Social Media Mai
von Anika Meier
18.5.2018

Kunst nach den Sozialen Medien: Wie die Kunst gewinnt

Das Gespräch zwischen Petra Collins und Marilyn Minter beginnt, als wäre ihr der Heiland erschienen. Minter steigt mit einer Liebeserklärung ein: „Just to start, here’s what I love about you: you’re the punk, the one I’ve been looking for.“ Den Grund nennt sie natürlich auch: „I’ve been saying there’s a backlash to this Photoshop-robotic-auto-bullshit, and you’re it. I’ve been waiting for you.“[1] Collins ist für sie die Rettung vor der Barbiefizierung der Werbeindustrie, die Frauen immer noch schlanker und makelloser zeigen möchte. Die beiden tauschen sich über ihre Karrieren aus. Auf der einen Seite ist die Grande Dame Marilyn Minter, 70 Jahre alt, die – wie sie Collins erzählt – von der Kunstwelt 1992 verstoßen und als Verräterin des Feminismus wegen ihrer explizit pornografischen Werke scharf kritisiert wurde. Heute wird sie dafür gefeiert. Auf der anderen Seite ist die kanadische Fotografin Petra Collins, 25 Jahre jung, das Postergirl der neuen Künstlergeneration, die durch Soziale Medien wie Tumblr und Instagram bekannt wurde. Sie hat mittlerweile knapp 760.000 Follower auf Instagram. 

Ihr Leben lang sei sie kritisiert worden, sagt Minter, aber sie, Collins, habe heute ganz andere Möglichkeiten. Ihre Generation könne sie sehen, während sie selbst für ihre Generation damals nicht sichtbar gewesen sei. Der Hauptgrund dafür, erklärt ihr Collins, sei das Internet. Weil sie für sich und andere Mädchen vor Jahren keinen Platz gefunden hat, an dem sie ihre Arbeiten zeigen und sich austauschen können, hat sie beispielsweise im Jahr 2010 die Online-Plattform The Ardorous ins Leben gerufen.[2] Collins schreibt in ihren Büchern offen darüber, dass sie in der Pubertät ein verzerrtes Bild von sich selbst gehabt habe, weil ihr in Magazinen, in Filmen und im Fernsehen gezeigt wurde, dass sie sich als junge Frau durch ihr Äußeres zu definieren habe, um männlichen Zuspruch zu bekommen. Also hielt sie sich an genau das, was ihr in Magazinen, in Filmen und im Fernsehen gezeigt wurde.[3] Im Gespräch mit Minter sagt sie jetzt: 

„Well, that’s what people are going to see. Those are the audiences that you need to reach. TV and movies, ads, are the vehicles that give us all of our information. Even if you’re not seeking it [as a viewer], you’re getting it anyway. It’s our duty to change it by working inside of it, instead of just creating elite art, because that’s not going how people see the world.“[4]

Sie kehrt der Kunst nicht den Rücken, die Kunst ist ihr nur einfach nicht genug. Der Erfolg in der Kunstwelt steht für sie an zweiter Stelle. Minter kommt wieder auf die Vergangenheit zu sprechen und bekräftigt Collins: „High and low cultures weren’t melded like they are today. I love you millenials because you are not elitist!“[5] Collins wiederum erklärt ihr, dass ihre Generation wisse, wie wichtig der Informationsfluss sei, weshalb sie selbst in beiden Welten zu Hause sein wolle, in der Mode und in der Kunst, weil so die Bilder mehr zirkulieren würden.

Und hier liegt vielleicht das Missverständnis, wenn Kunstkritiker und Kunstwissenschaftler sich mit den Werken dieser neuen Künstlergeneration befassen. Das Ziel ist nicht in erster Linie, Kunst zu schaffen, die Kunstkritiker als gute Kunst loben. Wie will man heute überhaupt noch allgemeinverbindlich zu einem Urteil kommen? Unter dem Titel „Soziale Medien und Aneignungsstrategien: Wie die Kunst ins Hintertreffen geraten ist“ kritisierte Annekathrin Kohout an dieser Stelle im April, wie zeitgenössische Künstler und besonders junge Künstler auf Bilder aus den Sozialen Medien reagieren. Sie schreibt: „Und es zeigt sich: Meistens nur mit den gleichen gängigen Aneignungsverfahren. Darin besteht eine gewisse Tragik: Die Kunst vermag nicht darauf zu antworten, dass man ihr ihre einschlägigen Techniken weggenommen hat.“ Gemeint sind unter anderem Appropriation und Reenactment, als Beispiele dienen ihr Richard Prince, Ai Weiwei und junge Künstler wie Stephanie Sarley, die aus dem Netzphänomen Food Porn so etwas wie Fruit Porn macht, um damit humorvoll und verspielt einer feministischen Agenda zu folgen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die weibliche Sexualität. Das Fazit von Kohout: 

