Impfen
von Cornelius Schubert
14.4.2020

Wie sich biologische und gesellschaftliche Bedrohungslagen verschränken können

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 54-60]

Impfungen gelten als eine der zentralen Errungenschaften der modernen Medizin. Zusammen mit anderen technischen Neuerungen, wie Stethoskop oder Thermometer, sind Impfungen mit dafür verantwortlich, dass die moderne Medizin ab dem 19. Jahrhundert zunehmend Verbreitung fand. Vorzeigbare Heilungserfolge und das sichtbare Eindämmen von Krankheiten, flankiert von staatlichen Regelungen und medialen Aufklärungskampagnen, machten das Impfen zu einer kaum hintergehbaren Instanz der heutigen Gesundheitsversorgung. Während Krankheiten wie Masern, Pocken, Diphtherie, Keuchhusten oder Kinderlähmung zumindest in den Industrieländern weitgehend eingedämmt wurden, listete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Anfang 2019 eine zunehmende Impfablehnung unter den zehn Gefahren für die globale Gesundheit für das beginnende Jahr. In Deutschland wurde das Impfen kurz darauf ebenso diskutiert, angestoßen durch einen Beschluss des Landtags von Brandenburg, der vorsieht, eine verpflichtende Masernimpfung für Kinder in Kitas und anderen Einrichtungen einzuführen. Am 17.07.2019 beschloss das Bundeskabinett schließlich, ab März 2020 eine Impfpflicht gegen Masern einzuführen. Die Vehemenz, mit der seit einiger Zeit um die Impfung gerungen wird, mag angesichts ihrer Erfolgsgeschichte erstaunen. Sie lädt zugleich dazu ein, die Zusammenhänge von Impfbefürwortung und -gegnerschaft genauer in den Blick zu nehmen.

Historisch gesehen folgt die Impfung dem typischen Muster erfolgreicher Innovationsverläufe, die zunächst zaghaft starten und erst später eine breite Anwendung finden. Zu Beginn wurde auch der neuen Technologie des Impfens gemeinhin wenig Vertrauen geschenkt, weil sie den gängigen Meinungen über das Wesen und die Verbreitung von Krankheiten widersprach. Bruno Latour hat dies in seiner Studie über die »Pasteurisierung Frankreichs« beispielhaft aufgezeigt. Darin beschreibt er, wie Louis Pasteur zu Beginn der 1880er Jahre in seinem Pariser Labor an einer Impfung gegen Milzbrand bei Tieren arbeitete. Damals herrschte die Auffassung vor, Milzbrand sei auf verseuchtes Weideland zurückzuführen, weshalb die sich entwickelnden mikrobiologischen Theorien nur in einem kleinen Kreis von Experten, u.a. bei Robert Koch, Anklang fanden. Erst durch eine öffentliche Demonstration, bei der geimpfte Schafe eine Milzbrandinfektion überlebten, während die nicht geimpften Tiere starben, ließen sich die Kritiker*innen schrittweise von der Wirkung der Impfung überzeugen. Laut Latour gelang es Pasteur, die Impfung erfolgreich zu verbreiten, indem er gezielt Maßstäbe veränderte. Die unsichtbaren Mikroben konnten durch Kultivierung im Labor sichtbar gemacht und manipuliert werden. Die Demonstration auf einem Bauernhof zeigte den geladenen Personen die Wirksamkeit am Beispiel einer Herde, später ließen sich die Effekte des Impfens in den landesweiten Statistiken nachweisen. Der Kniff dabei war, dass sich das Labor und seine Bedingungen gleichsam mit ausbreiten mussten. Ohne die Vorgaben Pasteurs exakt einzuhalten, blieb das Impfen wirkungslos. Mit der Verbreitung der Milzbrandimpfung ging zugleich die Pasteurisierung Frankreichs einher.

Dieser Punkt ist vor allem aus dem Grund interessant, weil die erfolgreiche Impfung unterschiedliche Skalierungen miteinander in Beziehung setzt: von der mikroskopischen Bakterie zur makroskopischen Statistik, von einem erkrankten Tier zur Landwirtschaft Frankreichs, von einem Labor in Paris zur internationalen Mikrobiologie. Darüber hinaus werden noch andere Grenzen zwischen Mensch, Technik, Natur und Tierreich systematisch überschritten. So ist Impfen eine Technologie, die buchstäblich unter die Haut geht. Manche Krankheitserreger werden in Hühnereiern kultiviert, etwa bei der Herstellung des Grippeimpfstoffs. Diese Impfstoffe werden immer wieder an die Veränderungen der Erreger in freier Wildbahn angepasst. Nicht zuletzt kommen beim Impfen unterschiedliche wirtschaftliche, politische, medizinische, zivilgesellschaftliche und auch persönliche Interessen zum Tragen. Beim Impfen zeigt sich also, wie eng das Kleine mit dem Großen, die Natur mit der Gesellschaft und die Technik mit den Körpern verschränkt ist. Es ist, wie es Thomas Hughes 1986 formulierte, ein »nahtloses Gewebe«, das Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Natur und Gesellschaft verknüpft.

