, sind also auch für den Philosophen nur noch Zombies ohne Kraft und Vitalität. Wie viele andere bezog Heidegger seine Kritik gleichermaßen auf Werke, die auf einem Markt auftauchen, wie auf Museen. In beiden Fällen waren sie für ihn, da „ihrer Welt entzogen“ und ihrer eigentlichen Wirkung beraubt, höchstens noch zum „Kunstgenuß“ tauglich.[17]

Dass die Zwangsmobilisierung von Werken als eigentlicher Skandal empfunden wurde, ihre Verwandlung in Ware hingegen ein nachgeordnetes Problem darstellte, wird auch in Hans Sedlmayrs Abrechnung „Verlust der Mitte“ deutlich, die wie Heideggers Aufsatz weitgehend bereits während des Nationalsozialismus konzipiert und geschrieben, jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg publiziert wurde. Unter der Überschrift „Die Zerspaltung der Künste“ beklagt Sedlmayr, dass die Einheit und unmittelbare Verbundenheit der Künste, wie sie in einer Kathedrale oder in einem Schloss bestand, durch Ereignisse wie die Französische Revolution oder die Säkularisierung zerstört worden sei: „Aus den alten Kirchen, Schlössern, Palästen strömen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts endlose Scharen vereinzelter Kunstwerke, Bruchstücke eines sie einst übergreifenden Zusammenhangs, von ihrem Mutterboden losgerissen in die Heimatlosigkeit des Kunstmarktes, in die prunkvollen Obdachlosenasyle öffentlicher und privater Museen.“ Diese „grausame Zerstückelung“ der Kunst nimmt für ihn sogar „in prophetischer Weise“ vorweg, dass im Zuge des Zweiten Weltkriegs auch Menschen „gewaltsam vom Boden weggerissen und ‚umgesiedelt’, daß ihre Familien auseinandergerissen“ wurden, wobei er allerdings allein an Heimatvertriebene, jedoch nicht im Geringsten an die Millionen deportierter und ermordeter Juden denkt, denen man in einem antisemitischen Ressentiment vielmehr von vornherein Wurzellosigkeit unterstellte. 

Aber für Sedlmayr ist nicht nur die nachträgliche „Auflösung“ von Werkverbünden und Gesamtkunstwerken frevelhaft, sondern seiner Auffassung zufolge ist es generell nicht möglich, Kunst isoliert – also in abgeschotteten Ateliers, von einzelnen Künstlern – zu schaffen, „ohne sie zu degenerieren“. Die gesamte Moderne krankt für ihn an einem Zustand, den er mehrfach als „unnatürlich“ bezeichnet – und den er ähnlich wie die Nazarener zu überwinden hofft.[18] Wie sie setzt er auf eine Wiederkehr einer starken Religion, die die Menschen wie in den Jahrhunderten vor der Moderne eng aneinanderbindet und der Kunst neue, große, gemeinschaftliche Aufgaben bietet.

Ein ähnliches Bild von der Geschichte der Kunst wie Sedlmayr entwickelte auch Wilhelm Pinder. Für ihn begann der Niedergang der Kunst aber nicht erst im Zeitalter der Französischen Revolution, sondern bereits am Ende des Mittelalters. Bis dahin „hatte das heilige Gesamtkunstwerk des Domes, der Kathedrale nach den Kräften gerufen, die ihm dienen konnten“. Die „große Aufgabe“ überstrahlte alles; sie „stand – und zog die Künstler an sich“. Diese schufen also nicht zurückgezogen in Werkstätten und Ateliers, sondern begaben sich alle dorthin, wo sie gebraucht wurden und wo sie gemeinsam – als Maler, Architekten, Bildhauer – etwas erschaffen konnten. So immobil die Kunst war, so mobil waren umgekehrt also die Künstler, die nicht nur bei den Nazarenern sogar oft mit der Figur des Pilgers zusammengedacht wurden, der heilige Orte aufsucht, Orte aber auch überhaupt erst heiligt.

