Neue Pläne zum digitalen Urheberrecht
von Klaus Nathaus
24.9.2020

Streit um die Lizensierung von Content-Nutzung

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 96-101]

Celina ist jetzt aber mal so richtig sauer. Die junge YouTuberin lädt mich, den 241.359sten Zuschauer ihres Posts vom 3. November 2018, ein, gemeinsam mit ihr ein am Tag zuvor hochgeladenes Video des Kanals »Wissenswert« zu schauen, das uns beiden erklärt, dass es YouTube im nächsten Jahr nicht mehr geben wird. Hunderttausend Kanäle mit Schminktipps, ›Let’s Plays‹ und Sprachkursen, egal wie groß und beliebt, würden gelöscht, heißt es in dem Beitrag. Die Meinungsfreiheit, die YouTube seinen Nutzerinnen und Nutzern erst eröffnet habe, werde beseitigt. In der Öffentlichkeit kämen nur noch Fernsehanstalten und Zeitungen zu Wort, und YouTube werde zu einer bloßen Mediathek reduziert. »Alles, was wir konsumieren werden, wird wieder von Profis gemacht«, prophezeit die »Wissenswert«-Sprecherstimme. Nach Celinas Ansicht wird es gar noch schlimmer. Sie erwartet Massenselbstmorde und Krieg, wenn nicht Artikel 13, der Stein des Anstoßes, in letzter Minute verhindert werde. Diese ihrer Meinung nach sinnlose, ja böswillige Maßnahme von »Europa« zerstöre YouTube, weil anstelle der User nun Plattformen für die Verbreitung geschützter Inhalte haften sollen. Dies habe zur Folge, dass YouTube nutzergenerierte Inhalte mit der größten Zurückhaltung behandeln und beim Upload herausfiltern werde, um Urheberrechtsklagen zu vermeiden. Splenixʼ »Star Wars«-Parodie (378 views), Superfruits Interpretationen von Beyoncé-Hits (16.994.928) und oneboredjeus Kreuzung aus Clean Bandits »Rather Be« und Earth, Wind & Fires »September« (1.445.276) wären unter diesen Bedingungen nie ins YouTube-Programm gelangt.

Celina war nicht die einzige, die im November 2018 das Ende der Memes und Mashups befürchtete, nachdem das EU-Parlament am 12. September den »Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt« angenommen und den Vertretern der Mitgliedsstaaten und der Kommission zur Beratung vorgelegt hatte. Eine Vielzahl von YouTubern auf der ganzen Welt teilte die Aufregung der jungen Deutschen und engagierte sich mit Videoaufrufen gegen Artikel 13 in der Kampagne zur »Rettung des Internets«. Diese war zuletzt noch einmal von dem Internet-Dienstleister selbst intensiviert worden, als YouTube-Geschäftsführerin Susan Wojcicki am 22. Oktober den »dear creators« einen Brief schickte, der ihnen die Bedrohung ihres Lebensunterhalts und ihrer Möglichkeit, sich der Welt mitzuteilen, vor Augen führte.

Aber auch außerhalb der Vlogger-Community wurde scharfe Kritik gegen die Urheberrechtspläne der EU geäußert, die neben der Haftung von »online content sharing service providers« wie YouTube (Art. 13) eine Gebührenpflicht für die Nutzung von Nachrichtenclips bzw. -ausschnitten zur Verlinkung vorsieht (Art. 11). Bereits im Juni, im Vorlauf zum ersten, zunächst erfolglosen Anlauf zur Annahme der neuen Direktive im Europaparlament, meldeten sich knapp einhundert prominente Softwareentwickler und Web-Pioniere zu Wort, darunter der als Erfinder des World Wide Web bekannte Tim Berners-Lee und der Wikipedia-Mitbegründer Jimmy Wales. In einem offenen Brief an den EU-Parlamentspräsidenten bezeichnen sie den Artikel 13 als einen Schritt zur Transformation des Internets von einer offenen Plattform zu einem Werkzeug der automatisierten Überwachung von Nutzern, weil er die Installierung von Content-Filtern erzwinge.

