Ideendürre
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 69-74]
Die Frage, ob das Automobil auch ohne flankierende Werbung zum Leitmedium des 20. Jahrhunderts avanciert wäre, kann nur spekulativ beantwortet werden. Dass die Autowerbung maßgeblich an der Ausdifferenzierung eines Imaginationspotentials Anteil hatte, ist hingegen eine Tatsache. Ohne sie wäre die Fahrzeugkultur schlichtweg nicht denkbar. Rein als falsche Glücksversprechungen diskreditieren sollte man die bildlich wie textlich repräsentierten Wünsche samt ihrer metaphysischen Überhöhungen freilich nicht, sie stellen vielmehr Artikulationen weit verbreiteter affektiver und libidinöser Befindlichkeiten innerhalb einer Kultur dar.
Mit der Entwicklung der Automobilität ging ein Fortschrittsoptimismus einher, der über mehr als 100 Jahre in diversen Werbeformaten emblematisiert wurde. Eine Erklärung für die Ausformung dieser Zuversichtsorientierung liegt in Gewinnerfahrungen: Mobilitäts- und Souveränitätszuwachs, Abenteuer- und Erweiterungserlebnisse, Komfortsteigerung. Diese Aspekte lassen sich in gesellschaftlichen Wandelsituationen stets neu bebildern, wodurch Produktkommunikation auch zu einer Verarbeitungsform von Gegenwartsanliegen werden kann. Der legendäre VW-Slogan von 1959 »Er läuft und läuft und läuft …« liest sich als Produktversprechen und zugleich als poetische Fortschrittsformel, in der die Nachkriegsatmosphäre der geschäftigen Unermüdlichkeit ihr glaubhaftes Echo findet.
Inzwischen hat sich die kulturelle Gesamtsituation der Automobilität grundlegend verändert, was die Werbewirtschaft vor erhebliche Herausforderungen stellt. Als mythologische Versorgungsdienstleister obliegt es den Agenturen und Marketing-Abteilungen, Realitäts- und Wunschwirklichkeiten zu ermitteln und diese gegeneinander abzuwägen. In der Gegenwart lautet die Diagnose: Das Auto ist in eine prekäre Situation geraten und befindet sich in einer Zwei-Fronten-Auseinandersetzung. Mit Blick auf die globalen Verkaufszahlen, angesichts derer noch nicht einmal von einer Krise des Autos gesprochen werden kann, mag die Kriegsmetapher zwar überzogen erscheinen. In Anbetracht einer sich seit geraumer Zeit wandelnden Wahrnehmungs- und Anspruchssituation, die vermehrt an Bedeutung gewinnen und konzeptuelle Neuorientierungen bei der Produktkommunikation erfordern wird, erhält die Metapher jedoch ihre Sinnfälligkeit.
Die auffälligere der zwei Fronten besteht in dem inzwischen anerkannten Komplex aus Unverträglichkeitsfolgen, die durch das Automobil erzeugt werden: Umweltzerstörung aufgrund von Landschaftsversiegelung, Verblechung der Städte, Millionen von jährlichen Staukilometern, gesundheitsgefährdende Luftverschmutzung, zukunftszerstörender Ressourcenverbrauch, krankheitsfördernder Bewegungsmangel der Autofahrer. Gäbe es Gerechtigkeit in der Werbewelt, müsste Autowerbung entweder wie im Fall von alkoholischen Getränken verboten oder wie in der Tabakwerbung mit Warnhinweisen versehen werden. Doch auch ohne diese Maßnahmen zeigt die Harmoniestörung Wirkung: Die »Studentenstudie 2018« des Beratungsunternehmens EY belegt, dass die Automobilindustrie von ihrem Spitzenplatz im Beliebtheitsranking abgestürzt ist und als zukünftiger Arbeitgeber immer uninteressanter wird. Herbert Diess, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, klagte 2018 in einem Vortrag: »Der jetzige Feldzug gegen die individuelle Mobilität und damit gegen das Auto nimmt existenzbedrohende Ausmaße an.«
Der zweite Angriff auf das Konzept ›Auto‹ ist weniger offensichtlich, denn er gründet im langsamen Umbau des anthropologischen Selbstverständnisses. Es war der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan, der wohl als erster diese Dimension erkannte und prophetisch ausmalte. 1964 fragte er mit provokanter Rhetorik: »›Soll das Auto weiter bestehen?‹ Die Antwort lautet natürlich ›Nein.‹ In den höchsten Kreisen der Autoindustrie weiß man, daß das Auto in den letzten Zügen liegt.« Das Auto, so McLuhan, würde noch ungefähr ein Jahrzehnt umgestaltend wirken, »bis dann die elektronischen Nachfolger des Autos sich zeigen werden.«
Der Hinweis auf die elektronischen Medien, die zu McLuhans Zeit noch ausschließlich aus dem Fernsehen und den dazugehörigen Netzen bestanden, ist geradezu hellsichtig in Bezug auf die digitale Gegenwart. Mit der Ubiquität der digitalen Medien und den stetig sich ausweitenden Möglichkeiten der Kommunikation, des Agierens, Informierens, Erkundens, Produzierens sowie der Unterhaltung bildet sich seit ca. 20 Jahren ein neuer Mensch heraus. Die im Schwund begriffenen Ideale der Automobilität werden inzwischen in der Medienumwelt realisiert: Mobilität hat sich zu einer geistigen Beweglichkeit umgeformt; Souveränität ist nicht mehr die Macht über das Steuerrad und die Straße, sondern über die erlebte Unendlichkeit der Kanäle; Abenteuer sind nicht Geschwindigkeit und Italienreise, sondern Reizsuche auf der Datenautobahn oder in virtuellen Landschaften der Games; Erweiterung besteht nicht im Gefühl, jederzeit den Startknopf drücken zu können, sondern in der Gewissheit, in Lichtgeschwindigkeit den Globus zu umkreisen, um die »New York Times« zu lesen oder mittels Bildtelefonie mit Freunden überall auf der Welt sprechen zu können.
Anders gesagt: Das Autofahren entspricht nicht mehr den Erfahrungsmöglichkeiten, die durch die Dispositive der Medien an den Menschen herangetragen werden. Das Starren aus dem Frontfenster und die Hände am Lenkrad versprechen weniger als der wendige Geist des modernen Mediennutzers und die Beweglichkeit seines Körpers, der mit mobilen Geräten Exkursionen in Augmented und Virtual Reality unternimmt. Man könnte auch sagen, der Mensch ist intelligenter, anspruchsvoller, wunschreicher, hyper-souverän geworden. Die Tatsache, dass wir im Advent der selbstfahrenden Fahrzeuge leben, entspricht dieser Analyse: Der alte Typus des Autofahrers fühlt sich von dieser Tendenz entmachtet; der neue Typus des Mediennutzers wird diese Entwicklung begrüßen, weil sie ihn von der Sklaverei am Lenkrad und der normierten Landschaft befreit und ihm die Potentiale der medialen Entgrenzung eröffnet. Die Außenwelt des Fahrzeugs verliert an Relevanz, der Innenraum gewinnt an Bedeutung, der zur Media oder Meeting Lounge, zum Familien- oder Spielzimmer wird.
Vor diesem techno-sozialen Hintergrund müssen die gegenwärtigen Kommunikationsangebote der Autohersteller bewertet werden. Für einen Überblick, welche Semantiken heute als Attraktivitätsgaranten für Fahrzeuge mobilisiert werden, bietet sich die Auswertung von Video-Clips des Jahres 2018 an, in denen die Marken ihre SUV-Modelle vorstellen. Die Konzentration auf dieses Premium-Segment und das mediale Format fußt auf den Prämissen, dass in den SUV State-of-the-Art-Technologien verbaut werden, von denen Zukunftsfähigkeit erwartet werden darf, und dass mit den Mitteln des Videos exemplarisch mythische Konstellationen in Kurzerzählungen formuliert, Emotionen musikalisch evoziert und Überzeugungen bildhaft vermittelt werden können.
Aufgrund der Kürze der Filme besteht die Nötigung zur Konzentration auf eine Grundidee, in der sich idealiter Produkt-, Real- und Wunschwelt einschreiben. Diese Grundideen verteilen sich auf ein Schema von vier Paradigmen: Das Auto als 1. Entgrenzer, 2. Prestige-Träger, 3. Expressionsmedium und 4. technischer Alltagsbegleiter. Allein diese charakterisierenden Überschriften deuten die Problematik an: Die Werbenarrative greifen größtenteils auf etablierte Erzählmuster zurück, wodurch der Eindruck entsteht, dass die Krise der automobilen Selbstverständlichkeit konzeptuell unberücksichtigt bleibt, was Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der Kommunikate hat.
Am augenscheinlichsten tritt die Realitätsvermeidung im Entgrenzer-Paradigma zutage, das von einer pathosformelhaften Konventionalität dominiert wird. Kia und BMW versetzen ihre dahinrasenden SUVs in unberührte Landschaften und versinnbildlichen in Parallelmontage die archaische männliche Auseinandersetzung mit der Natur mittels tollkühnem Snowboarder und Wildwasserkanufahrer. Ebenso regressiv und rückwärtsgewandt ist die Aggressivität, mit der das Mercedes-Benz-Video zur G-Klasse protzt. In einer mit hollywoodesken CGI-Special-Effects durchdesignten Welt der Leere – Natur- und nächtliche SF-Stadtlandschaften – scheint als einziges Wesen das Fahrzeug überlebt zu haben. Das Auto, »a Car with a strong DNA«, wird mit dem Produktclaim »Stronger than Time« als Stärkeungeheuer vorgestellt, was jedoch nur gelingt, weil die reaktionär gefärbte Erzählung mit ihrem falsch verstandenen Darwinismus jedwede Verkehrsrealität leugnet und utopische Konzepte von Automobilität negiert.
Neben diesen Beispielen von kolonialistischen Angriffen des Autos auf die Umwelt wirkt der Renault-Film über den Kadjar verspielt und geradezu defensiv, denn er bezeugt, dass die Kultur der Medien als Beunruhigungsszenario wahrgenommen wurde. Eine Mutter fährt mit ihrem halbwüchsigen Sohn, der mit einem mobilen Device beschäftigt ist, auf einer Landstraße durch bergige Gegend. Die Mutter zieht das Tempo an, Star-Wars-Filmmusik erklingt und unversehens wird die Außenwelt mit Raumschiffen und ballernden Fantasy-Wesen belebt. Die Fahrt endet vor dem Kino. Der kritische Betrachter fragt sich, was mit dem popkulturellen Zitat, das von der ausdruckslosen Außenwelt ablenkt, bewirkt werden soll. Die angespielte Entgrenzung bleibt beliebig; der Claim »Es gibt immer einen anderen Weg« verbindet sich nicht nachvollziehbar mit dem Fahrerlebnis. Eher bestätigt der Clip McLuhan: Die elektronischen Medien sind dem Auto vorzuziehen, das alt und langweilig daherkommt.
Seite an Seite mit dem Entgrenzer-Paradigma steht das Prestige-Paradigma, das ebenfalls mit überkommenen Einstellungen und Ikonisierungen operiert. Weder der Alltagsnutzen noch Joy of Use oder Erlösung von Verlegenheiten liefern Argumente für die Überredungskunst, stattdessen werden Distinktionsgewinne der Fahrzeuge propagiert. Zwei Marken setzen auf die soziale Abgrenzungsfantasie – Rolls Royce und VW. Cullinan und Touareg werden mit Bildern des Reichtums, Glanzes und Neids umkleidet – Luxuswohnung und Luxusfrau, Diamanten, Gold, Edelarchitektur und nächtliche Glitzerstädte –, um den Fahrer als legeren Erfolgsmenschen zu positionieren, dem die Welt gehört. Ob sich eine männliche, verwöhnte Oberschicht von dergleichen Erzählungen inspiriert fühlt, muss Vermutung bleiben. Fraglos ist jedoch, dass die Werbefantasie keinen Appell an das Wünschen zu senden vermag, das immer mehr will als bloßen Besitz.
Ist die Unzeitgemäßheit und Ideendürre in allen genannten Beispielen das Grundproblem, offenbaren die weiteren Videos andere Konfliktlinien. Im Zeitgeist sind jene Videos geerdet, die das Auto als Expressionsmedium installieren. Fahrgefühl, Technik oder Design dienen vornehmlich dazu, Easyness zu artikulieren – sei es das Lebensgefühl der Hipster in Hyundais Kona-Video, sei es das des unkonventionellen Individualisten im Audi-Clip zur gesamten SUV-Modellpalette oder des Junggesellen und des Liebespaares im Duster-Video von Dacia. Hinter der Atmosphäre der Leichtigkeit des Seins – vermittelt durch humorige Einfälle oder coole Jugendlichkeit – lauert allerdings das schwerwiegende Identitätsthema, das in der ausdifferenzierten und durch Beobachtung geregelten Gesellschaft enorme Bedeutung erlangt hat. Wenn die Claims zu den Videos lauten »You drive it, you define it«, »Der Luxus, neu zu denken« und »Alles eine Frage der richtigen Einstellung«, dann enthüllt sich die auferlegte Nötigung zur Selbsterzeugung und zur Frage, was die Mittel dafür sind. Aber kann das Fahrzeug als zweite Haut tatsächlich noch die Rolle des Mediums der Selbstformung übernehmen?
