Sex-Positivity und postdigitaler Surrealismus
von Katharina Stahlhofen
30.3.2020

Zoë Ligon

Entgegen allen Anscheins einer Aufgeschlossenheit, den die Omnipräsenz sexueller Reize und Anspielungen in unserem Alltag suggeriert, wird Sexualität in unserer Gesellschaft noch immer in hohem Maße tabuisiert, kontrolliert und pathologisiert. Dabei ist die Dialektik zwischen Repression und Befreiung der Sexualität bis heute von einer langen Tradition der sexuellen Verdrängung und sexualfeindlichen Belehrung geprägt, die das Sinnlich-Erotische von einer bürgerlich-christlichen Moral des ‚ethisch Wertvollen‘ ausschließt, und es stattdessen mit Attributen wie ‚sündhaft‘, ‚obszön‘ oder ‚animalisch‘ behaftet. Im kulturellen Doppelstandard der Pornographie finden die sex-negativen Bedeutungsmuster unserer Gesellschaft und deren Widersprüchlichkeiten schließlich eine Zuspitzung: Kaum etwas wird von der Öffentlichkeit derart verschmäht und verurteilt, was sich zur gleichen Zeit im Verborgenen einer so großen und wachsenden Beliebtheit erfreut. 

In einer patriarchalischen Gesellschaft sind Frauen ungleich stärker von einer sex-negativen Ideologie betroffen, da sie dem kulturell-ethischen Doppelstandard von Sexualität in besonderer Weise ausgesetzt sind: Während sie durch den ‚Male Gaze‘ einerseits permanent sexualisiert werden, wird ihre eigene Sexualität in vielerlei Hinsicht unterdrückt, tabuisiert und mitunter gegen sie verwendet. Vor diesem Hintergrund formierte sich in den 1980er Jahren eine sex-positive Subströmung im US-amerikanischen Feminismus, die bis heute wächst und sich als Gegenpol zum repressiven Umgang mit (der weiblichen) Sexualität in unserer Gesellschaft versteht.

Die US-amerikanische Künstlerin und Sexualtherapeutin Zoë Ligon repräsentiert jene sex-positive Strömung des zeitgenössischen Feminismus besonders deutlich. Ein zentraler Aspekt ihrer künstlerischen und edukativen Arbeit ist daher die Enttabuisierung und Normalisierung von (weiblicher) Sexualität. Um ihre Tätigkeit an eine breite Öffentlichkeit zu tragen, nutzt sie das bildbasierte soziale Netzwerk Instagram als primäres Kommunikationstool. Dabei macht sie sich die spezifischen Strukturen, Dynamiken und formalen Bedingungen der Plattform zu eigen, so dass jene nicht unabhängig oder als äußerer Rahmen, sondern als integrativer Bestandteil ihrer künstlerischen Ausdrucksformen verstanden werden müssen. Die Erkenntnis jener Verschmelzung des Inhalts mit dem Medium, das ihn anzeigt und erfahrbar macht, bildet die entscheidende Grundlage dafür, Ligons Gebrauch ihres Körpers als signifikante Methode und Qualität ihrer Arbeit verstehen zu können.

Silvia Eiblmayr analysierte in Die Frau als Bild (1993) mithilfe kunsthistorischer Methoden, inwiefern der Frau in visuellen Repräsentationssystemen eine Bildfunktion zukommt: Als Konsequenz ihrer Position als ‚das Andere’ zum prinzipiell männlich gedachten Subjekt erscheint sie in einer Strukturanalogie zur symbolischen und materiellen Form des Bildes selbst.[1] Dass Zoë Ligons Körper im Mittelpunkt ihrer Onlinepräsenz steht, wirft sogleich Licht auf die Problematiken und Ambivalenzen eines bildbasierten Mediums als Werkzeug, um die Bildfunktion der Frau zu unterwandern. In dieser Hinsicht bedient sich Ligon einer interessanten Taktik, um auf jene Ambivalenzen aufmerksam zu machen: So oszillieren ihre Selbstdarstellungsformen zwischen selbst-objektifizierenden und desexualisierenden Elementen, korrespondierend zu einem ständigen Wechsel zwischen Repräsentationsformen eines unversehrten, ideal-schönen und erotisch-sinnlichen Körpers, die den ‚Male Gaze‘ aufrechterhalten, und solchen, die ihren Körper destruiert und deformiert erscheinen lassen, und damit die Bildfunktion der Frau zu ‚zerstören‘ versuchen. Beharrlich und beinahe auf tragisch-ironische Weise rekurrieren Kommentare ihrer Follower wie „you’re so beautiful“ unterdessen immer wieder auf ihren Bildstatus.

Auffällig ist: Ligons Inszenierungsweisen der Destruktion und Deformation des Körpers erinnern dabei mitunter an die Formensprache der Surrealisten. Diese übersetzt sie jedoch in die digitale Ära, indem sie sich spezifischer post-digitaler Semantiken und Ästhetiken sozialer Medien bedient: Ihren Körper bearbeitet sie etwa mithilfe der softwarebasierten Tools, die ihr von Instagram unmittelbar zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus fügt sie ihren Selbstdarstellungen zuweilen theoretische Reflexionen über Sexualität, ihre Bildfunktion als Frau oder psychologische Mechanismen der Selbstobjektifizierung hinzu.

Im Bewusststein der hohen symbolische Signifikanz des weiblichen Akts, der einst zur Venus transzendiert jahrhundertelang für Vollkommenheit, Erhabenheit und Hochkultur stand, bevor er ab dem 19. Jahrhundert zunehmend dämonisiert und sexualisiert wurde, spielt Ligon mit der Ambivalenz entsprechender Darstellungen. In dem obigen Bildbeispiel fragmentiert und collagiert sie ihren nackten Körper, indem sie Bildausschnitte ihrer Augen auf jene ihrer Körperstellen setzt, die symbolisch mit ‚Geschlecht‘ und ‚Sexualität‘ markiert sind. Eine simple Taktik zur Umgehung der Zensurpolitik von Instagram wird hier zur Reflexion über die kulturelle Kodifizierung von Nacktheit. I know nudity isn’t inherently sexual, but because I had those lines blurred for me I feel like my own gaze is inherently sexualized. Die Augen versinnbildlichen die Instanz des ‚Blicks‘, der man unterworfen ist, sobald man in die intersubjektive Erfahrung tritt, und die jedes Subjekt zum Objekt des Blicks eines Anderen machen kann. Die dualistische Struktur des ‚Sehens‘ und ‚Gesehen-Werdens‘ ist dabei eingebettet in Blickregimen, die den Rahmen dafür vorgeben, welche Dinge wir auf welche Weise betrachten. So sind Blicke mehr als flüchtige Momentaufnahmen, sie sind kulturell geformt; sind Träger von Macht und Normen.

Jene Ästhetik der Zerstörung, derer sich Ligon zuweilen bedient, gilt indes als signifikantes Phänomen der Kunst der Moderne. Sie fand im Kubismus mit der visuellen Zerstückelung des menschlichen Körpers ihren Anfang und nahm im Surrealismus und Wiener Aktionismus mit einem erweiterten Angriff auf das Kunstwerk und Bild selbst ihren Verlauf, wie Eiblmayr ausführt. Jene zwei Ebenen der Destruktion, die des menschlichen Körpers und die des Bildes, verschmolzen schließlich miteinander, sodass der menschliche Körper in entsprechenden Werken strukturell und symbolisch mit der Leinwand verbunden scheint. Wie Eiblmayr anmerkt, geht es in diesen Werken bezeichnenderweise fast ausschließlich um den weiblichen Körper, der für den nach neuen Ausdrucksformen suchenden Avantgarde-Künstler als Instrument für seine ästhetische Formensprache fungierte.[2] Dabei diente die Formensprache des weiblichen Körpers auch der Selbstreflexion des männlichen Künstlers über seine Beziehung zum Kunstwerk, indem er sich seiner Subjektposition gegenüber dem Objektstatus des Bildes und der Frau – die sich nun in einer Strukturanalogie zum Bild befand – versichern konnte.

André Masson: Gradiva (1939)

Doch welchen Effekt haben destruierende und deformierende Inszenierungen des weiblichen Körpers auf die konventionelle Bildfunktion der Frau? Liegt in ihnen das Potential zur Auflösung der symbolischen Einheit von ‚Frau‘ und ‚Bild‘? Oder verstärken sie diese geradezu? Unter Bezugnahme auf kritische Äußerungen zum fragmentarisierten, fetischisierten und verdinglichten weiblichen Körper im Surrealismus äußert sich Eiblmayr wie folgt:

„Der ‚Skandal‘ der surrealistischen Weiblichkeitsinszenierung […] betrifft vor allem den deformierten weiblichen Körper und seine perverse, fetischistische und erotische Symbolik. Diesem ‚perversem‘ Körper das Idealbild eines ‚unversehrten‘ Körpers der Frau gegenüberzustellen […], bedeutet nicht nur den Rückgriff auf eine konventionelle Ästhetik und Abbildtheorie, die erst recht den Mythos von der ‚Frau als Bild‘ aufrechterhält; dieser ‚Konservatismus‘ negiert auch jene Erkenntnisse der Psychoanalyse, nach denen das Bild des ‚ganzen‘ Körpers selbst ein Phantasma ist.“[3]

Hinter der Idee des „ganzen“ oder „unversehrten“ weiblichen Körpers, der vor surrealistischen Darstellungsformen geschützt und bewahrt werden müsse, stehe zudem nur die „Wiederholung der männlichen Illusion vom autonomen Subjekt, die sich mittels einer normativen Ästhetik abzusichern sucht“.[4] Dort, wo das System der sprachlichen oder bildlichen Repräsentation jedoch direkt angegriffen wird, sieht Eiblmayr hingegen das Potential für ein subversives Moment: Begreife man die surrealistische Methode als Kritik an der (fiktiven) Autonomie des Bildes, könne die Konzeption der Frau in surrealistischen Werken gar als notwendige Voraussetzung verstanden werden, um den Status der Frau als Bild ins Bewusstsein zu rücken.[5] 

Was bedeutet das nun für die weibliche Künstlerin, die sich selber zum Gegenstand des Kunstwerks macht und hierfür körperbezogene Ausdrucksformen wählt? Schließlich kann sie im Gegensatz zum männlichen Künstler das Bild der Frau im und als Kunstwerk nicht zum dialektischen Gegenpol in der Selbstreflexion ihrer Beziehung zum Werk erklären und sich somit ihrer Subjektposition versichern, da sie sich in der Doppelfunktion befindet, Bildproduzentin und Bild zu sein; Subjekt und Objekt. Die Widersprüche zwischen den theoretisch-ideologischen Positionen und der gestalterischen oder performativen Praxis feministischer Künstler*innen scheinen sich daher immer wieder an dem Dilemma zu offenbaren, dass der Gebrauch des eigenen Körpers im Versuch der Dekonstruktion männlicher Zuschreibungen nicht eindeutig von einer selbstausbeuterischen erotischen Dar- und Zurschaustellung separiert werden kann.[6] Ligons Selbstinszenierungen weisen unterdessen jenes Bewusstsein über die „repräsentative Verfaßtheit“ ihres Körpers auf, das laut Eiblmayr notwendig für weibliche Künstler*innen ist, um durch Selbstdarstellungen kritisch Bezug zum Status der Frau ‚als Bild’ zu nehmen. Self objectification is an act we use to be heard, but the *performance* of sexy can detract from your ability to cultivate sexuality from within. I know I’ve made this patriarchal bargain in my lifetime. 

Ihre Strategie manifestiert sich dabei auf mehreren Ebenen. So entscheidet sie sich weder für eine ausdrückliche Verteidigung ihres ‚unversehrten‘ Körpers, noch für eine dezidierte ‚Zerstörung‘ normativer Ideale und männlicher Zuschreibungen. Vielmehr oszillieren ihre Selbstdarstellungsformen gerade zwischen selbst-objektifizierenden und de-sexualisierenden Elementen, zwischen Affirmation und Zerstörung der Bildfunktion der Frau. Diese Ambiguität ermöglicht es ihr, vermeintliche Kontinuitäten und angewöhnte Antagonismen in Frage zu stellen. 

Ligon weist auf die Widersprüche hin, die notwendigerweise entstehen, wenn eine Gesellschaft etwas so Komplexes und Lebendiges wie Geschlechtsidentität und Sexualität in starre Binaritäten einteilen möchte. Ihre radikal variierenden Selbstinszenierungen machen dahingegen auf die Performativität von Konzepten wie ‚Weiblichkeit‘ oder ‚Sexyness‘ aufmerksam, indem sie die vernaturalisierenden Tendenzen von Geschlechterkategorien als letztlich willkürliche Projektionen entlarvt  und stattdessen ein Verständnis von Geschlechtsidentität als flexibles, unendlich wandelbares Kontrukt fördert. Performativität bedeutet auch Veränderbarkeit. Mit der Erkenntnis, dass Geschlechtsidentität kein festgeschriebener Status ist und die Dinge immer auch anders sein könnten, öffnet sich der Raum für Reinterpretationen: Im Fall von Ligon bedeutet das, dass sie sich Repräsentationsformen normativer Schönheits- und Weiblichkeitsideale bedient, um diese umzudeuten und semantisch mit einer radikal sex-positiven Philosophie zu verknüpfen, die eine Enttabuisierung von Sexualität im Allgemeinen und weiblicher Masturbation im Besonderen umschließt. Somit wirft sie noch einmal Licht auf das von Eiblmayr erwogene psychologische Moment, das den weiblichen Körper möglicherweise aus seinem Bildstatus herauslösen kann, indem sie die – ohnehin diffuse – Grenze zwischen Subjekt- und Objektposition immer wieder bewusst und demonstrativ überschreitet, und durch das Sichtbarmachen ihrer Doppelposition als Bildproduzentin und als Bild auflöst. Der Gebrauch ihres eigenen Körpers wird somit zum Schlüsselmoment, da es jenes repetitive Überschreiten der Grenze zwischen Subjekt und Objekt ist, das die Bildfunktion der Frau zu destabilisieren vermag, und das sie nur anhand ihrer Doppelposition demonstrieren kann. How do we distinguish between empowerment and oppression of our bodies? Are we asserting our sexuality or exploiting it? Could it be both?

Damit schreibt sich Ligon nicht zuletzt in die Tradition körperbezogener Ausdrucks- und Aktionsformen ein, die spätestens seit der zweiten Welle der Frauenbewegung fester Bestandteil feministischer Protestpraktiken sind. Dass jene Tradition bis heute auf vielfache Weise ihre Fortführung findet, deutet daraufhin, dass Weiblichkeit nach wie vor, vermutlich sogar stärker denn je, über Körperlichkeit definiert und aufgeladen ist, und infolgedessen Protestformen hervorbringt, die notwendigerweise mit, über und durch den Körper verhandelt werden müssen. Soziale Medien wie Instagram bestimmen indes den Diskursrahmen für feministische Körper- und Bildpolitiken mit und bringen zugleich neue Strategien hervor. In diesem Zusammenhang fällt nicht selten die tendenziell abwertende Bezeichnung „Instagram Girl“ für junge Künstler*innen, die ihre Kunst primär im Rahmen der bildbasierten Plattform produzieren und ausstellen. Die Verwendung des Wortes „Girl“ ist dabei symptomatisch für die Infantilisierung, Bevormundung und gleichzeitige Fetischisierung junger Frauen, und verweist darüber hinaus auf die fehlende Anerkennung spezifisch weiblicher Kunstformen. Doch wie so oft haben diejenigen, die mit einer abwertenden Bezeichnung diffamiert werden sollen, sich dieser längst bemächtigt, indem sie sie – teils auf halb-ironische Weise, teils mit selbstverständlicher Ernsthaftigkeit – für sich selbst beanspruchen.

„What can 21st Century Instagram girls learn from art history?“ — „I think the Instagram girl is already part of art history.“ Audrey Wollen, Interview in dazeddigital[7]

 

Katharina Stahlhofen studiert Medienkulturanalyse an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und war seit 2015 für diverse kulturelle Institutionen in Köln, Berlin und Glasgow tätig. Sie beschäftigt sich mit feministischer Theorie, Körperpolitik, Raumsoziologie, Postkolonialismus und Ideologiekritik.

 

Anmerkungen

[1] Eiblmayr, Silvia: Die Frau als Bild: Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin: Reimer 1993, S. 202
[2] Ebd. S. 86.
[3] Ebd. S. 92.
[4] Ebd.
[5] Ebd. S. 90.
[6] Vgl. ebd. S. 23.
[7] Lucy Watson: How girls are finding empowerment through being sad online, Interview mit Audrey Wollen, in: https://www.dazeddigital.com/photography/article/28463/1/girls-are-finding-empowerment-through-internet-sadness

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