»Unity« und »Healing« – Popmusiker vor US-Präsidenten
Die Amtseinführung Joe Bidens setzte die Tradition der US-amerikanischen Fusion von Herrschaft und Popkultur fort. Es gibt dann neben der Bibel, mehreren Pastoren, den Richtern des Supreme Court, Militärs, Polizeichefs, ehemaligen Präsidenten, einer Militärkapelle, Sicherheitspersonal, Parlamentariern und Angehörigen der früheren Exekutive neuerdings auch erfolgreiche Sänger, die vor dem Kapitol in winterlicher Kälte den Reigen der wichtigen Menschen des Staates ergänzen, indem sie ihm einen Farbtupfer verleihen. Sie dürfen als national bedeutend erachtete Lieder singen, mit dem Höhepunkt der Nationalhymne, dem „Star-Spangled Banner“. Beim abendlichen Konzert vor oder nach der Inauguration geht es etwas legerer zu, hier feiert die neue Exekutive das Showbusiness und setzt sich der Expressivität oder dem Charme der nun ungezwungener agieren dürfenden Stars aus.
Doch bevor wir mit unserem eigentlichen Thema beginnen, zuerst eine präsidiale Begegnung der anderen Art, bei einer Gala in Washington: der Auftritt von Aretha Franklin ‚vor‘ Obama 2015. Obama wird nachgesagt, er habe eine ‚Träne verdrückt‘, mag sein, aber beim Augenreiben scheint er eher müde zu sein, wird danach förmlich erdrückt von der Kraft Franklins und kann bzw. darf auch nur mit recht ungemessenem, aber präsidial bereits auffälligem Kauen und Fingerschnippen reagieren, in hartem Kontrast zu der neben den Obamas sitzenden Carole King (der geehrten Komponistin des Stücks) und vor allem dem Mann schräg hinter ihr, der vom ersten Ton der Stimme gleich ergriffen wird:
Momente solcher Erhabenheit konnte die Amtseinführung Bidens nicht bieten, auch wenn die Architektur des Kapitols dafür vorgesehen ist. Ich weiß nicht, ob ich da ein Geheimnis verrate: Die US-amerikanische Flagge – das ‚star-spangled banner‘– passt nicht zu klassizistischen Gebäuden. Es ist aber vor allem das Verdienst allerlei funktionaler Anforderungen, dass maximale Weihe nicht erreicht werden kann; am 20.1.2021 z.B. sorgten ein hässlicher, gepanzerter SUV und Sicherheitsbeamte dafür, dass die Komposition ‚vor großer Prachttreppe‘ nicht zur Vollendung gelangen konnte (hier ab Sekunde 25):
Die Inauguration lebte aber natürlich von der ungewöhnlichen, neuartigen Bekanntheit des Ortes: Gerade noch war man dank hunderter Besetzer-Videos genau dort gewesen, wo jetzt die Zeremonie stattfand, Türen, Eingangsbereiche, Kameragerüst, Gänge, alles zwei Wochen zuvor von aller Welt ausführlich in Augenschein genommen, nun wieder von professionelleren Medienteams gefilmt.
Zum ungewöhnlichen Eindruck trug ebenfalls bei – auch wenn sich in den letzten zehn Monaten die Wahrnehmung stark darauf eingestellt hat –, dass die Teilnehmer und Gäste der Inauguration allesamt Masken trugen. Eine bessere Verbildlichung des ‚deep state‘ hätte sich auch QAnon kaum einfallen lassen können. Und dann kam noch Lady Gaga mit einer güldenen Riesenbrosche in Form einer martialischen Taube.
Zur Ausgewogenheit sollte der erfolgreichste Country-Sänger aller Zeiten, Garth Brooks, beitragen. Er füllte seine Rolle gut aus, trug Jeans, ein verbeultes Sakko, Cowboyhut. Als er den Hut abnahm, sah er mit seinem Militärschnitt endgültig aus wie einige von jenen, die sich zwei Wochen zuvor illegal Zutritt verschafft hatten. Der bekennende Republikaner Brooks hatte seinen Auftritt bei einer Pressekonferenz mit dem Satz begründet: „The message they’re pushing is unity, and that’s right down my alley, man.“
Diese Botschaft wurde erwartungsgemäß während der Amtseinführung oft verkündet. Selbst Trump musste das in seiner Rede (hier dokumentiert) an gleicher Stelle vor vier Jahren unterbringen („We are one nation“), allerdings von der ausführlich dargebotenen, kritischen These flankiert, dass diese Einheit verletzt worden sei; die Nation sei gespalten in eine ‚politische Klasse‘ und „the people“ („For too long a small group in our nation’s capital has reaped the rewards of government while the people have borne the cost. Washington flourished but the people did not share in its wealth. Politicians prospered but the jobs left and the factories closed“).