Auch wenn die schrillsten Klagen über das vermeintliche Ende des Internets langsam verklingen und die Ratifizierung des Reformentwurfs durch das EU-Parlament, die Kommission und die Vertreter der Mitgliedsstaaten noch bevorsteht, waren die Annahme und die Diskussion um den Vorschlag mit seinem Artikel 13 ein signifikantes Ereignis für die Pop-Wirtschaft im vergangenen Jahr. Zunächst einmal warf die Episode ein Schlaglicht auf das Machtungleichgewicht zwischen YouTube und den Rechteinhabern, das der Artikel 13 ausgleichen soll. Augenblicklich sind Plattformen wie YouTube in Europa durch die e-Commerce-Direktive von 2000 und in den USA durch den Digital Millennium Copyright Act von 1998 als »safe harbors« vor Haftungsklagen sicher. Das bedeutet in der Praxis, dass Urheber und Verleger von Musikstücken und Filmen selbst die unerlaubte Verbreitung ihrer geschützten Inhalte bei YouTube bemerken müssen und nur die üblicherweise anonym bleibenden Nutzer des Dienstes gerichtlich zur Verantwortung ziehen können. YouTube nimmt auf Anzeige wohl den fraglichen Upload herunter, verhindert aber nicht, dass derselbe Inhalt von einem neuen Nutzerkonto gleich wieder hochgeladen wird. YouTube muss sich darum nicht kümmern, denn es ist als »safe harbor« nicht haftbar. Zugleich aber ist das Unternehmen alles andere als eine neutrale Plattform. Denn die Google-Tochter verkauft bekanntermaßen werbenden Unternehmen die Aufmerksamkeit eines Publikums. YouTube berechnet diese anhand von Klickzahlen, Verweildauer auf dem Video sowie sicher noch einigen anderen Daten, über deren Erhebung, Auswertung und Speicherung kritische Konsumenten gerne mehr wüssten. Das Internet mag einmal die freie und offene Prärie gewesen sein, die von der Semantik der erwähnten Web-Pioniere beschrieben wird. Doch mittlerweile ist sie längst eingezäunt und wird auf dem Gebiet, auf dem sich Vlogger bewegen, von der Werbeindustrie bewirtschaftet.

Bei diesem Geschäft fällt auch etwas ab für Kreative wie Celina. Diese kommen dank YouTubes niedriger Zugangsschwelle in den Dunstkreis einer Kulturindustrie, die ihnen vor Zeiten des Internet verschlossen war. Was jedoch für die vloggende Schülerin ein beneidenswertes Taschengeld ausmacht, sind für die meisten professionellen Musik-, Bild- und Filmschaffenden nicht mehr als die sprichwörtlichen Peanuts, nicht vergleichbar jedenfalls mit den Gebühreneinnahmen aus der Nutzung ihrer Schöpfungen in Rundfunk, Film, Printmedien oder im Livemusikbereich. CISAC, die internationale Föderation der Autorengesellschaften und Repräsentantin von vier Millionen Kreativen, gibt in ihrem letzten Jahresbericht an, 2017 für die Nutzung des Musikrepertoires ihrer Mitgliedsgesellschaften weltweit gut 8,3 Milliarden Euro eingenommen zu haben. Davon kamen allerdings nur 15% aus der digitalen Nutzung, obwohl das Streaming mittlerweile zum vorrangigen Aggregatzustand von Musik, dem ökonomisch wichtigsten Segment des Lizenzgeschäfts, geworden war.

Fokussiert man auf den Streamingbereich, zahlt YouTube selbst im Vergleich zu Spotify noch einmal deutlich schlechter. Bei Spotify sind nach Berechnungen der Financial Times gut 610.000 Streams notwendig für ein Einkommen in Höhe des US-amerikanischen Mindestlohns. Bei YouTube liegt nach Schätzung der Medienberaterfirma MIDiA die Ausschüttung für einen YouTube-Stream mit 0,21 US-Cents maximal bei einem Drittel des Spotify-Satzes; anderen Schätzungen zufolge sind sie sogar noch weit weniger. Umgerechnet auf Benutzer, zahlt YouTube 67 Cents per ›user‹ an Kreative, während Spotify den Rechteinhabern fast $20 per Abonnent überweist. Angesichts solcher Zahlen erkennen die Befürworter einer Urheberrechtsreform einen ›value gap‹ zwischen dem Wert urheberrechtlich geschützten Contents für das Werbeunternehmen YouTube und den tatsächlichen Zahlungen an die Urheber. Artikel 13 soll diese Lücke schließen. Indem YouTube in die Haftungsverantwortung genommen werde, verbessere sich die Verhandlungsposition der Rechteinhaber, die dann künftig angemessene Tantiemensätze durchsetzen könnten, so die Überlegung.

Betrachtet man die Diskussion um Artikel 13 als einen Streit um angemessene Bezahlung, geraten bald die Verwertungsgesellschaften in den Blick, denen in der Auseinandersetzung wohl letztlich die entscheidende Rolle zufallen wird. Bei diesen Organisationen handelt es sich um Zusammenschlüsse von Urhebern und Verlegern, die Content-Nutzern von der Rundfunkanstalt bis zur Muzak-beschallten Shopping Mall Lizenzen zur Nutzung ihrer Repertoires verkaufen und die Einnahmen dann anhand eines Verteilungsschlüssels an ihre Mitglieder ausschütten. Im Musikbereich wurde die erste Organisation dieser Art 1851 in Frankreich gegründet. Der Komponist Ernest Bourget hatte sich geweigert, in einem Pariser Café seine Rechnung zu begleichen mit dem Argument, dass ihn der Eigentümer des Cafés ja auch nicht dafür entlohne, dass er zur Unterhaltung seiner zahlenden Gäste Bourgets Musik spielen lasse. Bourget ging vor Gericht und gewann einen Präzedenzfall. Auf die französische SACEM folgte in den darauffolgenden Jahrzehnten zunächst in Kontinentaleuropa, dann auch in den USA und Großbritannien die Gründung von Gesellschaften, die sich mit der Verwertung der Aufführungsrechte befassten. Im 20. Jahrhundert kamen weitere Organisationen zum Gebühreneinzug für die sogenannte mechanische Vervielfältigung von Musik etwa auf Schallplatten hinzu. In Deutschland vereint heute die GEMA als »Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte« die Auswertung dieser beiden Nutzungsarten.

Aus der Sicht der Verwertungsgesellschaften eröffnet jeder neue Verbreitungskanal für ihr Repertoire eine neue potentielle Gebührenquelle. Ist YouTube als Nutzer von geschützten Inhalten erst einmal rechtlich verantwortlich, können die Verwertungsgesellschaften mit dem Unternehmen über die Höhe der Gebühren verhandeln. Im Gegenzug, und das ist wichtig zu betonen, gewähren die Verwertungsgesellschaften durch ihren legitimen Vertretungsanspruch für das populäre Repertoire den Plattformen Rechtssicherheit. Wenn YouTube mit den betreffenden Verwertungsgesellschaften abschließt, sind sie durch die Zahlung der Lizenzgebühren für das von den Gesellschaften vertretene Repertoire vor Urheberrechtsklagen geschützt. Darauf weist im aktuellen Fall die britische Musikergewerkschaft hin. YouTubes Behauptung, man könne angesichts der komplexen Rechtslage wie etwa bei den Mashups den Haftungsanforderungen schon aus technischen Gründen gar nicht nachkommen und sei deswegen anfällig für ruinöse Schadenersatzklagen, bezeichnet die Gewerkschaft daher als »Mythos«. Unter Verweis auf europäisches Recht fügt die »Musicians Union« (MU) hinzu: »Even in the minority of cases where the rightsholders cannot be identified or individual works are not covered by blanket licences, online services arenʼt liable for multi-million-pound damages claims.«

Das Prinzip der Gebührenzahlung an Verwertungsgesellschaften verspricht also eine Lösung im Streit um den ›value gap‹ sowie des Problems komplizierter geistiger Eigentumsverhältnisse. Ob diese Lösung letztlich zu einer angemessenen Bezahlung der einzelnen Künstlerinnen und Künstler führt, stünde dann auf einem anderen Blatt. Dies hinge u.a. ab vom Verteilungsschlüssel, nach dem eine Gesellschaft ihre Gebühreneinnahmen als Tantiemen an ihre Mitglieder verteilt. Um diesen Schlüssel hat es in der Vergangenheit des Öfteren Streit gegeben. Ungeachtet dieses Problems ist allerdings aus Sicht der Kreativen die Einschaltung von Verwertungsgesellschaften anderen Arrangements vorzuziehen. Denn diese gewährleisten ein größeres Maß an Transparenz, als wenn YouTube weiterhin einzelne Videoproduzenten direkt auszahlt. Außerdem nehmen diese Gesellschaften ihren Mitgliedern die Kontrollarbeit ab. Anstatt dass der einzelne Songwriter YouTube nach ungenehmigter Nutzung seines Werks regelmäßig durchsehen und den Verstoß selbst zur Anzeige bringen muss, übernähmen die Verwertungsgesellschaften diese Funktion weitaus effektiver.

