Film-Streaming
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 46-51]
Eine Bekannte von mir, Geschäftsführerin eines Multiplexkinos, hatte im Sommer des vergangenen Jahres wenig Grund, die Hitzewellen zu genießen. Sonnige Tage, so erzählte sie mir mit dunkler Miene, ließen sich direkt an sinkenden Besucherzahlen ablesen. Nur ein Regentag ist ein guter Tag für Kinobetreiber/innen. Filmtheater sind meteorologisch sensible Einrichtungen, und zu den Opfern des Klimawandels wird man künftig also auch die Kinobranche zählen dürfen.
Ihre Klage erinnerte mich an eine Unterscheidung, die Jean-Luc Godard in seiner »Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos« vorgeschlagen hat. Es gebe, so Godard, zwei Arten von Industrie. Zum einen die »Tagesindustrie«, die auf der äußeren Bewegung der Körper beruhe: »Die Gesten der Arbeiter, die Gegenstände machen, wenn sie ein Bett zusammenbauen oder ein Auto, wobei der Körper in Betrieb ist und in gewisser Weise ausgenutzt wird«. Und zum anderen die »Nachtindustrie«: »Die Industrie, bei der das Innere des Körpers in Betrieb ist. Dazu gehören die Lüste, die Psychologie, die Nerven, die Empfindungen, die Sexualität. Industrien wie Spiele, Drogen, Tourismus, Sport und sowas, wo der Umstand ausgebeutet wird, dass man aus sich selbst heraus möchte.« Natürlich gehören für Godard auch die »Mafia« der Filmindustrie und des Fernsehens dazu. Die Tagesindustrie vereinnahmt das Äußere, die Nachtindustrie das Innere unserer Körper und rechnet es zu ihren Produktivkräften.
Aber während ein Filmtheater immer noch auf unsere Bereitschaft angewiesen ist, unsere Körper in Richtung Kinosessel zu bewegen (anstatt an einem warmen Sommerabend zum Beispiel in Richtung Biergarten oder auf die Wiese am Fluss), unsere äußere Bewegung also nicht gänzlich ignoriert werden kann, haben die Video-on-Demand-Dienste, deren Voraussetzung es ist, dass man zu Hause und bei sich bleiben möchte, ihre Konkurrenz an ganz anderer Stelle ausgemacht.
Niemand kennt die Herausforderungen des Streamings besser als Netflix-CEO und -Mitbegründer Reed Hastings, der vor zwei Jahren auf der »Summit«-Konferenz in Los Angeles für seine Angestellten eine Lektion in Sachen Nachtindustrie parat hatte. Anders, als die Netflix-Belegschaft oft vermuten würde, stehe man nicht im Wettbewerb mit HBO, Amazon oder Fox, so Hastings. Denn jeden Abend stelle sich schließlich dieselbe Frage: Was tun, wenn einen die Tagesindustrie entlassen hat? »Es gibt so vieles, was man tun kann, um sich zu entspannen, um herunterzukommen, ausgehen, sich treffen – und mit all dem stehen wir im Wettbewerb«. Zu den Konkurrenten von Netflix gehören aber nicht nur Godards »Sexualität, Spiele, Drogen, Tourismus, Sport und sowas«. Der Endgegner der digitalen Unterhaltungsindustrie ist niemand anders als der Schlaf selbst, wie Netflix per Twitter verkündet hat (»Sleep is my greatest enemy«, @netflix, 17.4.2017). Oder, in Hastings markigen Worten: »Wir kämpfen mit dem Schlaf. Und wir gewinnen.«
130 Millionen Netflix-Abonnent/innen weltweit, die dafür zahlen, dass sie nicht mehr in die Betten kommen, die sie tagsüber zusammengebaut haben (geschweige denn in Autos steigen, um sich auf den Weg ins Kino oder den Biergarten zu machen)? Immerhin, zu manchen Nebentätigkeiten will der ehemalige DVD-Verleihhändler durchaus ermuntern. Auf seiner DIY-Website makeit.netflix.com stellt das Unternehmen Bastelanleitungen bereit: Zum Beispiel für einen Bewegungssensor, der, in ein Paar Socken eingebaut, dem System rückmeldet, wenn man während des ›binge watching‹ eingeschlafen sein sollte. Dann wird das Streaming unterbrochen und nach dem Aufwachen kann man genau dort weitersehen, wo man den Faden verloren hatte (makeit.netflix.com/projects/socks). Oder der »Netflix Personal Trainer«, in dem Netflix-Figuren Motivationstipps von sich geben und das den Stream unterbricht, wenn man im Workout mal eine Pause einlegt. So wird sogar die äußere Bewegung des Körpers in den Dienst der Nachtindustrie gestellt. (Diese Idee lässt sich weiterspinnen: Warum nicht Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung auf einem Laufband ausnutzen, um eine Folge »Unbreakable Kimmy Schmidt« vor- oder zurückzuspulen?)