Umgekehrt kann nun die exakte Gegenthese lauten, dass die Nation bis zum 19.1.2021 in die Spitze der Exekutive – Trump und sein Stab – und den Rest – die ‚anständigen‘ Amerikaner – aufgeteilt gewesen sei. Dies zumindest als ein argumentativer Versuch jener, die Trump von seinen bisherigen Anhängern separieren wollen.
Die Einheit zu beschwören und ihre (Wieder-)Herstellung einzufordern, gehört zur Standardaufgabe des erfolgreichen Politikers, auch oder gerade nachdem er (mittelbar) durch eine Partei Herrschaft erlangt hat. Dazu bedarf es als Anlass also nicht notwendigerweise eines Krieges oder einer Naturkatastrophe. Es soll aber durch den ‚Unity‘-Anspruch keineswegs bloß betont werden, dass Angehörige der Exekutive – selbst die ‚höchsten‘ – sich ebenso wie der Rest der Bevölkerung an die geltenden Gesetze halten wollen (und im Falle des Verstoßes gegen sie ihnen unterliegen). Angezielt und beschworen wird regelmäßig etwas ‚Höheres‘.
Viele Republikaner antworteten auf ein entsprechendes „Unity“-Ansinnen Bidens bereits in den Tagen vor der Amtseinführung auf ihre Weise, indem sie plädierten, die Demokratische Partei solle auf den Versuch, Donald Trump vom Kongress durch ein Impeachment-Verfahren verurteilen zu lassen, verzichten, weil dadurch ‚Heilung‘ und ‚Einheit‘ in hohem Maße gefährdet würden. Dieses Argument wiederum erzürnte viele Mitglieder und Anhänger der Demokratischen Partei und bestärkte sie nur in ihrem Vorgehen. Das ‚Einheits‘-Argument sorgt demnach gegenwärtig zuverlässig für die Aufteilung in Parteien. Unstrittig dürfte unter ‚Amerikanern‘ nur sein, was Biden ganz am Schluss seiner Inaugurationsrede (hier) sagte: „May God bless America and may God protect our troops.“
Angesichts dieser Lage dürfte es fast schon nichts mehr ausgemacht haben, dass im weniger offiziellen, aber schon lange üblichen Teil der Einführungsfeierlichkeiten, dem Konzert zu Ehren des neuen Präsidenten, fast nur bekennende (und spendende) Anhänger der Demokratischen Partei auftraten: von Bruce Springsteen bis Katy Perry. An die Stelle der entspannteren, intimeren Atmosphäre des Konzerts trat 2021 wegen der Corona-Pandemie ein gespenstisches Erhabenheits-Szenario. Was die politische Bühne nicht mehr bieten kann, wurde nun der Kunst aufgebürdet: einsamer Musiker, einsamer Moderator auf vollständig freier Lincoln-Memorial-Treppe und vor ebenfalls menschenleerer, aber mit Leuchten bestückter National Mall, dazu Promo-Video-Einspielungen („Celebrating America hosted by Tom Hanks“; komplette Sendung hier).
Ein besonderes Kunstverständnis zeigte sich bereits bei der Inaugurationszeremonie: Das vorgetragene Gedicht (Amanda Gorman, „The Hill We Climb“) überbot noch einmal das politische ‚Unity‘-Pathos, auch wenn das kaum möglich erscheint; mit Sätzen wie „But while democracy can be periodically delayed, it can never be permanently defeated“ kam ‚Endkampf‘-Stimmung auf. So kann natürlich auch ‚Einheit‘ erzielt werden.