Die Mobilität der Künstler aber kam in der Neuzeit zum Erliegen. Nun galt – so Pinder – zunehmend, dass „der Künstler stand – und er zog die Aufgaben an sich, er erzeugte viele ganz neu“. Das sei anfänglich auch produktiv gewesen, doch dann sei die „Selbstdarstellung“ der Künstler, die irgendwie ein Publikum finden mussten, dominant geworden. Sie hätten einen „tragischen“ Abstieg „von der gesicherten zur verzweifelten“ Existenz erlebt und auf dem „Weg von der Kathedrale zur Kunstausstellung und zum Museum“, auf dem Weg vom großen Auftrag zur kleinen Atelierexistenz seien sie „vereinsamt“. „Zu Tausenden sitzen unsere armen Künstler umher, schaffen einsam darbend in zahllosen Werkstätten Kunst, die niemand braucht und die immer wieder künstlich angeboten wird.“ 

Für die von immobilen Künstlern geschaffene Kunst muss jeweils erst nachträglich ein Ort, eine Funktion gefunden werden, die ihr jedoch äußerlich bleiben. Insofern wird die Kunst, die in jenen „Werkstätten“ entsteht, auch beliebig. Sie wird, wie es Pinder formuliert, „vogelfrei“. Erst wenn es wieder einen starken Glauben wie im Mittelalter gebe, der die Menschen „mit elementarer Gewalt“ erfasse, könne auch wieder eine „Bindung“ entstehen, in deren Folge „die höchsten formalen Kräfte aus der Menschheit“ gezogen würden und die Kunst triumphal zurückkehre. 

Für Pinder bedeutet das Ideal einer ortsfesten Kunst aber nicht nur, dass ein Werk an einen bestimmten Ort gehört, sondern dass es sich ihm auch verdankt: den Menschen, die dort leben. Kunst war für ihn nur gültig, wenn sie aus einer Kultur, einer Gemeinschaft, einem Volk, einem Boden (von „Mutterboden“ sprach auch Sedlmayr) herauswuchs. Je tiefer und stärker ihre Wurzeln waren, desto großartiger und mächtiger konnte sie werden. Umgekehrt galt eine Kunst, die auf keinen bestimmten Ort bezogen war, also jede mobile oder für den Handel produzierte Kunst, als wurzellos und entsprechend als kraftlos, leer, nichtig. „Kunst und Volk“ gehörten „unlöslich und unaufhebbar zusammen“, behauptete Pinder und meinte weiter, er habe „nicht eine Sekunde lang glauben können“, dass „Kunst international“ sei. Das sei nur „Ausflucht und Vorwand“ derjenigen, „die es nötig haben: der Wurzellosen und Entarteten“.

All diese Aussagen traf Pinder 1933 – in einem Vortrag mit dem Titel „Die bildende Kunst im neuen deutschen Staat“, in dem er die Hoffnung äußerte, der Nationalsozialismus könne als „ungeheure Elementarbewegung des Gemeinschaftsgefühles“ die Degeneration der letzten fünf Jahrhunderte rückgängig machen und eine neue, starke, in Volk und Boden tief verwurzelte Kunst hervorbringen.[19] Das traf sich mit den Erwartungen, die die Nazis selbst von ihrem ‚Tausendjährigen Reich’ hatten. Und es ließ sich gut mit antisemitischen Verschwörungstheorien von Hitler und anderen Nazis verbinden, wonach es „das Judentum“ darauf abgesehen habe, das „gesunde Empfinden“ der Menschen für echte, verwurzelte Kunst „zu zerstören“, zumal es selbst ja seinerseits keinen Heimatboden besitze, sich in seiner Ort- und Ruhelosigkeit auf Handelsgeschäfte verlegt habe und danach strebe, alles zur Ware – immobil – zu machen.[20]

