Der Prophet von Hollywood. Love: »Forever Changes«
von Uwe Schütte und Christoph Jürgensen
20.3.2017

50 Jahre 1967

Arthur Lee is not of this world. He lives in a world of his own creation.
(Jac Holzman)

And if you want to count on me / Count me out.
(Arthur Lee, „The Red Telephone“)

Es war der Abend des 15. Januar 2003. In der ausverkauften Royal Festival Hall am Ufer der Themse erwarteten rund 2500 Menschen gespannt den Auftritt eines Musikers, den kaum jemand unter ihnen je zuvor auf der Bühne gesehen hatte: Arthur Lee, erst ein paar Monate vorher nach einer fünfeinhalb-jährigen Haftstrafe wegen illegalen Waffenbesitzes und anderer Vergehen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, spielte sein legendäres Album Forever Changes, das im November 1967 erschienen war. Der Auftritt stand am Anfang einer – wie man in diesem Fall tatsächlich sagen darf – triumphalen Tour durch Europa und die USA.

Vergleichbare Live-Erfolge waren der Band Love, die von Lee 1965 in Los Angeles gegründet wurde, in den Jahren ihres Bestehens nicht vergönnt, unter anderem, weil sich Lee damals weigerte, die Stadt zu verlassen und auf Tour zu gehen. In den sechziger Jahren verbarrikadierte sich der menschenscheue Bandleader am liebsten in seiner Villa hoch in den Hügeln über Los Angeles, und vielleicht überlebte er deshalb – trotz seines nicht geringen Drogenkonsums – die Exzesse, denen Freunde, Labelgenossen und enge Weggefährten wie Jim Morrison, Jimi Hendrix oder Janis Joplin zum Opfer fielen.

Bald nach der Veröffentlichung von Forever Changes löste sich Love auf, sodass sich Lee auf der 2003er Tour von einer Band namens Baby Lemonade unterstützen ließ, die ursprünglich zusammengekommen war, um Love-Songs zu covern oder von ihnen beeinflusste zu schreiben. Nie hätten sie sich wohl träumen lassen, mit ihrem Idol einmal selbst in ausverkauften Konzerthallen aufzutreten.

Der vom elektrisierten Londoner Publikum begleitete Auftritt von Arthur Lee und Baby Lemonade ist grandios. Die Band ist mindestens genauso gut wie die originalen Love, ihre Spielfreude harmoniert aufs Beste mit dem auffällig souverän agierenden Lee, dessen reiner Bariton die Show bestimmt, aber auch immer wieder zurücktritt, um die vertrackten Arrangements der Stücke samt Streichern und Bläsern wirken zu lassen.

 

Im Alter von 58 Jahren war Arthur Lee wieder auf der Höhe seines Ruhms angekommen, wie damals von 1966 bis 1968 während der Hippie-Bacchanalien, wenngleich er seine dauerhaften psychischen Probleme wie auch seinen Drogenkonsum nie wirklich überwunden hatte. Zu seinem späten Erfolg erklärte Lee:

„Ich werde die ganze Zeit gefragt, wie es sich anfühlt, mit einem Album auf Tour zu sein, das ich vor 35 Jahren aufgenommen habe. Dazu kann ich nur sagen, es ist toll, denn das Album ist heute noch so gut wie damals, als ich es schrieb. Und vielleicht ist gerade jetzt die richtige Zeit, um damit auf Tour zu gehen.“[1]

Keine drei Jahre nach der Forever Changes-Tour war Arthur Lee tot: Er starb am 3. August 2006 in Memphis, Tennessee, an Leukämie, keine 62 Jahre alt.

„A black freak in a white world“ – Lee als Einzelgänger und Enigma

„Sitting on a hillside, / watching all the people die. / I feel much better on the other side“, singt Arthur Lee in „The Red Telephone“, dem letzten Song auf der ersten Seite von Forever Changes. Eine Schreckensvision, die man auf mancherlei Weise deuten kann, zumal wenn man weiß, dass Lee damals in einem luxuriösen Anwesen oberhalb von Los Angeles lebte und von dort aus auf die sündhafte Stadt hinabblickte. Er bevorzugte die Distanz zur durchgeknallten psychedelischen Traumwelt aus Blumen und Drogen, Sex und Revolution der Hippies.

Die ominösen Zeilen aus „The Red Telephone“ lassen sich so zunächst lesen als Außensicht auf eine nur scheinbar friedliche Jugendkultur, in der die Drogen nicht nur die Pforten der Wahrnehmung, sondern auch jene zu einem Milieu aus Wahnsinn, tragischen Todesfällen und sogar Vergewaltigungen und Mord öffneten. Doch der Songtitel, der sich auf die im Kalten Krieg berüchtigte Standleitung zwischen den Supermächten bezieht, greift unübersehbar auch die damalige politische Lage auf, die eben weitaus komplexer und verwickelter war, als dass ein simples „Make love, not war“ sie hätte lösen können. Man denke nur an die ultimative Verteidigungsdoktrin der gegenseitigen nuklearen Ausrottung oder auch an den Stellvertreterkrieg in Vietnam, gegen den die Protestbewegung der Hippies sich vornehmlich richtete. Im Umfeld der anderen Songtexte des Albums lassen sich die ersten beiden Zeilen von „The Red Telephone“ daher ganz unterschiedlich interpretieren: So wäre zum einen an die Vision eines Schreckenspropheten gemäß eines mystisch-gnostischen Weltbildes zu denken, zum anderen evoziert „hillside“ aber auch einen Feldherrenhügel, von dem aus die politischen Entscheidungsträger das (ferne) Kriegsgemetzel in zynischer Distanz beobachten.