Der interessanteste künstlerische Einheits-Versuch fand im Jahr 1969 statt. Richard Nixon lud James Brown zur „All-American Gala“ kurz vor der Inauguration ein. Brown, der den demokratischen Gegenkandidaten Humphrey unterstützt hatte, sagte zu und – wie der Zeitschriftenbericht (vielleicht auch nur die Legende) es will – schuf eine ungewöhnliche Form der Zuschauer-Einheit; angeblich stimmten auch ‚weiße‘ Zuschauer in den Chor ‚I’m black and I’m proud‘ ein (zit. n. diesem Artikel der Website ghostsofdc.org hier). Leider liegt der Auftritt nicht als Clip vor, hier ein Mitschnitt des Titels aus einer TV-Show aus dem Jahr 1968:
Nixon hatte übrigens das Glück, sich nicht den Imperativen Browns ausgesetzt zu finden, aus Sicherheitsgründen blieb er dem Konzert letztlich fern. Das Repräsentationsbedürfnis der Einladenden ist dennoch unverkennbar: Was der ‚schwarzen‘ Bevölkerung an materiellen Mitteln und öffentlichen Räumen vorenthalten wurde, sollte wenigstens auf der Show-Bühne nicht sichtbar werden. Weitere Konstellationen wie J. F. Kennedy/Nat King Cole, Jimmy Carter/Aretha Franklin oder George Bush/Anita Baker belegen dies (Trump hingegen hatte vor vier Jahren Probleme, überhaupt einen bekannten Namen zu gewinnen, immerhin trat aber Sam Moore – von Sam & Dave – auf).
Der Zugang zur Inaugurationszeremonie war jedoch lange restriktiver geregelt als der zur begleitenden Gala. Die Auswahl von Interpreten ‚klassischer‘ und kirchlicher Musik wurde erst 1973 unterbrochen – wiederum unter Nixon –, als die Jazzvokalistin Ethel Ennis die gesangstechnisch nicht leicht zu meisternde Hymne interpretierte, allerdings wohl ohne Scat-Einlagen o.Ä., wenn ich das richtig deute (Aufnahmen konnte ich nicht finden). Mit Beyoncé unter Obama im Jahr 2013 die erste Pop-Vertreterin (sie sang allerdings nicht über ihr Kapitol-Mikrofon, sondern bewegte die Lippen zum Playback, wie einige Tage nach der Zeremonie bekannt wurde; angegebener Grund: Streben nach Perfektion). Bei Trumps Einführung 2017 war es mit Jackie Evanco eine sog. ‚Classical-Crossover‘-Sängerin. Biden bot nun mit Lady Gaga eine routinierte, stadionerprobte Hymnen-Sängerin auf, die um deutliche Betonung, kräftige Intonation und Musical-Anwandlungen bemüht war, insgesamt das glatte Gegenteil einer Pop-Version, allerdings wies zumindest das eklektische Outfit Richtung ‚Pop-Surrealismus‘, so gesehen bekam der Gesangsstil doch seinen (Un)Sinn.
Wir wollen jetzt nicht Jimi Hendrix zum Vergleich bemühen (der trat ja nicht vor Regierungspolitikern, sondern bei seiner „Star-Spangled Banner“-Version vor alternativen Politikern in Woodstock auf), sondern die Gelegenheit zu einigen weniger naheliegenden Anmerkungen und Hinweisen rund um die Hymne nutzen. Bevor wir zu den Versionen von Soul- und Popsängerinnen kommen, ein kurzes alteuropäisches Zwischenspiel: Das Lied entstammt der humanistischen Anakreontik (vulgo: ‚Witz, Wein, Weib und Gesang‘), entsprechend mit anderem Text versehen („And long may the sons of Anacreon entwine, The myrtle of Venus with Bacchus’s vine“). Eine sehr kompetent klingende Version dieses wohl 1775 geschriebenen Lieds:
Nun aber zur Fassung mit dem national bedeutsameren Text: „And the rocketsʼ red glare, / The bombs bursting in air, / Gave proof through the night / That our flag was still there. / O say, does that star-spangled / banner yet wave / O’er the land of the free / And the home of the brave?“
Eine Herausforderung auch für den Ästhetizisten. Einige Freude aber – besonders beim letzten Vers – bereitet die anstrengungslos dargebotene, streckenweise sogar mimisch leicht ironisch oder vielleicht auch lässig untermalte Version von Whitney Houston (ab 1:05):
Fasziniert und erstaunt lässt einen die Interpretation Aretha Franklins zurück. Gelöst von Gospel, Blues und Soul entfaltet sie eine Schuldemonstration der Virtuosität, Isolierung und Zerdehnung. Eher ein (unbeabsichtigtes) Attentat auf die Hymne als ein patriotischer Akt:
https://www.youtube.com/watch?v=3pf5bR4iiNM
Eine sehr gelungene, privatere, verspieltere, angenehme Version bieten Chloe x Halle – und fantastisches Styling:
https://www.youtube.com/watch?v=v3CE5FJ3Wfc
Um aber im Geiste der so dringend verlangten ‚Unity‘ zu schließen. Wir wären erst ‚geheilt‘ und ‚versöhnt‘, wenn nächstes Mal auf dem Kapitol zur Amtseinführung dieses Stück der beiden aufgeführt würde: