Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt
von Eckhart Nickel
30.11.2020

»Allegro Pastell« und »Technophoria« verschreiben die Literatur als bevorzugtes Antidot zur Pandemie

Wissen Sie, was das ist, post pandemic joy? Ich auch nicht, obwohl mir der Begriff gerade eingefallen ist, um zu erklären, von was wohl ein Roman handeln könnte, der im Jahr 1 nach Corona spielt. Die Erleichterung, das Schlimmste der Pandemie wohlmöglich geschafft zu haben, würde sich bittersüß verbinden mit der Erkenntnis, dass sich auch die Freude selbst irgendwie nicht mehr so anfühlt wie zuvor. Es könnte sein, dass sich die Helden darin fühlen würden, als seien sie in einem Roman von Leif Randt gelandet und würden gerade den Wonnen der sogenannten post pragmatic joy frönen. Im Glossar, das der Autor seinem Sci-Fi-Roman Planet Magnon von 2015 zur Seite stellt, erklärt er den Begriff noch als „Techniken, (…) die höchstmögliche Lebensqualität gewährleisten“, zum Beispiel das Experimentieren mit der namensgebenden Substanz Magnon, einer Zukunftsdroge, die ermöglichen soll, das Widersprüchliche von Rausch und Nüchternheit aufzulösen.

Wir haben es also mit einem paradoxen Zustand zu tun. In einem Aufsatz für die Literaturzeitschrift Bella Triste fasst Randt den Begriff etwas konkreter für sein Schreiben als „nichts beschönigen“ oder „Dinge umarmen als das, was sie sind“: „Glorifizieren, ohne zu lügen. Trauern, ohne zu weinen. (…) Sich nichts vormachen. Aus den Gegebenheiten den bestmöglichen Zustand herausdestillieren. Und immer so weiter.“ Eine aktualisierte Variante des Phänomens ragt bis in sein neuestes Werk Allegro Pastell hinein, das noch Prä-Corona dieses Jahr erschien: „Vorauseilende Wehmut – ✊👻⛹️ bester Zustand“, so lautet das mit eher kryptischen Emojis (Faust, Gespenst, Handballer) versehene Motto von Tanja Arnheim, die Randt dem Buch voranstellt. Ganz so, als sei seine Heldin tatsächlich Autorin und ihr Erfolgsroman Panoptikum/Neu gerade erst erschienen. Der Webdesigner Jerome Daimler, zweite Hauptfigur von Allegro Pastell, kommt mit Tanja nach der Launch-Party für die mit Mobiltelefonen gefilmte Internet-Miniserie zu ihrem Bestseller zusammen. Was die beiden eint, ist eine hyperreflektierte Auffassung von Beziehung, deren Details sie stilgerecht und in Gemütsfarbtönen zusammenstellen. Ganz so, als sei auch die Liebe nur ein Arbeitsauftrag, der sich dementsprechend wie eins von Daimlers Projekten gestalten lässt, „weder kalt noch warm, wie ein Fiebertraum, der aber erstaunlich behaglich war.“ Der „beste Zustand“, den die beiden in ihrer Fernbeziehung zwischen Berlin und Maintal bei Frankfurt zu verwirklichen suchen, ist dann auch eher lauwarm und gleicht der perfekt kontrollierten Dosierung, mit der die zwei ihre Designer-Drogen von Stäbchen-Ketamin bis zu den neuesten Ecstasy-Sorten einzunehmen pflegen, gemeinsam oder räumlich getrennt, dann aber digital per sms und Messenger-Dienst den anderen teilnehmen lassend.

Dabei spiegelt der Zustand nur ein weiteres Paradox, das passenderweise im Niemandsland zwischen Zukunft (vorauseilend) und Vergangenheit (Wehmut) verortet ist. Der reinen Gegenwart also eigentlich, die aber im Fall von Tanja und Jerome durch das widersprüchliche Gefühl, bereits vor einem Erlebnis die Trauer über das baldige Vergehen desselben zu empfinden, gleichsam unerlebbar wird. Man fragt sich bald angesichts der Teilnahmslosigkeit nicht nur der Figuren, sondern auch der Sprache selbst (Lieblingssatz: Im Historischen Rathaus trug die Bedienung ein T-Shirt mit der Aufschrift Sex Mispels), ob wir es hier noch mit wirklichen Menschen zu tun haben, die beschrieben werden. Oder ob das alles eigentlich eher Versuchsanordnungen für die Zukunft der Menschheit sind, in der die Biografien von Menschen genauso smooth ausgepegelt und geplant verlaufen wie das Internet der Dinge in der Smart City der Zukunft unsere lebenswichtigen Funktionen steuert wie auch die der Häuser, in denen wir leben.

Genau davon handelt ein Roman, der auch gerade mitten in die Pandemie hinein erschienen ist, Niklas Maaks Technophoria. Und es ist nicht nur die Tatsache, dass der Held des Buchs, Turek, ein ehemaliger Architekturstudent, der für seinen Arbeitgeber Driessen smarte Siedlungen mitten in Berlin verwirklicht, als Dienstwagen Tesla fährt wie Jerome Daimler im Buch von Leif Randt, der sich den Wagen, weil er zu seinem modernen Lebensstil passt, immer mal wieder als Mietwagen nimmt. Auch finden wir in beiden Romanen eine Heldin mitten auf der Tanzfläche eines Clubs völlig in ihr Smartphone versunken, beim Tippen von Nachrichten, vom blauen Licht des Displays beleuchtet als eine Art Hologramm, wie es bei Niklas Maak heisst. Während Tanja Arnheim in einem Berliner Club namens Griesmühle im Ecstasy-Rausch von dem Mittanzenden „durch Blicke und Gesten“ dazu aufgefordert wird, ihr Handy wegzulegen, um endlich mal „im Moment“ anzukommen, anstatt „high auf das Tor zur Welt in ihrer Hand“ zu schauen, um „mit denjenigen zu kommunizieren, die sie am meisten mochte, auf die Weise, die sie am besten beherrschte“, steht Sara, Tureks Kollegin, ganz woanders herum. In Ruanda, an einem See direkt an der Grenze zum Kongo, tanzt sie in einer Hoteldisco mit Russen und Amerikanern gegen die schwüle Nacht an, weil Driessen, ihr Chef, sie zusammen mit Turek in den Urwald geschickt hat, um vor Ort einen Berggorilla als Paten für sein Konzept „Fair Coltan“ zu finden. Mit der Imagekampagne soll der Anschein erweckt werden, man praktiziere eine umweltverträgliche Variante des ethisch fragwürdigen Erzabbbaus, weil Coltan in Unmengen für das exzessive digitale Leben der Smart City benötigt wird.

Und damit sind wir auch bereits mittendrin in Technophoria, der Geschichte eines tragischen Heldens namens Valdemar Turek, der bereits in seinem Namen das Programm des Romans eingeschrieben trägt. Wie eine Oase am Ende des Wüstenwegs als Fernziel flimmert, leuchtet das Motiv der Flutung einer Sandsenke südwestlich von Alexandria namens Kattara von der ersten bis in die letzte Seite des Buches. Was diese aber bildlich bedeutet, ist ein Tal des Meeres, also das, was die französisch versierte Mutter von Turek als poetische Idee vor Augen hatte, als sie ihn wörtlich Val de Mar nannte. Im Nachnamen sind die zwei anderen Elemente der Geschichte zusammengeschmolzen, das Genie der Technik Turing und die Touareg, dieser letzte große erhabene Nomadenstamm, der noch nicht wie andere gezähmt sesshaft geworden ist und verwestlicht, sondern nach wie vor umherzieht. In der Wüste, die durch einen gigantischen See zu einer Art Überoase wird, die den Meeresspiegel der vom Klimawandel bedrohten Welt senkt und so die Küstenregionen rettet, reiht sich, weil das Mikroklima an den Ufern durch die Feuchtigkeit des Sees aus der Sandebene eine fruchtbare Landschaft mit viel Wolken und Regen entstehen lässt, eine Smart City an die nächste. Und Turek ist in diesem Plan der ruhelose Techniknomade, der das gigantische Projekt vorantreiben soll. Warum es zu dieser seit den späten Sechziger Jahren in Politik und Wirtschaft umhergeisternden Utopie dann doch nicht kommt, davon erzählt Technophoria bei aller Gegenwartsnähe, was die letzten Gadgets des wildgewordenen Digitalkapitalismus sowie dessen Jargon und Sprechweisen anbetrifft, auf ausgesprochen humorvolle und profunde Art am Beispiel seines sympathisch aus der Zeit gefallenen Helden. „Turek gehörte zu einer Generation, die SMS verfasste, welche Briefe ähnelten: sie hatten eine Anrede, dann wurde alles gesagt, was zu sagen war, dann ein Gruß und der Name; Sara, die zehn Jahre jünger war als er, war offenbar dazu übergegangen, alles, was in ihrem Kopf passierte, auch halb fertige Halbsätze, in Echtzeit zu versenden und den Empfänger dann an jedem weiteren Schritt bis zur Vollendung der Botschaft live teilnehmen zu lassen.“

Die leicht in die Zukunft versetzte Handlung zeigt uns ein Berlin, in dem bereits ein Viertel als vernetzte Prototypwohnsiedlung installiert ist, an dessen Perfektion aber Turek begründet zweifelt. Es läuft nämlich von der ersten Nacht, die er im sogenannten Testgebäude verbringt, das potentiellen Investoren immer wieder stolz vorgeführt wird, so ziemlich alles schief. Ein Stromausfall legt die ganze Smartness im Nu lahm, weil es plötzlich keine Funktionalität mehr gibt und auch die sonst allanwesende Apple Watch keine hilfreichen Daten mehr übertragen kann. Die Technik trägt in diesem vom Stil her filmisch erzählten Roman, der die futuristische Traurigkeit von Terry Gilliams Brazil mit dem absurden Slapstick von Blake Edwards The Party verbindet, vor allem in ihrem kolossalen Versagen fast menschliche Züge. Die autonomen Autos, Fahrzeuge ohne Fahrer mit Koalabärvisagen, verwechseln schwarze Koffer mit Schatten und überfahren sie, während sie vor gelben Plakaten abrupt bremsen, weil sie diese fälschlicherweise für einen Schulbus halten. Und wenn sie mal versagen, stehen sie trist da wie schuldbewusste Tiere, die etwas ausgefressen haben. Auch Mobiltelefone zeigen sich in ihrer aufdringlichen Kommunikation wie schlechte Freunde, die in schwierigen Momenten besser den Mund halten sollten, was ihnen aber nicht gelingt. „Als es gerade besser wurde, spülte sein Telefon mit einem donnernden höhnischen Gong (…) lauter Bilder von Aura aufs Display, du hast einen Rückblick, (…) und obwohl Turek wusste, dass ein Rückblick das Letzte war, was er in seiner Verfassung brauchen konnte, schaute er gebannt auf das, was ihm das Telefon als Diashow, mit einer einer sentimentalen Musik unterlegt, aus seinem Bildspeicher hervorzerrte.“

Aura ist Turek Freundin, die ihn kurz nach einem unglücklich endenden Portugal-Urlaub verlassen hat. Und während Turek auf seiner Odyssee als Adlatus von Driessen, dem machtbesessenen CEO hinter den Smart Cities, einmal um die halbe Welt reist, bis nach Afrika und Japan, wo er Roboter für die Hotels in den neuen Städten aussuchen und einkaufen soll, findet er ohne seine Freundin keine Ruhe. Sie hat ihn, wie er später herausfindet, ausgerechnet für eine neohippieske Anarcho-Existenz in einem südfranzösischen Anti-Technik-Camp verlassen. Das elegische Wesen, alleinerziehende Mutter mit Sohn, entzieht sich Turek immer wieder wie eine moderne Sphinx. Nur dass sie sich statt in die Pyramide in einen riesigen Kaschmirpulli bis über die Knie zurückzieht. Insofern ist auch ihr Name sprechend, denn sie repräsentiert in ihrer sich entziehenden Unnahbarkeit das, was Turek im Laufe des Buchs verloren geht, obwohl er nie danach zu suchen aufhört. Und entspricht so nicht von ungefähr dem Begriff der Aura, wie Walter Benjamin ihn geprägt hat: die Echtheit bzw. Einmaligkeit, hier der Existenz per se. Man kann sich denken, dass diese sehr heutig-morgige Geschichte, die mit eingestreuten Bildern den Gehalt an möglicher Wahrheit zusätzlich dokumentiert und damit eher auf W.G. Sebald verweist als auf den natürlich auch als Bezug auftauchenden The Circle von Dave Eggers, nicht gut ausgehen wird. Aber was genau mit diesem späten Wiedergänger von Walter Faber aus Max Frischs Technikkritik der Sechziger Jahre geschieht, soll nicht verraten werden. Nur soviel, es hat etwas mit seinem nahezu romantischen Verhältnis zu Serverfarmen zu tun, jenen digitalen Bibliotheken von Babel, die in Technophoria allanwesend sind.

Wie Allegro Pastell zeigt uns Technophoria eine aktualisierte Variante von post pandemic joy. Als ob beide Bücher schon mit einer stillen Vorahnung der Corona-Dekade geschrieben worden seien, erzählen sie davon, was kommen könnte: Liebe in den Zeiten von Corona. Die Möglichkeit sozial distanzierter Beziehungen und überwachten Lebens, um den seuchenfreien Gesundheitszustand optimal zu gewährleisten. Das neue Glücksversprechen wartet dabei entweder in einer nahezu traditionellen Familienkonstellation (Randt) oder dem einfachen Leben fernab der Zivilisationszentren. Illenberg, einer von Tureks jungen Kollegen bei Maak, kündigt und haut in die Pampa nach Argentinien ab, aus Furcht vor Aufständen, Krieg und Seuchen in den westlichen Metropolen.

In einer Umfrage der Financial Times Weekend antworteten kreative Zeitgenossen, auf was sie sich nach dem Lockdown am meisten freuen würden: „Die Farbe von schwachem Tee in einem Straßencafé“ stand da, das „Gefühl, eine Person in einer Menge zu sein“. Nur Richard Ford wagt eine Frage, die einhergeht mit ausgeprägter artistischer Bescheidenheit. Curb your enthusiasm lautete der Name einer berühmten Fernsehserie von Seinfeld-Schöpfer Larry David. Ford schreibt: „Ist weniger nicht gut für uns? Ist es nicht in Wirklichkeit immer mehr? Vielleicht ist lockdown eigentlich der natürliche Zustand des Schriftstellers.“ Die zwei Romane beweisen, dass es vor allem die Literatur ist, die uns dabei helfen kann, einen klareren Blick auf die Gegenwart um uns herum zu werfen.

Allegro Pastell zeigt die Totalimmersion des Privaten anhand der Idiosynkrasien relativ teilnahmsloser Millenials, für die, abgesehen von ein wenig Liebeskummer hier und da „Magentrouble“ wegen „Erasmusbieren“ schon zum Unangenehmsten gehört, was man sich vorstellen kann. Technophoria spielt mögliche Wege für die technologischen Umwälzungen unserer Zeit durch und findet dabei eine gelungene literarische Form, um den neuen Glauben an die Beste aller Welten als Aufgabe von Selbstbestimmung zugunsten bequemer Digital-Überwachung zu sezieren. Wir haben die Wahl: Rückzug in die perfekt temperierte Hygge-Welt oder Flucht nach vorne in eine Weltumbau-Utopie, die gerade wegen Corona unter völlig anderen Vorzeichen an Aktualität gewinnt. Beide Romane enden mit elektronischen Nachrichten, gesendet von iPhones oder Laptops. Tanja Arnheim schreibt bei Randt an Jerome: „Ich vermute, unsere Leben sind noch lang. Lass uns das als Chance begreifen.“ Bei Maak hat Sara das letzte Wort. Es ist ein Graffiti: „Gott ist ein Chaot“.

Schreibe einen Kommentar