„Reicht die Wiederholung und Deklarierung als Kunst noch aus? Nein, das genügt nicht. Ob bei Hyun, Sarley oder Freier: Bleiben die Referenzen bei einer Aneignung unerwähnt, stellt die Zuordnung ‚Kunst‘ nur noch eine bloße Machtgeste dar. Sie dient lediglich dazu, den Bildern mehr Bedeutung zu verleihen als jene sie haben, die Laien im Internet veröffentlichen. (…) Doch wer sich künstlerisch mit vorhandenen Bildern beschäftigt, sie affirmiert oder kopiert, sollte künftig auch auf die Bilder der Laien im Netz, die auf die gleichen Strategien und Techniken zurückgehen, antworten können. Zumindest dann, wenn gute Kunst daraus werden soll.“

Vor fast einem Jahr hat der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich in seinem Essay „Zwischen Deko und Diskurs“ auf ein Schisma in der Kunst hingewiesen. Er unterscheidet zwischen Werken für Kuratoren, die das Distinktionsbedürfnis der Diskurseliten bedienen, und Werken für den Markt, die das Diskursbedürfnis der Superreichen befriedigen. Beide würden sich soweit abspalten, dass der gemeinsame Begriff Kunst nicht mehr zutreffe. „Im Gegenteil hat man sich, je weiter man auseinanderdriftet, umso weniger zu sagen. Schließlich nimmt man sich gegenseitig kaum noch wahr“, so Ullrich. Dass diese Abspaltung aufgrund eines Abhängigkeitsverhältnisses eher unwahrscheinlich ist, darauf hat schon bald der Modeblogger Carl Jakob Haupt hingewiesen. Haupt schreibt: „Das klang für mich erst einmal schlüssig, aber dann dachte ich, dass der erstere Bereich, der Kunst sozusagen als sehr teure Dekoration vertreiben würde, doch die Distinktion des zweiten Bereiches bräuchte, um die hohen Preise zu rechtfertigen, die ihn ermöglichten und eine Abspaltung schon deshalb nicht passieren würde.“[6]

Die junge Künstlergeneration, die sich wie Stephanie Sarley, Arvida Byström, Molly Soda, Amalia Ulman, Alexandra Marzella, Andy Kassier, Signe Pierce uvm. in den Sozialen Medien einen Namen macht, ist nicht – und darum beneidet Minter Collins – vom Markt und Kuratoren abhängig. Gatekeeper wie Kritiker und Kuratoren verlieren im Zeitalter des Internets an Bedeutung.[7] Als die Kunstwelt Minter die Türe vor der Nase zugeschlagen hatte, musste sie warten, bis ihr wieder aufgemacht wurde. Junge Künstler finden ihr Publikum heute dort, wo sie selbst als Digital Natives zu Hause sind: In sozialen Medien wie Tumblr und Instagram. Das Distinktions- und Diskursbedürfnis der eigenen Peergroup wird bedient. Genau in diesem Kontext muss die Kunst funktionieren, sprich verstanden werden. Und genau dort wird sie auch bewertet. Die Währung sind Likes, Kommentare und Follower. 

Was hat sich durch die sozialen Medien für Künstler verändert?

Im Jahr 2006 saßen in New York auf einem Panel moderiert von Lauren Cornell zum Thema „Net Aesthetics 2.0 Conversation“ Cory Arcangel, Michael Bell-Smith, Michael Connor, Caitlin Jones, Marisa Olson und Wolfgang Staehle. Cory Arcangel ist für seine Arbeit „Super Mario Clouds“ bekannt. Vom Nintendo Spiel Super Mario Brothers hat er nur die Wolken übriggelassen. 

Diese Arbeit, das erzählte er auf dem Panel, hat er für das Internet gemacht, weil er nicht die Möglichkeit hatte, in einer Galerie auszustellen. Später wurde ihm angeboten, das Video in einer Galerie zu zeigen, und so wurde daraus eine Installation.  

Das Internet und die Sozialen Medien führen zu mehr Sichtbarkeit, sie führen aber auch dazu, dass Künstler sich plötzlich einen Raum mit Laien teilen und neben ihnen um Aufmerksamkeit kämpfen. Cory Arcangel brachte diese künstlerische Krise auf dem New Yorker Panel auf den Punkt. Er sagte: 

„All this stuff out there made by all these people is probably better than the stuff I’m making. How do you deal with that? That’s one part of the question, and the second part of the question is where do I fit in with that, because essentially I’m doing the same thing that they are. As an artist, what is my role in the internet? The first part is like a daily battle. I call it the fourteen-year-old Finnish-kid syndrome. Basically there are people doing things on the internet right now that are above and beyond. I will see stuff daily and think, Oh my God, that’s the greatest thing I’ve ever seen in my life, and in an art context it could work. (…) I think of it as a real benefit, as someone who’s making work right now, because I not only have this community of friends that I trust and we’re always bouncing projetcs around, but I also have this global community that inspires me on a daily basis, and that I have to keep abreast of. In a way, my daily battle is just to try to, when I make something, make sure that it not only fits in an art context but that it also fits in online.“[8]

