Demonstrationen, Generationen
von Miriam Zeh
29.9.2020

Protest-Festivals in Klassenfahrt-Anmutung

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 107-111]

Seit einiger Zeit ist in meinem Freundeskreis aus gut ausgebildeten Großstadtbewohnern um die 30 ein neues Hobby auf dem Vormarsch: das Demonstrieren. Am Samstagvormittag versammelt man sich neuerdings wieder häufiger auf den Straßen von Berlin oder Köln und marschiert abwechselnd gegen Nazis, gegen Mieten, gegen Kohle oder gegen Horst (rund 6.300 Menschen demonstrierten im September 2018 in Frankfurt unter dem Motto »Sei kein Horst! Seebrücke statt Seehofer« gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und einen geplanten Besuch des Bundesinnenministers). Ich habe Freunde, die am Wochenende hunderte Kilometer in Reisebussen und Regionalzügen zurücklegen, um an einem bestimmten Ort ihren politischen Forderungen mit physischer Präsenz solidarischen Nachdruck zu verleihen. Das ist sicherlich eine milieuspezifische Beobachtung. Bereits 2012 stellte das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung mit Blick auf die Proteste gegen Stuttgart 21, die deutsche Occupy-Bewegung oder den Hamburger Bildungsstreit fest, dass die Teilnahme an unterschiedlichen Formen der politischen Partizipation hierzulande mit der Verfügbarkeit von Einkommen und Bildung steigt: »In Deutschland führen soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung nicht zu einer gesteigerten Bereitschaft für Protest und politisches Engagement, sondern zu verstärkter Apathie.« 

Doch selbst wenn man nicht am Ort des Geschehens war, kam man um zwei Großveranstaltungen im Herbst letzten Jahres kaum herum: Unter den Hashtags #hambibleibt und #wirsindmehr formierte sich der Widerstand auch in Sozialen Netzwerken weit über die lokalen Epizentren des Protests im äußersten Westen und Osten der Bundesrepublik; in vielen Städten fanden außerdem Solidarisierungs-Demos statt. Den Kern der Bewegungen bildeten aber physische Formen des Einspruchs vor Ort, die in ihrer Häufung und Hartnäckigkeit in einer Gegenwart, in der ständig alles digitaler und vereinzelter werden soll, auffällig waren. Rund 50.000 Demonstranten versammelten sich nach Angaben der Veranstalter allein am 9.10.2018 im Hambacher Wald. Von 65.000 Teilnehmern sprach man einen guten Monat zuvor beim Protest-Konzert gegen Rechtsextremismus in Chemnitz. Die beiden Events waren dabei nur die Höhepunkte einer ganzen Reihe von Demonstrationen. Im Rheinland richteten sie sich gegen die Rodung eines noch 200 Hektar großen Mischwaldes durch den Energieversorgungskonzern RWE – allerdings nur vordergründig. Bereits seit Beginn der Bürgerproteste in den späten 1970er Jahren galt Hambach als Exempel. Von einem »Wald mit Symbolgehalt« singt deshalb auch der Kabarettist Bodo Wartke in seinem vielgeklickten (und reichlich betulichen) Protestsong von 2018. Denn zum Sinnbild für den Widerstand der Anti-Kohlekraft-Bewegung, zur Utopie für ein nachhaltiges Miteinander von Mensch und Umwelt, zum Protest gegen den Klimawandel und für eine globale Energiewende wird das seit sechs Jahren besetzte Waldstück gern stilisiert. Auch in Chemnitz ging es bald um mehr als die ausländerfeindlichen Nachwehen einer gewalttätigen Auseinandersetzung am Rande eines sommerlichen Stadtfestes: um wiedererstarkenden Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland, um die Zukunft und das Personal der großen Koalition, um Migration und Flucht als weltweite Herausforderungen. Auch deshalb wurden aus den anfänglich lokalen Protesten bundesweite, weil die auf den ersten Blick ortsspezifischen Anlässe eine systematischere, nationale oder gar globale Ausrichtung erfuhren. 

Betont wurde in der Berichterstattung über beide politisch eher linksliberalen Demos immer wieder der Unterhaltungscharakter dieser Proteste. »Was hier stattfindet, ist längst keine Demonstration mehr, es ist ein Happening«, steht in einer Reportage der »Süddeutschen Zeitung« aus dem Hambacher Wald. Das ist natürlich Blödsinn. Bei Demonstrationen dieser Größenordnung ist wenig spontan oder improvisiert. Die Veranstaltungen müssen angemeldet, angekündigt, organisiert und finanziert werden. Das gilt auch für die sog. »Waldspaziergänge« in Hambach. Die Selbstbezeichnung suggeriert zwar eine spontane Zusammenkunft forstaffiner Flaneure, doch handelte es sich eigentlich um Events in einem klassischen kultursoziologischen Sinne. Demnach definiert sich ein Event durch Episodenhaftigkeit, Einzigartigkeit, Gemeinschaftlichkeit sowie durch mehrschichtige Erlebnisdimensionen – nachzulesen etwa bei Gerhard Schulze. Events wie in Hambach sind sorgfältig geplante Ereignisse.

Im Gegensatz zu den meisten Musikfestivals sind die genannten Demonstrationen freilich keine kommerziellen Veranstaltungen. (Diesen kulturpessimistischen Beigeschmack hat das ›Gespenst Event‹ ohnehin nur im deutschen Sprachraum.) Treffender erscheinen zur Beschreibung der Atmosphäre dieser Event-Demos die Vergleiche der »Zeit«. Sie schreibt über Chemnitz: »Die Stimmung erinnert an Festivals und Klassenfahrten«. Als gemeinschaftsstiftendes Element fungierte in Chemnitz nämlich allem voran die Musik. Sie stellt von Vormärz bis Woodstock eine gängige Form des Protests dar, und zwar für die verschiedensten politischen Positionen. Denn nicht nur Umweltschützer tanzen, auch Nazis feiern Festivals. Etwa 1.000 von ihnen (bei 3.000 Gegendemonstranten) kamen beispielsweise im April letzten Jahres, pünktlich zu Adolf Hitlers Geburtstag, beim »Schild und Schwert«-Festival im sächsischen Ostritz zusammen. Angemeldet war die Veranstaltung auch als politische Kundgebung, doch trotz großen medialen Interesses blieb hier die Semantik der ›Protestparty‹ ausgespart. Stattdessen akzentuierte die »Zeit« mit dem Wort vom kurzzeitigen »Ausnahmezustand« die Bedrohung, nicht die Unterhaltung.

Ganz anders, wie gesagt, in Chemnitz auf dem fröhlicheren Protest-Festival in harmloser Klassenfahrt-Anmutung. Vor allem die letzte Verniedlichung mag nicht zufällig gewählt sein. Denn die Musik, die in Chemnitz gespielt wurde, ist vor allem wegen des Durchschnittsalters ihrer Fans einer genaueren Beobachtung wert. Das Line-up des Gratis-Konzertes #wirsindmehr ging auf den Kraftklub-Sänger Felix Brummer (Jahrgang 1989) zurück, der die Veranstaltung mit Unterstützung des Chemnitzer Stadtmarketings organisierte. Mit Rapper Marteria, den Hip-Hop-Formationen K.I.Z. und SXTN sowie der Punkband Feine Sahne Fischfilet waren auffallend viele Musiker derselben Generation vertreten (und Campino quasi als Alters- und Ehrenmitglied). Nach einer Erhebung des Deutschen Musikrates machen diese aufgezählten Twenty- und Thirty-Somethings v.a. Musik für Altersgenossen und Hörer, die jünger sind als sie selbst – Hip-Hop, Rap und elektronische Tanzmusik gehören zu den beliebtesten Musikrichtungen der 19- bis 29-Jährigen. Natürlich werden Menschen unter oder um die 30 nicht die absolute Mehrheit der Demonstrierenden gestellt haben, weder in Chemnitz und erst recht nicht in Hambach. Auf politischen Demonstrationsveranstaltungen lief im vergangenen Jahr allerdings immer häufiger ›ihre‹ Musik. 