Die Verbreitung der Viren und die Verbreitung der Impfung benötigen jeweils geeignete Bedingungen, entweder einen kompatiblen Wirtskörper oder ein passendes sozio-politisches Milieu. Das sozio-politische Milieu des Impfens hatte, wie schon gesagt, anfangs mit einiger Gegenwehr zu kämpfen. So standen Teile der Ärzteschaft Mitte des 19. Jahrhunderts speziell Pockenimpfungen mittels Kuhpocken skeptisch gegenüber. Auf diesen Umstand wies Kim Tolley letztes Jahr bei ihrer Presidential Address zur Jahrestagung der History of Education Society hin. Insbesondere gegen die Pflichtimpfung in Schulen wurde sowohl von Ärzt*innen und Eltern mobilgemacht. Mit zunehmender Kenntnis der Impfmechanismen und der erfolgreichen Demonstration von Pasteur setzte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich das mikrobiologische Paradigma in der Medizin durch, die Impfskepsis der Ärzteschaft nahm weitgehend ab. Die bis dahin in den USA gegründeten Anti-Impf-Gesellschaften wurden in der Mehrzahl jedoch von interessierten Laien weitergeführt. Tolley zufolge entwickelte sich die Impfgegnerschaft daraufhin im Rahmen einer generell anti-wissenschaftlichen Haltung, deren Folgen bis heute nachwirken. Die Impfgegner*innen positionierten sich zudem in einer Form demokratischen Populismus, der sich gegen die Kontrolle der eigenen Lebensführung durch Expert*innen aus Staat und Medizin wendete. Somit entstand eine Konfliktagenda, die die normative Ordnung der staatlichen Impfpflicht, insbesondere an Schulen, nicht zuletzt durch eine breite Popularisierung der Impfskepsis in Pamphleten, Magazinen und Büchern herausforderte. Diese Linie der Impfgegnerschaft lässt sich bis heute nachzeichnen.

Das nahtlose Gewebe, das durch die Impfung geknüpft wird, erweist sich somit als ein komplexer Resonanzraum, in dem die Grenzen zwischen Biologie, Technik und Gesellschaft kontinuierlich überschritten werden. Zwei weitere Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Erstens stellt die Mikrobiologie einen deutungsmächtigen Referenzrahmen zur Verfügung, der körperliche und gesellschaftliche Prozesse durch Analogien kommensurabel macht. Gerade Infektionskrankheiten, das Immunsystem und die Impfung wurden weitgehend mit militärischen Vergleichen plausibilisiert. Die Krankheitserreger stehen dabei für die Invasion eines äußeren Feindes, der in das Gebiet des Körpers eindringen möchte und von den inneren Verteidigungskräften zurückgeworfen oder zumindest aufgehalten werden muss. War der Krieg noch eine gesellschaftliche Vorlage, um sich die Übertragung, Verbreitung und körperliche Reaktion auf Infektionskrankheiten zu verdeutlichen, so haben die biologischen Begriffe mittlerweile ihren festen Platz im gesellschaftlichen Diskurs gefunden. Insbesondere der Virus nimmt hier eine prominente Stellung ein, der außerhalb der Biologie mittlerweile in Technik und Marketing populäre Erklärungsmuster zur Verfügung stellt. Während für die technische Bedeutung vor allem die Analogien zur biologischen Infektion und Verbreitung relevant sind (s. Regine Buschauers Beitrag in Heft 11 dieser Zeitschrift), beschränkt sich die Bedeutung für das Marketing zumeist auf informelle Verbreitungseffekte, ähnlich denen der Verbreitung von Gerüchten.