Wenn man sich vergegenwärtigt, welche ideengeschichtlichen Entwicklungen und Verstrickungen die Kritik an einer mobilen Kunst – an einer Kunst, die in Ateliers entsteht und keinen festen Bestimmungsort besitzt – erfahren hat, entsteht eine gewisse Unsicherheit, ob und wie eine Bewegung, die sich der Losung ‚Post Studio’ verschrieben hat, ideologische Abgründe zu umschiffen vermag. Und wie sieht es mit den (bereits zitierten) Künstlern aus, die sich in Texten ausdrücklich gegen das Atelier, gegen das Museum, gegen eine Kunst, die vom Atelier ins Museum gelangt, ausgesprochen haben?

In zumindest einigen Werken von Buren und Smithson lässt sich nicht nur erkennen, welche Konsequenzen sie aus ihren Überzeugungen gezogen haben, sondern man erfährt auch etwas mehr über deren ideelle Grundlagen. Für die Skulptur Projekte Münster 1987 entwickelte Buren 4 Tore, die an Durchgängen zwischen dem Paulusdom und der Innenstadt platziert wurden.

Daniel Buren, 4 Tore, 1987 (©Rüdiger Wölk, Münster).

Sie sollten den Domplatz markieren, es zum Schwellenerlebnis machen, ihn zu betreten oder zu verlassen. Damit aber ging es Buren darum, die jahrhundertelange institutionelle Trennung von Dom und Stadt neu zu vergegenwärtigen, ja an die langwährende Sonderstellung der Kirche – die Domimmunität – zu erinnern, sie mit neuen Mitteln zu restituieren.[21] Sosehr sich seine Tore formal auf Errungenschaften der Kunst des 20. Jahrhunderts beziehen, so wenig unterscheidet sich der Impetus seiner Arbeit also von restaurativen Bemühungen, wie sie ganz ähnlich schon die Nazarener verfolgt hatten. Kunst wird zum Mittel, den Ort, für den sie bestimmt ist, eigens herauszuheben und zu etwas Einmaligem zu machen. Zugleich ist offenkundig, dass die Tore an jedem anderen Ort ihren Sinn verlören, sie können nur an der Stelle wirken, an der Buren sie aufstellen ließ.

Erhält Kunst hier eine geradezu kultische Funktion, so gilt das für Werke von Smithson noch viel mehr. Vor allem sein Hauptwerk Spiral Jetty von 1970 steht ausdrücklich in der Tradition von Kultstätten.

Robert Smithson, Spiral Jetty, 1970.

Die Spiralform war in verschiedenen Zeiten und Kulturen Symbol für Wiedergeburt oder Unendlichkeit, Smithson selbst beschwor damit die Rückkehr zu einem Ursprung, knüpfte aber auch an eigene frühere Arbeiten an, die noch unter dem Einfluss christlich-mystischen Denkens standen.[22] So übersetzte er in Feet of Christ, einer Zeichnung von 1961, die stigmatisierten Füße des Heilands ebenfalls in spiralartige Formen, so als solle damit die Auferstehung aus dem Leid versinnbildlicht werden. Erwies sich Smithson bereits dadurch als mindestens so ambitioniert restaurativ wie die Nazarener oder christlich geprägte Intellektuelle, so machte er aber vor allem ernst mit einer Kunst jenseits von Atelier und Museum. Dass er ein Werk wie Spiral Jetty an dem Ort schuf, für den es bestimmt war, sollte seinen Wirkungsgrad maximieren, ja es ihm ermöglichen, ohne Transportverluste und uneingesperrt zu existieren und bestenfalls alt-neue kultische Rituale und Mythen zu konstituieren.

Überwindung der Atelierkunst: Der anti-akademische Impuls der ‚Post Studio‘-Klasse

Mythisch-religiöse Motivationen wird man den Protagonist*innen der ‚Post Studio’-Bewegung, die um 1970 am California Institute of the Arts (CalArts) entstand, hingegen kaum nachsagen können. John Baldessari, Gründer und Leiter einer Klasse, die den Namen ‚Post Studio‘ trug, verband damit vielmehr primär die Absicht, eine Offenheit und Vielfalt zu erlauben, wie sie in einer Klasse, die speziell der Malerei, der Bildhauerei oder der Druckgrafik gewidmet ist, nicht möglich wäre. Die traditionellen Klassentypen standen aber auch unter dem Verdacht, die Potenziale von Kunst nicht voll auszuschöpfen, zu konventionell zu sein, die angehenden Künstler*innen zu einseitig, zu vorbestimmt, zu wenig auszubilden. In späteren Interviews, in denen Baldessari zu den Gründen für seine neue Klasse gefragt wurde, äußert er sich entsprechend abwertend über Maler, die nur „auf Leinwänden herumschmieren“ („daubing away of canvases“), oder Bildhauer, die nur „Steine zerschlagen“ („chipping away at stone“).[23] Atelierkunst, so die unterschwellige Botschaft, ist immer etwas stumpfsinniger und banaler, als Kunst sein müsste – und als sie ist, wenn sie in offeneren Verhältnissen entsteht.

Zuerst einmal stand ‚Post Studio‘ aber für eine pädagogische Methode. Die Studierenden sollten lernen, auf wechselnde Situationen zu reagieren, sollten an immer wieder anderen Orten, in anderen Konstellationen und unter anderen Vorzeichen versuchen, einen Ansatzpunkt für Kunst zu finden. Diese sollte sich also aus dem jeweiligen Moment heraus ergeben und so ein Beleg für Geistesgegenwart, Spontaneität und Unmittelbarkeit sein. Statt im Atelier immer wieder dieselbe Professionalität zu üben und durch Wiederholung zu Virtuosität zu gelangen, sollten die Studierenden auf beliebige Orte und Verhältnisse reagieren und auf diese Weise eine Art von ‚sprezzatura‘, eine Souveränität im Umgang mit möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Herausforderungen erwerben.

Wie sehr es um Improvisation, Reaktionsfähigkeit und Geistesgegenwart, aber auch um einen Bruch mit traditioneller Kunstausbildung ging, wird an einer Liste von hundert Ideen deutlich, die Baldessari 1970 den Mitgliedern seiner ‚Post Studio‘-Klasse vorlegte. Es handelt sich dabei um mehr oder weniger allgemeine Handlungsanweisungen. So lautet Idee Nr. 15: „Gegeben: 1 Dollar. Was für eine Kunst können Sie mit dieser Summe machen?“ („Given: $1. What art can you do for that amount?“) Und Idee Nr. 83: „Arbeit auf der Straße, Kunst, die durch einen Ort definiert wird. Was würden Sie ganz oben auf einem dreißigstöckigen Gebäude tun? Was würden Sie unter Wasser tun?“ („Street work, art determined by location. What would you do on top of a 30-store-bldg.? What would you do under water?”)[24]

Der anti-akademische Impuls, von dem Baldessaris ‚Post Studio‘-Klasse ihren Ausgang nahm und der etwa dazu führte, dass man mit einem Dart-Pfeil auf eine Los Angeles-Landkarte zielte, um den jeweils getroffenen Ort aufzusuchen und dort Kunst-Projekte zu initiieren, steht aber seinerseits in einer Tradition.[25] Auch sie führt nicht zuletzt bis zu den Nazarenern zurück, waren sie doch ihrerseits zuerst ein Bund gegen die aus ihrer Sicht zu konventionellen und stumpfen Formen von Kunst, die an den Akademien gelehrt wurden. Dass sie sich zusammenschlossen und 1810 gemeinsam ein neues Leben in Rom begannen, also übliche Karrierewege aufgaben und nach einer stärkeren, wirksameren Kunst strebten, war für die damalige Zeit mindestens so mutig und radikal wie Gründung oder Besuch der ‚Post Studio’-Klasse im Jahr 1970. In beiden Fällen wollte man nicht nur den etablierten Kunstbetrieb aufbrechen, sondern auch das vereinzelte Dasein als Atelierkünstler überwinden, wollte in der Gruppe und unter freieren Bedingungen experimentieren – in der Hoffnung auf ein Kunstwunder, das zu Werken führt, die an Intensität und Evidenz alles Bisherige in den Schatten stellen.