Die Mehrzahl der Videos verfolgt nicht das Ziel der Image-Aufwertung, im Zentrum stehen Unique Selling Propositions der Fahrzeugnutzung. Während die Kritik an den zuvor genannten Mustern die Reproduktion von schalen Idealwelten betraf, ist der Befund hier ein anderer: Die Werbeinhalte ziehen sich gleichsam aus der Fantastik zurück und bleiben imaginativ geradezu kleinmütig. In dieser Reaktionsform artikuliert sich letztlich das gleiche Dilemma, nämlich die Schwierigkeit, einen phantasmatischen Mehrwert zu generieren, der über das Auto hinausstrahlt. Anstelle eines einfassenden ›Images‹ werden lediglich Einzelmerkmale der Fahrzeuge herausgestellt, die als Zugewinn in der Alltagsbeherrschung erscheinen: Der große Kofferraum beim Opel Crossland x, die Komfortfederung beim C4 Cactus von Citroën, die elektronische Parkplatzsuchhilfe im Ford EcoSport, die Einparkhilfe des Jeep Compass, die Hybrid-Technik in den Lexus-Modellen. Dieser Ansatz gibt sich pragmatisch, nimmt teilweise sogar die überforderte Automobilitätskultur in den Fokus. Dabei wird allerdings die Systematizität der Krisenlage gleichsam übersehen, um mit dem Verfahren der Einzelproblemlösung den Fortschritt zu behaupten. Extrapoliert man die vorgeblichen Produkt-Alleinstellungsmerkmale in die Wunschwelt, so stellt sich das Gefühl einer Verzagtheit gegenüber den realen Umständen ein. Wer den Weg zum Parkplatz, das Verstauen der Koffer oder das Head-up-Display als Glücksversprechen akzeptiert, erwartet vom Leben nicht viel.
Muss das Fazit abschließend lauten, dass die SUV-Werbung auf ganzer Linie versagt und das Auto als Sinnträger verloren ist? Der Volvo-Film über den XC40 liefert ein Beispiel dafür, wie Ästhetik, Erzählmotiv und emotionale Ansprache ein kulturell identifizierbares Ungenügen aufnehmen und gleichzeitig ein starkes Sehnsuchtsmotiv transportieren können.
In einer gekonnten, rasanten Montage wird die Distribution von Waren gezeigt – per Drohne, LKW, Kran, Paketzusteller –, wird in collageartigen Kurzsequenzen eine an Nam June Paiks Videokunst erinnernde Bildnervosität erzeugt, in der die Menschen wie Anhängsel der verführerischen Oberflächlichkeit der Waren und Medien erscheinen. Zwischen diesen Stadtszenen zeigt das Video das Antlitz einer jungen Frau, die zuerst von ihrem Appartement, dann aus dem Volvo heraus die Welt beobachtet, wobei sie von einer heiteren Gelassenheit beseelt zu sein scheint. Ihre gemächliche Fahrt durch Toronto an den Stadtrand ist nicht vorrangig als romantische Flucht ausgewiesen; ins Bild gesetzt wird immer wieder der Blick der Protagonistin, der sich im Laufe des Videos von einem beobachtenden in einen seherischen verwandelt: Wir sehen nicht, was die Fahrerin sieht, es muss jedoch etwas sein, das anders ist als das Bestehende. Der zweieinhalbminütige Clip zeigt, dass Souveränität nicht durch Bewegung im Raum gewonnen wird, sondern durch die Gabe, sich aus der verfügten Welt auszuklinken, um Distanz und damit innere Selbstgewissheit zu gewinnen. Das Automobil wird zum Container einer psychischen Freiheit und Ausdehnungsmöglichkeit. Als Soundtrack erklingt eine Popversion des Musical-Songs »My Favorite Things«, wodurch die Frage nach dem, was Bedeutung hat, lyrisch illustriert wird. Im Gegensatz zu den anderen Videos wird die Erlösungsmacht nicht plattitüdenhaft dem Fahrzeug zugewiesen, sie bleibt beim Subjekt. Es fällt nicht schwer, in der Inszenierung den kulturkritischen Topos der weltlichen Eitelkeit und Hohlheit auszumachen, was auch im Claim zum Ausdruck kommt: »Everything you need. Nothing you don’t«. Dieser Topos wird jedoch als erkennbare Gegenwartsproblematik ausgestaltet. Der Wunsch nach Ruhe, Zurückgezogenheit und Erfülltheit durchzieht mehr denn je die Seelen, die den Außenlenkungen entkommen möchten. Wer einen Ort findet, wo er nicht von der Welt eingenommen wird, hat zu wahrem Reichtum gefunden.
Dass es eine junge Frau ist, die als Allegorie der Überlegenheit und Unabhängigkeit eingesetzt wird, mag klischeehaft sein. Es ist aber auch ein zeitgemäßes ›Gefühl‹, dass nicht mehr der virile Geschosslenker das Role Model für Zukunftsanliegen darstellt. Das Männliche ist wie das Auto prekär geworden und transportiert eine Aura des Veraltens.