Wie sich biologische und gesellschaftliche Bedrohungslagen ineinander verschränken können, hat Carlo Caduff eindrucksvoll in seinem Buch »Warten auf die Pandemie« am Beispiel der Grippeschutzimpfung aufgezeigt. Er konstatiert ein sich entwickelndes Sicherheitsdispositiv, das seit den 1970er Jahren vor dem Hintergrund einer immanenten Grippepandemie eingerichtet wurde, ohne dass diese bislang eintrat. Dieses Sicherheitsdispositiv ist nur möglich, weil der Grippevirus rapiden Mutationen unterliegt und so durch die Impfprogramme nur beschränkt eingedämmt werden kann. Da die Mutationszeiten des Virus die Entwicklungszeiten der Impfstoffe unterschreiten, hinken die jährlichen Impfungen notwendigerweise den Veränderungen der Viren hinterher. Durch die Unkontrollierbarkeit der Grippeviren entsteht, so Caduff, seit den 2000er Jahren ein Grippe-Sicherheitsdispositiv, das eng mit den Sicherheitsdiskursen in der Folge der Anschläge vom 11. September verbunden ist. Zugleich bedeutet die Konzentration auf die Grippeviren, dass anderen Infektionskrankheiten, wie etwa Ebola, weniger Beachtung geschenkt wird. Obwohl die prophezeite Pandemie ausblieb, haben die mit ihr verbundenen Untergangsszenarien zu einer nachhaltigen Verunsicherung geführt, in der auch die wissenschaftliche Isolierung und Bestimmung des Virus, zusammen mit seiner Bekämpfung durch Impfstoffe, immer wieder an ihre Grenzen stößt.

Aber die Überlagerung von biologischen und gesellschaftlichen Dynamiken reicht weiter, wie das zweite Beispiel zeigt. Mehr noch als in einer gefälligen Analogie zwischen Körper und Kultur im Sinne von Infektion und Krieg vermischen sich Erreger und Information im Begriff der »Misinfodemics«, der im Magazin »The Atlantic« im August 2018 geprägt wurde. Misinfodemics sind demnach Krankheitsausbrüche, die erst durch die (virale) Verbreitung von falschen Gesundheitsinformationen möglich werden, wie in den letzten Jahren bei Masern in den USA oder Ebola in Westafrika. Hauptpublikationskanäle der impfkritischen Positionen sind Soziale Medien wie Facebook, Twitter, Instagram, Pinterest oder YouTube.

Eine aktuelle Studie von Beth Hoffman und Kolleg*innen an der Universität Pittsburgh untersuchte die Facebook-Posts von Impfgegner*innen. Danach zeichnen sich die impfkritischen Beiträge insgesamt durch eine Fehlrepräsentation von Daten oder eine verzerrte Risikowahrnehmung aus. Innerhalb der Anti-Impf-Bewegung können vier unterschiedliche Gruppen ausgemacht werden. Die erste Subgruppe misstraut wissenschaftlichen Erkenntnissen und betont die Bedeutung persönlicher Freiheiten. Die zweite Subgruppe interessiert sich für Alternativen zu konventionellen Impfmitteln, etwa durch Homöopathie. Für die dritte Subgruppe steht die Sicherheit der Impfungen in Frage, speziell was das Verhältnis von Risiko und Nutzen angeht. In der vierten Subgruppe finden sich verschwörungstheoretische Ansichten zum Impfen, nach denen Erkenntnisse zurückgehalten und Zusammenhänge verdunkelt werden. Die Binnendifferenzierung zeigt, dass das Feld der Impfgegnerschaft keineswegs homogen ist, sich aber in diesen Bereichen konsolidiert.

Der Umfang impfkritischer Inhalte, Seiten und Gruppen auf Facebook kam Anfang 2019 ins breitere Licht der Öffentlichkeit. Dass es sich bei Misinfodemics nicht um Nischenphänomene handelt, wurde schon mit der oben genannten Warnung der WHO offenkundig. Der »Guardian« berichtete Mitte Februar, dass geschlossene Facebook-Gruppen wie »Stop Mandatory Vaccination« mehr als 150.000 Mitglieder zählen. Adam Schiff, demokratisches Mitglied im US-amerikanischen Repräsentantenhaus, beschwerte sich auf Twitter darüber, dass unter dem Stichwort ›vaccination‹ bei Suchen auf Facebook und Google impfkritische Inhalte prominent angezeigt werden. Zu der Zeit hatte etwa Pinterest den Suchbegriff ›vaccination‹ bereits gesperrt, um die Verbreitung von Fehlinformationen zum Thema ›Impfung‹ über die Plattform zu unterbinden (in meiner Android App von Pinterest führte das deutsche Suchwort ›impf‹ Mitte Juli allerdings noch zu den Vorschlägen: »impflüge«, »impfpflicht«, »impfentscheidung«, »impfpasshülle nähen«, »impfschaden« und »impfpasshülle hund« – in dieser Reihenfolge). Die Sensibilisierung der Sozialen Medien für kontroverse Gesundheitsthemen reicht dabei über das Impfen hinaus und auch schon einige Jahre zurück. Bereits 2012 hatten Tumblr, Pinterest und Instagram als Reaktion auf magersuchtfreundliche Posts (tags: ›pro-ana‹, ›thinspiration‹) oder solche mit selbstverletzendem Verhalten (tags: ›selfharm‹, ›cutting‹) ihre Nutzungsbedingungen angepasst.