Andererseits kann Hastings selbstbewusste Ansage nicht davon ablenken, dass sich im vergangenen Jahr die anderen Mitspieler der Nachtindustrie – wenn auch mit einiger Verspätung – auf den Weg gemacht haben, Netflix um zahlende Zuschauer und diese um ihren Schlaf zu bringen. Als größtes und wertvollstes Medienunternehmen der Welt hat die Walt Disney Company im August 2018 ihren Handschuh in den Ring geworfen und angekündigt, seine Partnerschaft mit Netflix zu beenden und bestehende Lizenzverträge nicht mehr zu verlängern. Stattdessen will das Unternehmen Ende dieses Jahres mit seinem eigenen Streamingdienst »Disney+« online gehen. Serien und Filme, die dem Maus-Konzern gehören, werden dann nur noch über die firmeneigene Plattform verfügbar sein. Durch Zukäufe in den vergangenen Jahren gehören dazu unter anderem die Animationsfilme von Pixar, die »Star Wars«-Reihe mit all ihren Spin-Offs, das komplette Marvel Cinematic Universe und, nach einer Bieterschlacht mit dem Kabelnetzbetreiber Comcast, seit Anfang 2019 auch die Filme und Serien der »21st Century Fox«.
Im Juni 2018 wurden WarnerMedia (ehemals: TimeWarner) vom Telekommunikationskonzern AT&T übernommen, im Oktober gab das Unternehmen bekannt, ebenfalls 2019 einen eigenen Streamingdienst starten zu wollen – der dann wohl vor allem die Titel des Bezahlsenders HBO (»Game of Thrones«, »Westworld«), von DC Entertainment (»Justice League«) und von Warner Bros. (die »Harry Potter«-Filmreihe) exklusiv vertreiben wird. Auch Comcast soll Pläne haben, in das ›direct to customer‹-Geschäft einzusteigen, und kann mit NBCUniversal die Filme der DreamWorks Animation (»Kung Fu Panda«, »Shrek«) und eine Reihe erfolgreicher TV-Formate anbieten.
Auffällig zurück gehalten hat sich bislang das Silicon Valley. Aber auch Amazon, nach Börsenwert immerhin ungefähr fünf Mal so groß wie der Unterhaltungsriese Disney, tritt mit den »Prime Originals« als Produzent von Unterhaltungsserien auf. Alphabet (Google) wiederum bietet »YouTube Premium«-Kunden an, auf die Eigenproduktionen des Unternehmens (»YouTube Originals«) zugreifen zu können. Auch Facebook hat einen Video-On-Demand-Dienst mit Eigenproduktionen gestartet (»Facebook Watch«), der gegenwärtig allerdings nur in den USA zugänglich ist.