Im Mai 2018 etwa organisierte die Berliner Klubszene unter dem Motto »AfD wegbassen« einen Techno-Umzug, an dem sich laut Angaben der Veranstalter 70.000 Gegner der rechtspopulistischen Partei beteiligten (anlässlich eines angekündigten Aufmarschs von AfD-Anhängern hatten auch verschiedene politische, jüdische und muslimische Organisationen, Parteien und Gewerkschaften zur Gegendemonstration aufgerufen). Nicht nur aufgrund der gewählten Strecke über die Siegessäule zur Straße des 17. Juni erinnerte die Veranstaltung an die einstige Berliner Loveparade. Auch Musik und Altersstruktur dürften auf beiden Events vergleichbar gewesen sein. Deutlich geschärft ist 2018 allerdings das politische Profil der Proteste. Bei der inzwischen bekanntlich eingestellten Loveparade war man noch, wie es idealisierend bei Rainald Goetz heißt, »selig im Einen eines Gemeinsamen« verschwunden, in der »Kirche der Ununterschiedlichkeit«. Das damals wie heute banal anmutende Motto »Friede, Freude, Eierkuchen« hatte Dr. Motte als Leitspruch der ersten Loveparade im Jahre 1989 ausgerufen. Im Gegensatz zu diesem eher weichgespülten Engagement besaß der Protestzug von 2018 mit der AfD nun das, was die Loveparade nie wollte: einen ausgewiesenen politischen Gegner, gegen den es dezidiert Stellung zu beziehen galt.

Noch zu Beginn des Jahrtausends wäre diese unmissverständliche Positionierung in einem derartigen Rahmen wohl kaum möglich (oder: nötig?) gewesen. Denn damals sei die politisch verhaltene Loveparade »die einzige Demonstration« gewesen, »zu der unsere narzißtische Generation noch in der Lage war« – wie Florian Illies im Jahr 2000 über die zwischen 1965 und 1975 Geborenen schrieb. Für die bequemen Hedonisten seiner »Generation Golf« hätten Marken und Mode eine politische Haltung und den Wunsch nach Umsturz ersetzt. Allein im Konsum fänden die Teenager der 1980er Jahre deshalb noch generationskonstitutive Momente. Den titelgebenden VW Golf erkennt der damals 28-jährige »Faz«-Redakteur ebenso als prägendes Sehnsuchts-, Identifikations- und Standardgebrauchsding der beschriebenen Generationsgestalt an wie Playmobil und Ikea-Möbel. Für seine Generation sind es gerade nicht die zeitgeschichtlichen politisch oder global bedeutsamen Kollektivereignisse, die prägend sind: der NATO-Doppelbeschluss etwa, der Golfkrieg oder Tschernobyl. »Mit den Kriegen in Bosnien und im Kosovo wurde uns dann endgültig klar, daß die Welt zu kompliziert war, als daß man noch für oder gegen irgendetwas sein konnte. Auch das rote Aids-Schleifchen heftete man sich vor allem deshalb ans Revers, weil es so gut auf der dunkelgrünen Barbour-Jacke aussah.« Neben den vielen kleinen Konsumgegenständen und dem Society-Klatsch seiner Jugend kommt Illies als Demonstration und einzigem Massenevent seiner Generation deshalb nur ein Techno-Rave in den Sinn. Das ist bezeichnend. Denn die Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss 1982/83, das Anti-WAAhnsinns-Festival gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf 1986 oder die Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit 1992 mobilisierten hunderttausende Bürger der Bundesrepublik – nur eben nicht die Anfang der 80er Jahre um die 20- und Anfang der 90er Jahre um die 30-Jährigen. Illiesʼ »Generation Golf« protestierte nicht gern. Sei es, wie ihr (laut Illies) »großer Erzieher« Harald Schmidt bemerkte, weil sie es zu kalt dafür findet oder, wie es Stefan Raab sagte, weil es blöde ist, nur gegen etwas zu sein.