Der größte Unterschied zwischen den Nazarenern und den CalArts-Mitgliedern besteht darin, dass erstere keine Existenz ‚Post Studio‘ – also nach jeglicher Atelierkunst – anstrebten, sondern sich viel eher in Richtung ‚Prae Studio‘ bewegten. Ihre Vorbilder waren mittelalterliche Dombauhütten, die von Ort zu Ort zogen und große Kirchenbauten errichteten sowie mit Skulpturen und Gemälden ausstatteten. Die Nazarener wollten aber vor allem Verhältnisse, in denen die Kunst wieder der Religion diente. Ihr größtes Programmbild, Friedrich Overbecks zwischen 1829 und 1840 entstandenes Gemälde Der Triumph der Religion in den Künsten, veranschaulicht die gewünschte Stellung und Rolle der Künstler besonders deutlich. Sie werden als eine große – sogar völker- und epochenübergreifende – Gemeinschaft gezeigt, wobei einzelne Gruppen über verschiedene Projekte diskutieren. Niemand ist hier allein in einem Atelier, niemand muss darum bangen, ob das Angebotene auch Nachfrage findet. Vielmehr werden allenthalben Aufträge religiöser Kunst vergeben, man ist unter freiem Himmel versammelt, der jedoch weniger ‚sky‘ als vielmehr ‚heaven‘ ist und von Vertretern des Alten und Neuen Testaments bewohnt wird, mit Maria und dem Kind genau in der Mitte. 

Johann Friedrich Overbeck, Triumph der Religion in den Künsten, 1840.

Indem die ‚Post Studio‘-Bewegung hingegen nicht reaktionär, nicht programmatisch religiös war, fand sie ganz andere Wege als etwa das Fresko, um dem Misstrauen gegenüber einer mobilen Kunst zu begegnen, die nicht an dem Ort wirksam wird, an dem sie entsteht. Aber sie unterschied sich auch von ‚Land Art‘ oder einer ortsbezogenen Kunst à la Buren, der man ebenfalls vorhalten kann, sich vornehmlich an alten Formen von Kunst – an Kathedralen und Denkmälern – zu orientieren und insofern eher eine ‚Prae Studio‘ – als eine ‚Post Studio‘-Mentalität zu repräsentieren. Typisch für diese ist es hingegen, die transportbedingten Wirkungsverluste von Kunst etwa dadurch zu unterlaufen, dass das Wesentliche des Werkes gar nicht mehr materiell verfasst ist – und deshalb auch nicht eigens transportiert werden muss. Je konzeptueller ein Werk ist, desto besser kann es sich an ganz verschiedenen Orten neu realisieren und dabei jeweils auf diese reagieren. Nicht Ortsfestigkeit, sondern völlige Flexibilität gegenüber Orten ist dann der Anspruch. Die Gefahr, ortsbezogene Kunst in Kategorien von Blut und Boden zu begreifen, ist damit aus dem Weg geräumt.

Exemplarisch verdeutlichen Baldessaris Ideen für die ‚Post Studio‘-Klasse dieses Prinzip der Flexibilität. Sie kann man an vielerlei Orten umsetzen, aber man muss sie auch an jedem Ort neu umsetzen. Gerade damit aber ist gewährleistet, dass sie jeweils unmittelbar zur Geltung gelangen können und es zu keinen transportbedingten Verlusten des Wirkungsgrads kommt. Der Ort, an dem die Kunst sichtbar wird, ist zugleich der Ort, an dem sie entsteht. Oder: Ein Werk wird hier nicht einfach ausgestellt, sondern es wird aufgeführt und inszeniert, entsteht also von Mal zu Mal neu.

