The Heat Is On
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 75-78]
Es waren noch vier Sekunden zu spielen an diesem Abend. Marius ›Smiley‹ Duis betrat das Feld. Es kam alles auf ihn, den 19-Jährigen, an: auf seine Körperkoordination, seine Nervenstärke, seinen rechten Fuß. 15.000 Menschen beobachteten ihn von den Rängen, unter ihnen zwei Footballmannschaften und ihre Betreuer*innen, 120 Cheerleader, ein Berglöwe, ein Bär, ein Wikinger, ein Teufel, ein Einhorn und die anderen extra angereisten Team-Maskottchen sämtlicher deutscher American Football-Bundesligaclubs. Auch das Sport 1-TV-Publikum schaute zu. In der German Bowl, dem jetzt zu Ende gehenden Meisterschaftsfinale, führten die Schwäbisch Hall Unicorns mit 21:19 gegen die Samsung Frankfurt Universe. Noch. Denn Marius Duis, Field-Goal-Kicker, musste den Ball nur aus 31 Metern Entfernung in hohem Bogen zwischen die Torpfosten schießen. Drei Punkte würde es dafür geben und den Sieg für das Universum. Er schaute auf das ovale Spielgerät, machte ein paar Schritte rückwärts, blieb stehen. Fokussierte. Lief an.
Da war ein Zuschauer in Block O, Reihe 11, Platz 10, der sehr darauf hoffte, dass Smileys Schuss treffen möge. Eigentlich konnte er neutral sein. Er hatte weder zu Einhörnern noch zum Universum eine besondere Beziehung. Aber er sah etwas Sympathisch-Varoufakishaftes an Samsung Frankfurt Universe. Der Verein war pleite, schon länger, schuldete diversen Gläubigern 1,7 Millionen Euro. Spieler, Trainer und Betreuer wurden von der Bundesagentur für Arbeit bezahlt. Die makellosen Schwäbisch Hall Unicorns dagegen waren Meister des letzten Jahres, Favorit in diesem Jahr, die ganze Saison ohne Niederlage geblieben: ein baden-württembergisches Exzellenzcluster. Bankrotte Athleten aus der Großstadt, beschützt von den Resten des Sozialstaats? So viel leichter zu lieben.
Dreieinhalb Stunden zuvor war deshalb ein überzeugter Samsung-Frankfurt-Universe-Unterstützer im Berliner Problemviertel Prenzlauer Berg aus der Tram gestiegen. Er war auf den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark zugelaufen und in eine Atmosphäre eingetaucht, die stark nach militärisch-industriellem Komplex roch. Vor dem Eingang parkte der Reisebus des Bundeswehr-Heeresmusikkorps. Im Programm (DIN A 4, 2,50 Euro) fiel eine ganzseitige Anzeige des Wachbataillons des Bundesverteidigungsministeriums ins Auge. Auf dem Rasen entdeckte er Bundeswehr-Werbeflächen. Und das Publikum wirkte ziemlich kantig. Breit. Groß. Muskelbepackt. Ein schmaler Mensch mit »Keith Richards for President«-T-Shirt lief als Ausnahme von der Regel umher. Sehr viele heteronormative Kleiderschränke warteten am Bierstand. Im Vorprogramm vor dem Kick-off marschierte das Wachbataillon auf das Spielfeld. Die Kapelle spielte Pirates of the Caribbean – Main Theme. Die nicht musizierenden Soldaten schwenkten kunstvoll Gewehre. Diese waren, so hoffte man in Reihe 11, weder geladen noch entsichert. Dann meldete sich der Stadionsprecher und sagte recht streng: »Ich darf Euch bitten, Euch von Euren Plätzen zu erheben.« Für die Nationalhymne. »Wie es sich für ein Finale gehört.« Und alle standen auf.
Damit stellte sich die Frage, was jetzt wohl geschehen würde. Man befand sich auf einer Massenveranstaltung in der Bundesrepublik der Rechtsruck-Ära. Man erhob sich, für das Deutschlandlied, zusammen mit tausenden zumeist weißen, muskulösen, in vielen Fällen nachgerade stiernackigen Anhängern einer gewalttätigen, hierarchisch strukturierten Sportart. Was nun? Pogromstimmung zur Hymne? Die erste Strophe? Wir sind das Volk?