Die Verschränkungen von viralen Fehlinformationen und viralen Infektionen machen deutlich, welch irreduzible Gemengelage sich im Bereich des Impfens mittlerweile entwickelt hat, besonders weil sich vehemente Impfgegner*innen als resistent bzw. immun gegenüber aufklärenden Informationen erweisen und sich soziale und biologische Ansteckungen nicht nur verbal, sondern auch ihrer Verbreitungsdynamik nach ähneln. Chris Bauch und Alison Galvani haben die Koppelung sozialer und biologischer Ansteckung in einem Artikel für »Science« näher untersucht. Die Besonderheit bestehe vor allem darin, dass die jeweiligen Personen zugleich Knoten in sozialen wie in biologischen Ansteckungsnetzwerken sind, wodurch ein heterogenes und komplexes sozio-biologisches Netzwerk entsteht. Nimmt man die Sozialen Medien mit hinzu, müsste präziser von einem soziotechnisch-biologischen Netzwerk gesprochen werden.

Das nahtlose Gewebe, das sich um die Impfgegnerschaft spinnt, zeichnet sich auch heute noch in Teilen durch einen »demokratischen Populismus« aus, wie ihn Kim Tolley für die Entstehung der Anti-Impf-Bewegung im 19. Jahrhundert beschrieben hat. Das Adjektiv ›demokratisch‹ verweist in diesem Zusammenhang auf die ›Grassroots‹-Anteile der Bewegung. Damit ähnelte sie anderen Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts, etwa der Wahlrechts- oder Abstinenzbewegung. Sie war und ist getragen von besorgten Eltern und Bürger*innen, die sich gegen einen als übergriffig empfundenen staatlich-medizinischen Apparat zur Wehr setzen. Insbesondere eine kollektive Kinderimpfpflicht ist dabei immer wieder Ausgangspunkt der Diskussionen, die die Entscheidungsfreiheit der Eltern unzulässig, wenn nicht gar fahrlässig, einschränken würde. Ein derartiger Anti-Impfpopulismus speist sich aus unterschiedlichen Quellen: einem tief verwurzelten Misstrauen gegenüber staatlichen oder medizinischen Expert*innen bzw. Eliten, dem starken Wunsch nach weitgehender Selbstbestimmung in Gesundheitsfragen und massiven Vorbehalten gegenüber konventionellen Impfstoffen und den sie produzierenden Unternehmen.

Der heutige Anti-Impfpopulismus erringt in den Sozialen Medien erstaunliche Beachtung, indem er den bislang geltenden gesellschaftlichen, aber auch den wissenschaftlich-medizinischen Konsens aufkündigt. Für die etablierten Gatekeeper wird es unter diesen Bedingungen immer schwieriger, die Kontrolle über die Deutungshoheit zu erhalten. Nicht zuletzt überschneidet der Anti-Impfpopulismus sich zunehmend mit Formen des Bio-Populismus, den der »Economist« Anfang des Jahres ausgemacht hat: dem Streben nach Einheit, Reinheit und Selbstbestimmung für den Körper wie für die Nation. Impfskeptische Positionen werden somit zum Repertoire des politischen Populismus, wie der »Economist« am Beispiel von Matteo Salvini, Heinz-Christian Strache und Marine Le Pen ausführt, die sich für eine Stärkung der elterlichen Impfentscheidung und gegen eine staatliche Regulierung einsetzen.

Wenn sich Impfskepsis und Misinfodemics mit Anti-Impfpopulismus und politischem Bio-Populismus verschränken, so zeigt sich vor allem, dass die Analyse dieses nahtlosen Netzes ebenso irreduzibel sein muss, um die kontinuierlichen Verschiebungen und Faltungen untersuchen zu können. Es wird deutlich, wie Körper, Technik und Gesellschaft durch das Impfen miteinander verwoben sind und wo der Anti-Impfpopulismus versucht, die Verbindungen zu kappen. Dass diese Reinigungsarbeit nicht immer gelingt, lässt sich schon allein daran erkennen, dass der politische Populismus sehr gerne mit dem mikrobiologischen Referenzrahmen operiert, indem er z.B. Infektion mit Migration vergleicht. Auf besondere Weise steht das Impfen im Zentrum dieser Dynamik, in der das Biologische als Sinnbild des Sozialen und des Technischen gilt und zugleich vom Sozialen und Technischen geprägt wird. Eine reduktionistische Entwirrung dieses Geflechts ist hier nicht in Sicht und würde der Vielschichtigkeit des Gegenstands kaum gerecht werden.

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