Aufführen statt Ausstellen – immobile, aber ortlose Kunst

Dass Kunst eher aufgeführt und inszeniert als ausgestellt wird, impliziert aber auch, dass sie nicht nur jeweils an einen bestimmten Ort, sondern genauso an die Zeit gebunden wird. Statt dauerhaft am selben Ort zu existieren, hat sie jeweils den Charakter eines einmaligen Ereignisses – und gerade damit die Chance auf eine Intensität der Wirkung, die viel höher ist, als wenn das Werk eine bloße Konserve ist. Performance-Kunst und Aktionskunst sind daher zentrale Formen von ‚Post Studio‘-Kunst; bei ihnen ist noch deutlicher als bei Konzeptkunst, dass der Ort der Entstehung eines Werks identisch mit dem Ort ist, an dem es rezipiert wird. Auch sie sind – als jeweils einmalige Aufführung – nicht an einen anderen Ort transportierbar, sondern lassen sich dort höchstens neu aufführen. In ihnen ist Kunst also nicht mehr mobil – und dennoch nicht fest an einen Ort gebunden. Insofern handelt es sich hierbei um Kunstformen, die auf die Kritik am Atelier und Museum – am Kunstbetrieb der Moderne – reagieren, ohne deshalb jedoch den Blick zurück in die Geschichte zu werfen. Das Misstrauen gegenüber mobiler Kunst führt also erstmals – und endlich? – zu nicht ideologisch beschwerten Lösungen.

Aber es gibt dazu auch ein theoretisches Pendant: gerade aus der Zeit, in der das Misstrauen gegen mobile Kunst seine problematischsten Ausprägungen erfahren hat. So entspricht die Immobilität und Einmaligkeit, die das Aufführen von Kunst kennzeichnet, genau den beiden Bedingungen, die Walter Benjamin in seinem Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936) für die Möglichkeit einer auratischen Qualität eines Werks identifiziert hatte.[26] Umgekehrt diagnostiziert er einen „Verfall der Aura“, wenn das Bedürfnis dominiert, sich etwas „räumlich und menschlich ‚näherzubringen‘“, es also nicht an seinem Bestimmungsort aufzusuchen, sondern es zu mobilisieren und dorthin zu transferieren, wo man selbst ist. Ferner mindert die „Überwindung des Einmaligen“ die Aura, was vor allem der Fall ist, wenn man das Werk reproduziert. In der Reproduktion gelingt es auch umso besser, das Werk mobil werden zu lassen; es kann dann nicht nur von seinem Ursprungsort an einen anderen Ort, sondern – gleichzeitig – an beliebig viele Orte gebracht und vom Unverfügbaren zum Allverfügbaren werden. Die technische Reproduzierbarkeit stärkt zudem die Erwartung, dass Kunst grundsätzlich mobil ist, wirkt also auch auf den Umgang mit den Originalen zurück, die man umso lieber und häufiger auf Ausstellungen schickt oder auf andere Weise dem Publikum nahezubringen versucht.

Tatsächlich fußt Benjamins Aufsatz auf demselben Misstrauen gegenüber mobiler und mobilisierter Kunst wie die Publikationen reaktionärer Autoren. Aber bei ihm nimmt der Diskurs eine andere und letztlich radikalere Wendung – so wie er bei der ‚Post Studio‘-Bewegung eine andere – und radikalere – Wendung genommen hat als bei anderen Versuchen, Kunst jenseits des Ateliers zu machen.