Nun: Das Lied der Deutschen tönte aus den Boxen und keiner gröhlte mit. Keiner sang auch nur mit. Keiner. Die kräftigen Männer in Block O machten dies und das, aber nichts, was auf eine für das menschliche Auge beobachtbare Form von auch nur lauwarmem Patriotismus hingedeutet hätte. Einer nahm noch ein paar Schluck Bier. Ein anderer guckte in den Himmel, den über Pankow aufsteigenden Maschinen aus TXL hinterher. Einer schaute mit verschränkten Armen zu den Cheerleadern herüber. Einer, nur ein paar Meter von Reihe 11, Platz 10 entfernt, bewegte tatsächlich die Lippen bei: »blühe deutsches Vaterland«. Aber das hatte eher etwas von einem Atheist-beim-Vaterunser-›Den Text kenne ich‹-Reflex. Hören konnte man auch vom ihm nichts. Nach der Hymne erklang kurz Applaus. Ein paar Pfiffe mischten sich darunter. Ein halbes Dutzend Carolin-Emcke-Texte würden nicht annähernd so eloquent vom charmanten deutschen Mainstream-Antinationalismus überzeugen wie die Stille der Schränke im Jahn-Sportpark.
Das Wachbataillon zog danach ab. Die Cheerleader und Maskottchen blieben. Das Finale begann. Woran sich Reihe 11, Platz 10 nach längerer Abstinenz wieder gewöhnen musste, aber durchaus gewöhnen wollte: des Spiels ästhetische Ruckeligkeit. Football fließt nicht. Jede Aktion dauert nur ein paar Sekunden. Dann folgt eine Pause. Nächste Aktion. Nächste Pause.
Während des German Bowls aber wurde die Unterbrechung zwischen den Spielzügen stets mit ca. 15 Sekunden Musik gefüllt. Sie stammte immer aus einem jeweils anderen Song, kurz angespielt wie in einem Spotify-Folterknast. Free: All Right Now. J. Geils Band: Centerfold. Die Fantastischen Vier: Gibt’s doch gar nicht. Pharrell Williams: Happy. Musik. Gelaufe, Gewirr. Der Stadionsprecher sagte etwas zum Spielzug. Musik. Gelaufe, Gewirr. Der Schiedsrichter, mit Mikro versehen, erklärte eine Entscheidung. Der Sport verschwunden hinter der Sound-Wand. Everybody Dance Now. Hit The Road, Jack. Unvollständiges Passspiel. Dickes B. Walk This Way. I Love Rock’n’Roll. Spielverzögerung, Nummer 16, Offense. Brown Girl in the Ring. Holding, Offense. Who Let The Dogs Out. Holding, Defense. Live Is Life. I will Survive. Unvollständiges Passspiel. Hey Ya. I Feel Good. Jump. Die Hölle, die absolut vollständige Hölle. Noch schlimmer: Der Oberbeschallungsreferent hatte dafür gesorgt, dass Musik und Spielsituation immer wieder schön zusammenpassen sollten. Drucksituation für den Quarterback? The Heat Is On. Noch eine Drucksituation: This Is My Last Resort. Etwas war toll? That’s The Way (I Like It). Komplizierte Lage auf dem Feld: It’s Tricky. Nach einem First Down noch ein First Down? Another One Bites The Dust. Das Publikum sollte die Welle machen? Klick. Die perfekte Welle. »Ist man denn«, fragte der Beobachter verzweifelt ins weite Rund, »wirklich ein Hochkulturschnösel, nur weil man gern so etwas wie Leerstellen vor sich haben würde? Raum um Bedeutungsträger herum? Unbestimmtheit?« Aber niemand antwortete. Vielleicht hatte auch er nur die Lippen bewegt.