In einer Hinsicht hätte Stefan Raab auch heute damit Recht. Wer protestiert, stellt sich zunächst einmal gegen etwas. Wer protestiert, ist aber zugleich immer auch für etwas. Das lateinische ›testari‹ bedeutet, für etwas Zeugnis abzulegen, für etwas einzustehen. Protest bringt zumindest indirekt Maßstäbe von Gerechtigkeit, Fairness, Zumutbarkeit oder Würde zur Geltung. Er ist nie reine Abwehr, sondern verweist, wenn auch mitunter implizit, auf die Möglichkeit von und den Wunsch nach anderen Zuständen. Den heutigen demonstrationsfreudigen Twenty- und Thirty-Somethings muss die von Schmidt und Raab artikulierte zynisch-saturierte Haltung zur Welt völlig überholt vorkommen. Zwar zählt, wer im Jahr 2018 um die 30 ist, nach gern bemühter Typologie zur »Generation Y«, die gemäß des Soziologen Klaus Hurrelmann nur ›im Stillen‹ politisch aktiv werde. »Der 21-jährige Maschinenbaustudent findet es wichtig, für seine Überzeugungen auf die Straße zu gehen – und war doch noch nie auf einer Demonstration«, behauptet Hurrelmann noch 2014. Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese Diagnose vier Jahre später noch gültig sein kann oder überhaupt jemals Gültigkeit besaß. Bereits 2013 veröffentlichte der damals 32-jährige Kulturjournalist Florian Kessler eine Art Gegenstück zu Illiesʼ »Generation Golf«. Das engagiert-programmatische Sachbuch »Mutbürger« enthielt sowohl eine teilnehmende Beobachtung als auch die Anleitung zu einem Phänomen, das Kessler »die neue Kunst des Demonstrierens« nennt. Es zeichnet sich durch eine Vielzahl verschiedener Ansätze und Ideen aus. Die Prämisse des Manifests war allerdings unmissverständlich Kesslers Zeitdiagnose: »Wir erleben genau jetzt den Augenblick, in dem das Demonstrieren und Protestieren unsere gesamte Gesellschaft von Grund auf verändert.« Weniger pathetisch gesprochen, bildete diese Beobachtung auch den Ausgangspunkt des vorliegenden Textes: Seit der zweiten Dekade des neuen Jahrtausends ist in deutschen Großstädten wieder eine verstärkte Bereitschaft zum lustvollen, gern gemeinschaftsstiftend mit der ›eigenen‹ Musik unterlegten politischen Protest zu beobachten und herrscht seither ungebrochen – nicht nur, wenn ich in meinen eigenen Freundeskreis blicke. 

Zwei Tage vor den hessischen Landtagswahlen im Herbst 2018 spielte der österreichische Cloud-Rapper Yung Hurn ein ausverkauftes Konzert in der Frankfurter Batschkapp. Am Zigarettenautomaten fragte mich ein Mädchen in Schlagleggins und bauchfreiem Samtbustier, ob ich schon 18 sei. »Dann geh bitte am Sonntag wählen, nur halt nicht die AfD!« Das Konzert war zu diesem Zeitpunkt bereits vorbei und schwere Männer in Security-Westen drängten das Publikum zu Garderobe und Ausgang. Ich wüsste nicht, dass der eher als hyperironische Kunstfigur bekannte 23-jährige Hurn sich schon einmal öffentlich politisch positioniert hätte – mit Protestsongs jedenfalls ist er nicht bekannt geworden. Und ich habe das Mädchen leider auch nicht mehr fragen können, ob sie schon einmal auf einer Demonstration war oder Maschinenbau studiert. Aber vielleicht begegnen wir uns ja demnächst noch einmal am Samstagvormittag auf den Straßen von Frankfurt. Die AfD wurde nämlich mit 13,1% aller Stimmen in den hessischen Landtag gewählt.

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