Während früher allein Künstler und Institution den Kontext bestimmt haben, mischt in den Sozialen Medien der Rezipient mit, indem durch Rebloggen und Teilen ein neuer Kontext entsteht – der Rezipient wird gleichzeitig zum Produzenten.[9] Wer in den Sozialen Medien unterwegs ist, stellt zwangsläufig Inhalte in (neue) Bedeutungszusammenhänge, seien es eigene Bilder und Texte oder seien es fremde Bilder und Texte. Was dabei allerdings zuerst verloren geht, sind die Informationen über den Urheber wie Name, Titel und Entstehungsdatum.[10] Brad Troemel merkt an: „Such contextual information is occasionally omitted on purpose as a way for a savvy Tumblr owner to wink at a historically informed audience whose members are quickly able to identify the work without description.“[11]

Eine Erwähnung der Referenzen würde folglich der Kultur der Digitalität (Felix Stalder) mit ihren referentiellen Verfahren wie Mem, Mashup, Appropriation, Remix uvm. widersprechen. Denn es ist gängige Alltagspraxis im Internet, von Laien und Künstlern zugleich, sich referentieller Verfahren zu bedienen.[12] Die Referenzpunkte werden als bekannt vorausgesetzt, da man sich gemeinsam zur gleichen Zeit in einem digitalen Raum aufhält. Viralhits verbreiten sich innerhalb weniger Tage, manchmal sogar in wenigen Stunden und Minuten.

Um Beispiele zu bringen: Künstler wie Amalia Ulman und Andy Kassier, die in ihren Performances auf Instagram weibliche und männliche Rollenklischees thematisieren, sind so erfolgreich, weil der aufgespannte Referenzrahmen nur zu gut bekannt ist. Auf Instagram begegnen wir täglich der sexy jungen Frau, die sich ganz authentisch gibt und einen Lifestyle inszeniert, der Schönheit, Sex und Glamour zelebriert. Wir kennen auch alle den jungen Mann, der gutaussehend und erfolgreich um die Welt jettet und auf Instagram seine Macht und Stärke demonstriert. Natürlich könnte man jetzt sagen: Vielen Dank, ja, aber nein, Selbstinszenierung in den Sozialen Medien führen täglich hunderte Influencer ad absurdum, das müssen sich nicht auch noch Künstler zur Aufgabe machen. Doch, das müssen sie, denn es ist Aufgabe der Kunst gesellschaftlich relevante Fragestellungen zu reflektieren. Und im Internet kann die Kunst nur gewinnen, denn sie erreicht Menschen in ihrem Alltag. Dort, wo sie vielleicht am Wenigsten damit rechnen. 

Oben: Instagram-Post des Profils „Rich Kids Of Instagram“; unten: Instagram-Post aus dem Profil des Künstlers Andy Kassier

 

Anmerkungen

[1] Petra Collins: Coming of Age. New York: Rizzoli 2017, S. 88.

[2] Ein Buch folgte. Petra Collins: Babe. München, London, New York: Prestel 2015.

[3] Ebd., S. 8f.

[4] Collins 2017, S. 89.

[5] Ebd., S. 89.

[6] Carl Jakob Haupt: Bilder von allem, Bilder von Nichts. In: Tagesspiegel Berliner, 9.9.2017, S. 12-23, hier S. 22.

[7] Siehe hierzu auch Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, S. 141. „Hinzu kommt, dass die Funktion des Kritikers, der über das Interpretationsmonopol verfügt, um ein Bild für alle verbindlich zu bewerten, kaum noch von Bedeutung ist. Die Qualität eines Bildes wird stattdessen primär danach beurteilt, ob ‚andere es mögen’, also danach, wie es im kontinuierlichen Popularitätswettbewerb innerhalb einer bestimmten Nische abschneidet.“

[8] Net Aesthetics 2.0 Conversation, New York City, 2006: Part 1 of 3, in: Mass Effect. Art and the Internet in the Twenty-First Century, hrsg. von Lauren Cornell und Ed Halter. Cambridge: The MIT Press 2015, S. 99-106, hier S. 104.

[9] Dazu auch ausführlich Stalder 2016.

[10] Siehe dazu Brad Troemel: Art After Social Media, in: You Are Here. Art After the Internet, hrsg. von Omar Kholeif. London: Cornerhouse 2014, S. 36-43, hier S. 39.

[11] Ebd., S. 39f.

[12] Ausführlich nachzulesen in Stalder 2016.

 

Anika Meier ist Kunstwissenschaftlerin, freie Autorin und Kuratorin. In ihrem Blog für das Kunstmagazin Monopol schreibt sie über Kunst in den Sozialen Medien. Auf Instagram betreibt sie das Fotografie-Projekt This Ain’t Art School.