In der Halbzeitpause war dann ohnehin das absolut leerstellenfreie, un-unbestimmte Entertainmentfeuerwerk zu erwarten, wie es der amerikanische Super Bowl Jahr für Jahr offeriert. Überdeterminierter Spektakeloverkill. Mega-Celebrities. Kitsch. Nun aber, mysteriöserweise, wichen die German-Bowl-Kuratoren von ihren Dogmen ab. Cheerleader-Squads liefen aufs weite Feld. Die Abenddämmerung hatte schon eingesetzt. Verloren auf der Prärie führten sie schüchtern Bommelwinken, Haareschwenken und Menschliche-Pyramiden-Bauen zu AC/DCs Thunderstruck vor. Dann trat das Strausberger Fanfarenorchester auf, angekündigt als »Doppelweltmeister«, wohl im Fanfarenblasen, aber im Jahn-Sportpark nicht akustisch verstärkt, sodass man die Musik kaum hörte, sondern nur das Geplauder der wieder einmal vom Bierstand zurückgekehrten Schränke in Block O. Die Strausberger bliesen, tanzten, marschierten. Sie mühten sich, einen Hauch von Ornament-der-Masse-Spirit auf den Rasen zu zaubern. Ihr Dirigent leitete sie erst von einem Volleyballschiedsrichterstuhl aus an, kletterte dann von diesem herab, schritt mit einem heftig zuckenden Großbaton vorweg und führte das in diesem Moment kaum hörbar Smoke on the Water-spielende Orchester würdevoll vom Feld und zum Flixbus nach Pjönjang. Selbst davon aber wurde der interessierte Beobachter abgelenkt, weil ein Berglöwe und ein Büffel, die Maskottchen strichen noch immer durchs Stadion, sich direkt vor Block O Arm in Arm mit den für die Bewachung dieses Sportpark-Abschnitts zuständigen Security-Männern fotografieren ließen. Migrationshintergrund der Ordner: höchstwahrscheinlich arabisch. Applausstärke für die Geste aus Block O: eindeutig höher als nach der Nationalhymne.
Versöhnt durch die Menschlichkeit und Unvollkommenheit der Halbzeitpause versank Reihe 10, Platz 11 dann ganz im Spiel. Er freute sich, dass die 13:7-Führung für die Frankfurter das gesamte dritte Viertel lang anhielt. Er sorgte sich, als Schwäbisch Hall im vierten Viertel ein Touchdown gelang sowie der Extrapunkt-Versuch. Und sorgte sich noch viel mehr, als Nico Knoblauch, gefürchteter Linebacker der Unicorns, nach einem Fumble den Ball ergatterte und auch ihn zum Touchdown in die Endzone trug. Wieder war der Extrapunktversuch erfolgreich. Minuten vor dem Ende stand es 21:13 für die südwestdeutschen Overachiever. Die Lage war hoffnungslos, eigentlich – bis Samsung Frankfurt Universe mit Strategie und Glück und Einsatz und Präzision zurückkam. Pass, Touchdown: 21:19. Erfolglos blieb der Versuch einer Conversion, die zwei Extrapunkte hätte einbringen können, aber es folgte ein Sideways Kick und ein wild hoppelndes Ei, das schließlich unter einem Frankfurter lag, also Ballbesitz einbrachte und damit, vier Sekunden vor Schluss, die ideale Position für ein Field Goal.
Also traf Marius ›Smiley‹ Duisʼ Fuß den Ball und dieser flog los, auf dem Weg zu drei Punkten und der deutschen Meisterschaft für Samsung Frankfurt Universe. Sehr hoch schien das Leder zu steigen, wirklich sehr hoch, und recht präzise wirkte die Flugbahn. Vielleicht konnte man sie als nicht ganz tutorialvideohaft akkurat bezeichnen. Vielleicht strebte der Ball nicht ganz mittig auf den Raum zwischen die Pfosten zu. Aber so wunderbar stieg er in die Höhe, dass ein paar Frankfurter Spieler schon die Arme in die Luft rissen. In den dunklen Himmel über uns fühlenden, die Nationalhymne nicht mitsingenden Wesen schwebte der Ball und drehte dann, eben weil Smileys Schuss so hoch angesetzt war und deshalb nun in der Vorwärtsbewegung eine Spur zu wenig Schwung aufwies, kurz vor dem linken Torpfosten ein paar Zentimeter zu weit nach links. Fast berührte er den Pfosten. Ging aber vorbei. Die schwäbischen Einhörner jubelten. Das bankrotte Universum erstarrte. Hier war sie, die Leere, die Unbestimmtheit.