Zuerst jedoch erinnert Benjamins Argumentation stark an die von Wilhelm Pinder. Wie dieser für die letzten Jahrhunderte eine Entwicklung von der Kathedrale zur Ausstellung diagnostiziert und darin einen Verfall gesehen hatte, so beschreibt Benjamin eine analoge Veränderung, bei der an die Stelle des auratischen „Kultwerts“ der Kunst zunehmend ihr nicht-auratischer „Ausstellungswert“ in den Vordergrund gelangt sei. Letzterer setzt schon ihre Mobilität oder Mobilisierung voraus, während Werke mit Kultwert auch für Benjamin idealerweise einen „festen Ort“ haben. Er geht sogar so weit, zu behaupten, dass ein Werk, bei dem der Ausstellungswert dominant wird, das also zwangsläufig mobil ist, kein „‚echtes‘ Kunstwerk“ mehr sei. Es ist vielmehr nur noch eine Reproduktion – ein Abklatsch eines echten und originalen Werks. Dabei macht es für Benjamin letztlich keinen Unterschied, ob das Original einer Kirchenplastik in ein Museum gelangt oder ob es als fotografische Abbildung in Büchern oder für Postkarten vervielfältigt wird – es ist in jedem Fall zur Reproduktion geworden. Und Werke, die von vornherein mobil sind, also vom Atelier auf den Markt oder in das Museum transportiert werden, die also allein durch ihren Ausstellungswert definiert sind, existieren für ihn grundsätzlich nur im Modus der Reproduktion. Es sind Reproduktionen ohne Originale, Untote von Geburt.

Damit formuliert Benjamin die wohl grundsätzlichste Kritik, die man an Kunst aus Ateliers – an mobiler Kunst – vorbringen kann (ohne dass er die Vokabel ‚Atelier‘ auch nur einmal verwendet). Und seine Kritik erfährt eine zusätzliche Polemik dadurch, dass Benjamin das Verhältnis von „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ streng analog zum marxistischen Verhältnis zwischen ‚Gebrauchswert‘ und ‚Tauschwert‘ denkt. Das kultische Ritual ist für ihn der „originäre und erste Gebrauchswert“ eines Werks, während seine Mobilität, sein Ausgestellt-Werden bedeutet, dass es auch gehandelt und zu Ware werden kann – dass es also einen Tauschwert erhält. Für den Verkäufer – somit auch für den Künstler – ist dieser aber wichtiger als der Gebrauchswert. Und er wird umso höher, je größer die Versprechen sind, die das Werk dem Käufer macht. Wenn es – wie etwa Rubens’ Heiligenbild – suggeriert, für verschiedene Orte und Funktionen geeignet zu sein, ja wenn es von vornherein vieldeutig ist, dann steigt die Chance, dass es sich – gut und teuer – verkaufen lässt. Um den Tauschwert zu steigern, wird eine besondere Bedeutsamkeit und Verwendbarkeit aber vielleicht auch nur vorgegaukelt. Wie jede Ware droht für Benjamin also auch eine Kunst, die mobil ist und ausgestellt wird, mehr Schein als Sein zu bieten. Und damit ist sie nicht nur von vornherein eine bloße Reproduktion, sondern hat zudem den Charakter einer Fälschung.

Es ist zu bedauern, dass weder Benjamin noch viele andere Protagonisten des Diskurses gegen mobile Kunst – gegen Kunst aus dem Atelier – mitbekommen konnten, welche neuen Kunstarten ab den 1960er Jahren entstanden sind oder zumindest zusätzliche Dynamik erfahren haben. Hätten die Nazarener in Smithson oder Buren Geistesverwandte gesehen? Oder hätten deren so andere Werkformen die Nähe im Denken verdeckt? Und hätte Benjamin bei einer Performance oder einem Stück Konzeptkunst, wie sie im Zuge der ‚Post Studio‘-Bewegung praktiziert wurden, die Wiederkehr der Aura gespürt? Hätte er in der Immobilität und Einmaligkeit dieser Kunstformen die erste originale Kunst seit langem erkannt?

 

Wolfgang Ullrich ist freier Autor.