Schaut man zurück in die Geschichte der Pop-Wirtschaft als Rechteindustrie, erscheint die zuletzt doch sehr schrille Auseinandersetzung um YouTube als die aktuelle Runde im fortlaufenden Streit um die Lizensierung von Content-Nutzung, der sich im 20. Jahrhundert bei jeder medientechnologischen Innovation neu entzündet hat. Mit wenigen Ausnahmen (die Betreiber von Jubeboxen etwa mussten in den USA lange Zeit keine Lizenzgebühr entrichten) haben die in Verwertungsgesellschaften vereinten Rechteinhaber über Musterprozesse und in Verhandlungen mit Musiknutzern ihre Ansprüche durchgesetzt. Voraussetzung dafür, dass dies erneut der Fall sein wird, ist, dass das Gesetz YouTube als das betrachtet, was es ist, nämlich ein Unternehmen, das Medieninhalte in kommerzieller Absicht nutzt.

Falls sich die Dinge auch dieses Mal in diese Richtung entwickeln (als Historiker formuliere ich das mit der gebotenen Vorsicht), bedeutet das wohl nicht das Ende des Internets und auch keinen Bann der Memes, zumal am Prinzip des ›fair use‹, also der Verwendung von urheberrechtlich geschützten Inhalten zur Schaffung von neuem, originären Content, nicht gerüttelt wird. Allerdings könnte sich die eingangs zitierte Prophezeiung bewahrheiten, dass zukünftig die Medieninhalte, die wir auf YouTube oder anderen Plattformen konsumieren, vorwiegend »von Profis gemacht« werden. Wenn YouTube nämlich für Pauschallizenzen zahlen würde, entfiele für das Unternehmen vermutlich die Notwendigkeit, zusätzlich noch Einzelne für individuelle Views ihrer Videos zu entlohnen. Denn zum einen sucht das Gros der Nutzer auf YouTube Musik, die mit der großen Überweisung an die Verwertungsgesellschaften bezahlt wäre. Mit anderen Worten, YouTube braucht Kreative wie Celina nicht zum Verkauf von Werbeslots, da es im Grunde als eine kostenfreie, werbefinanzierte Alternative zu Spotify operiert. Zum anderen kann man wohl davon ausgehen, dass vloggende Amateure wie Celina auch dann Beiträge produzierten, wenn sie kein Taschengeld mehr dafür bekämen, sondern allenfalls mit Aufmerksamkeit belohnt würden.

Die größten finanziellen Einbußen hätten bei der Neujustierung und Schärfung der Scheidelinie zwischen Profis und Amateuren YouTuber wie PewDiePie und Jake Paul zu verbuchen, die ihre phänomenalen Follower-Zahlen nicht zuletzt Publicity-Stunts verdanken. Dass diese Strategie der permanenten Selbstüberbietung Karrieren begründen kann, ist ebenso zweifelhaft wie die Annahme, dass der ökonomische Zwang zur Neugewinnung von Aufmerksamkeit mittelfristig mehr hervorbringt als ›clickbait‹. Instruktiv ist der historische Rückblick auf die Anfänge der amerikanischen Popmusikindustrie um 1900, als zahlreiche Amateure sich als Songschreiber versuchten, von denen einige wenige tatsächlich Hits landeten, die kurz aus der Überproduktionsflut der formelhaften Balladen herausragten. Da jedoch der einmalige Erfolg keine Gewähr bot für zukünftige Beliebtheit beim Publikum, fingen die Songschreiber der Tin Pan Alley nach dem Hit stets wieder bei Null an, nur um am Ende meist als ›have beens‹ ganz mit leeren Händen dazustehen. Vor diesem Hintergrund bedeutete die Gründung von Gesellschaften zur Lizensierung öffentlicher Aufführungen von Musik in Theatern, Gaststätten und Rundfunk sowie mechanischer Vervielfältigungen auf Pianorollen und Grammophonplatten, beginnend mit der »American Society of Composers, Authors and Publishers« (ASCAP) im Jahr 1914, einen wichtigen Schritt in Richtung professioneller Karrieren im Musikbusiness. Denn durch diese wurden neue Einkommensquellen erschlossen und Einkünfte über hitlose Zeiten hinweg gestreckt. Vielleicht weist diese einhundert Jahre zurückliegende Entwicklung gegenwärtigen YouTubern einen Weg heraus aus dem Hamsterrad der Klickzahlensteigerung und Follower-Rekrutierung.

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