Was folgt daraus? Wenn diese Medienunternehmen erstens ihre Pläne umsetzen und sich dauerhaft am Markt behaupten können (was nicht ausgemacht ist), dann wären Produktion, Verleih und Aufführung von Filmen und Serien – zumindest im Mainstreambereich – wieder jeweils in einer Hand. Mit anderen Worten: Die digitalen Unterhaltungskonzerne des 21. Jahrhunderts schließen an die ›vertikale Integration‹ an, das ökonomische System, das es den großen Hollywood-Studios bis 1948 erlaubte, den Markt unter sich aufzuteilen. Nur, dass das ›pay per view‹-Modell (Eintrittskarten ins Kino) durch ein Abonnement bzw. eine Flatrate ersetzt wäre. Anders als in der Musikbranche, wo Streaming-Dienste in der Regel Alben von allen Mainstream-Labels anbieten, wäre das Angebot für Video-Streaming also zergliedert und Kund/innen gegebenenfalls darauf angewiesen, Abonnements mit mehreren Anbietern abzuschließen. Da diese Abos aber in der Regel monatlich kündbar sind, muss die langfristige Kundenbindung über die Inhalte erfolgen. Das bedeutet: Serielle Formate, Filmzyklen oder sich (zwischen Kino, Fernsehen, Comics und Games) ausbreitende ›Universen‹ werden zunehmen. Man setzt auf das, was sich zuvor schon als erfolgreich erwiesen hat. Disneys aktuelle Strategie, alte Zeichentrick- als digital gepimpte Realfilme neu aufzulegen, von »Jungle Book« bis »Dumbo«, gibt diese Richtung vor.
Aber es geht noch genauer. Denn zweitens erlaubt die Streaming-Technologie eine völlig neue Form der Zuschauerrückmeldung. Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser hat auf einer Konferenz Ende 2018 den Vorschlag gemacht, dass die Filmhistoriografie sich künftig um zwei Sorten von Bildern kümmern sollte: Den »images to lie with« und den »images to act with«. Zu den ersteren gehört der gesamte Bereich der fiktionalen Bilder, also die Unterhaltungsindustrie oder mit Godard: die »Nachtindustrie«. Zu letzteren Bildern sind die (mit Harun Farocki) »operativen« Bilder zu zählen: Die Simulationen und Diagramme in den Naturwissenschaften, die Visualisierungen des Militärs und der Sicherheitsdienste oder die Bilder, die überhaupt nicht mehr von Menschen, sondern nur noch von autonomen Maschinen (Industrieroboter, Fahrzeuge, Künstliche Intelligenz) ausgewertet werden. Während die einen Bilder im Modus des ›als ob‹ begriffen werden, gelten die anderen Bilder ›als‹ etwas: als Instrumente und Werkzeuge, die ein planvolles Handeln in der Welt ermöglichen.
Der Clou liegt nun gerade darin, dass die Bilder der Streaming-Dienste nicht einem, sondern beiden Bildtypen zugleich zugehören: Es sind Bilder der Unterhaltung und Bilder, mit denen eine Industrie ihre eigene Produktion steuert. Schließlich stehen weltweit unzählige Server bereit, um die Videodateien ›on demand‹ und ohne Datenstau oder ›Buffering«‹ (siehe Urs Stäheli in Heft 12 von »Pop«) nicht nur zeitnah an die Clients (Computer, Smartphones, Fernseher, Konsolen usw.) der Kunden auszuliefern, sondern um diese Auslieferung zugleich detailliert zu protokollieren: jede Unterbrechung, jeden Wechsel des Programms, jeden Druck auf die Pausentaste, jede Nutzung der Vorspulfunktion. Was es wiederum den Streaminganbietern erlaubt, im ›direct to customer‹-Geschäft sehr genau auf die Wünsche und Vorlieben der Kunden einzugehen.
In letzter Konsequenz könnte das heißen: Nicht nur können Netflix & Co. ihren Kund/innen auf der Website und in der App personalisierte Empfehlungen machen (genauer: eine Auswahl von Titeln vorschreiben). Sie können, je nach Rückmeldung, auch die Produktion von Filmen und Serien gewissermaßen in Echtzeit anpassen, weil sie nicht nur rückgemeldet bekommen, welche Filme und Serien wie oft abgerufen werden, sondern auch, welche Szenen immer wieder abgespielt werden und welche zum Abbruch des Streaming führen. Und dieses Wissen kann und wird in die Entscheidungen der Filmproduktion eingehen. In diesem kontrollierten Feedback-Loop aus Produktion, Sendung und Empfang wird uns die Nachtindustrie in den kommenden Jahren noch um so manchen Schlaf bringen.