Anmerkungen

[1] Friedrich Overbeck: „Briefentwurf an den Bruder vom 3. Juli 1844“, in: Margaret Howitt: Friedrich Overbeck. Sein Leben und Schaffen, Freiburg/Breisgau 1886, Band. 2, S. 94f.
[2] Daniel Buren: „Die Funktion des Ateliers“ (1970/71), in: Ders.: Achtung! Texte 1967 – 1991, hg. v. Gerti Fietzek/Gudrun Inboden, Dresden 1995, S. 152-167, hier S. 165, 158, 164.
[3] Wilhelm Heinrich Wackenroder: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), Stuttgart 1997, S. 71.
[4] Buren, a.a.O. (Anm. 2), S. 153, 157.
[5] Karl Hillebrand: Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers, Berlin 1874, S. 8, 28f.
[6] Robert Smithson: „Was ist ein Museum? Ein Dialog zwischen Allen Kaprow und Robert Smithson“ (1967), in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Eva Schmidt/Kai Vöckler, Köln 2000, S. 207-214, hier S. 211.
[7] Ders.: „Kulturelle Gefängnisse“ (1974), in: ebd., S. 185f., hier S. 185.
[8] Allen Kaprow, in: Smithson, a.a.O. (Anm. 6), S. 208.
[9] Smithson, a.a.O. (Anm. 7), S. 185.
[10] Ders.: „Leere Gedanken über Museen“ (1967), a.a.O. (Anm. 6), S. 75.
[11] Buren, a.a.O. (Anm. 2), S. 165.
[12] A.a.O., S. 164, 165, 163.
[13] Peter Paul Rubens: Brief an Annibale Chieppo vom 2. Februar 1608, in: Otto Zoff (Hg.): Die Briefe des Peter Paul Rubens, Wien 1918, S. 66.
[14] Vgl. http://collections.museums-sheffield.org.uk/view/objects/asitem/search@swginvno$$CONTAINS$$CGSG00741?acc=CGSG00741 [Website nicht mehr verfügbar].
[15] Peter Cornelius: „Brief an Joseph Görres vom 3. November 1814“, in: Ernst Förster: Peter von Cornelius. Ein Gedenkbuch, Berlin 1874, S. 152-157.
[16] Vgl. Peter Vignau-Wilberg: Die Lukasbrüder um Johann Friedrich Overbeck und die Erneuerung der Freskomalerei in Rom, München 2011.
[17] Martin Heidegger: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ (1936), in: ders.: Holzwege (1950), Frankfurt/Main 1980, S. 25f.
[18] Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte, Salzburg 1948, S. 80-88.
[19] Wilhelm Pinder: „Die bildende Kunst im neuen deutschen Staat“ (1933), in: ders.: Reden aus der Zeit, Leipzig 1934, S. 33, 58ff.
[20] Adolf Hitler: „Rede zur Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellung in München“ (1937), in: ders.: Reden zur Kunst- und Kulturpolitik (hg. v. R. Eikmeyer), Frankfurt/Main 2004, S. 125ff.
[21] Vgl. Skulptur Projekte Archiv, auf: https://www.skulptur-projekte-archiv.de/de-de/1987/projects/10/.
[22] Vgl. Patrick Werkner: Land Art USA. Von den Ursprüngen zu den Großraumprojekten in der Wüste, München 1992, S. 86ff.
[23] Christopher Knight: „A Situation Where Art Might Happen: John Baldessari on CalArts” (2011), auf: https://eastofborneo.org/articles/a-situation-where-art-might-happen-john-baldessari-on-calarts.
[24] John Baldessari: More than you wanted to know about John Baldessari, hg. v. Hans Ulrich Obrist, Zürich 2011, S. 77, 85.
[25] Vgl. Leonie Hahn: „John Baldessari and the dissolution of the teacher-student relationship“, in: Tacit Knowledge. Post Studio – CalArts (1970-77), hg. v. Annette Jael Lehmann, Leipzig 2019, S. 46-49.
[26] Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936), in: ders.: Gesammelte Schriften, Abteilung I, Band 2, Frankfurt/Main 1991, S. 15ff.

Ein Gedanke zu „Gegen das Atelier
von Wolfgang Ullrich
14.6.2021

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