Vor allem aber zeichnet sich Arthur Lee in diesen Zeilen mit sanfter und klar prononcierender Stimme als einzelgängerischer Prophet, der denkbar uninteressiert daran ist, seinen Berg zu verlassen und die Menschlein dort unten an seinem Geheimwissen um die „andere Seite“ teilhaben zu lassen. Gerade im Vergleich mit Lees Bekanntem Jimi Hendrix und Jim Morrison, der 1967 nicht nur zu „Break On Through (To The Other Side) aufrief, sondern sich auch anschickte, Arthur Lee den Titel des „prince of Sunset Strip“ zu entreißen, ist erkennbar, mit wie viel Skepsis der Love-Frontmann zur gleichen Zeit dem Rollenbild vom Rockstar als psychedelischem Seelenführer begegnete.[2]

Forever Changes ist voll von solchen Bezugnahmen auf das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, dem zum Anführer erhöhten Star einerseits und seinen Fans und Followern andererseits: Ob das nun Entfremdungsgefühle im berühmten Club Whisky A Go Go sind („And here they always play my songs / And me, I wonder if it’s / Wrong or right“); oder die Schlusszeilen von „The Red Telephone“, die das Hippie-Mantra „Freedom“ in das Gelalle eines Narren überführen; oder die gegeneinander ansingenden Perspektiven des polyamoren Überzeugungstäters („You know that I could be in love with almost everyone “) und des einsamen Leidenden, für den trotz der ganzen Liebe niemand übrigbleibt („And I will be alone again tonight, my dear“), im hippiesk-fröhlichen „Alone Again Or“.

Mit wie viel Ernst ein bekennender loner wie Arthur Lee im selben Song die Zeile „I think that people are the greatest fun“ gesungen hat, kann man sich vorstellen. Das Frustrationspotenzial des abwesenden „free-loving spirit“ liefert dieser Album-Opener mit der warmen, süßlichen Melodie gleich mit, am Ende bleibt von der aufwändigen Orchestrierung nur die einsame Akustikgitarre des Alleingelassenen.[3]

Im Umfeld der kalifornischen Blumenkinder war Arthur Lee jedenfalls eine singuläre Figur. Ein komplizierter, düsterer und verschlossener Charakter, der mehr als nur einmal mit dem alten Klischee von der Nähe zwischen Genie und Wahnsinn beschrieben wurde: oft paranoid, mal manisch, mal depressiv. Und dieser Geniewahrnehmung entsprechend wurden seine Platten auch vom zeitgenössischen Publikum aufgenommen, als „,mit das Beste was Los Angeles in den 60ern zu bieten hatte, und alle [seine Songs] drehten sie sich um das Ying und Yang der Schönheit und der Wut, Anmut und Psychose.“[4] Oder wie es David Anderle, ein Wegbegleiter aus Lees Plattenfirma Elektra Records formulierte:

„Mit Arthur war nur schwer zurechtzukommen. […] Er hatte ständig vor irgendetwas Angst und konnte nie sagen, was es war. Er war ein echtes Rätsel. […] Ich halte ihn wirklich für einen der ganz großen Genies aus LA: Brian [Wilson], [Captain] Beefheart, Zappa, Neil Young, Arthur […] sie alle waren irgendwie getriebene, einsiedlerische, rätselhafte Leute.“[5]

Diese Zurückgezogenheit, in der sich Arroganz, Angst und Gleichgültigkeit auf eine merkwürdige Weise vermischte, hatte ihren Preis, denn Lee hätte, nicht nur vorübergehend, einer der ganz großen Namen im Rockgeschäft werden können.

Lees Weigerung, außerhalb von L.A. zu spielen, führte nicht nur dazu, dass Love erst 1968 in New York auftraten, sondern auch zu einer in einem Akt von Selbstsabotage verschmähten Einladung zum Monterey Pop Festival im Juni 1967.

Der Grund dafür, neben persönlichen Vorbehalten gegen einen der Veranstalter, war ein kategorischer Imperativ, nie im Leben ohne Honorar aufzutreten.[6] Dass sich der Verzicht auf ein Honorar durch die Teilnahme am Festival kommerziell dennoch ausgezahlt hätte, war allen Beteiligten völlig klar. An Lees Haltung änderte das allerdings nichts.

Singulär war an Love zudem der für diese Zeit bemerkenswerte Umstand, dass es sich um die wahrscheinlich erste Rockband handelte, in der schwarze und weiße Amerikaner zusammenspielten – auch wenn dieses Alleinstellungsmerkmal von der Gruppe stets kleingeredet oder gar gänzlich negiert wurde. So versicherte etwa Bryan MacLean: „Wir haben uns nie darum gekümmert, dass wir eine multi-ethnische Band waren, auch die Bürgerrechtsbewegung war uns egal.“[7]

Die Vorgeschichte von Forever Changes

Die Geschichte von Love beginnt 1965, als der damals 20-jährige Lee ausgerechnet jenen Begriff zum Bandnamen machte, der nicht nur dem Sommer 1967 seinen Namen geben, sondern die gesamte Subkultur der späten sechziger Jahre prägen sollte. Aufgrund der Spannungen, die aus Lees autokratischem Verhalten resultierten, hätte Drummer Alban Pfisterer allerdings „hate“ für treffender gehalten: „In dieser Gruppe gab es nichts, was den Namen Liebe verdient hätte. Es ging nur um Hass. Das hätte der Bandname sein sollen.“[8]

Ein Jahr später erschien das gleichfalls Love benannte Debütalbum, das passablen, aber keinesfalls herausragenden psychedelischen Rock enthielt. Im November 1966 folgte dann das zweite Album Da Capo, das von geradezu barockem, dezidiert psychedelischem Folk geprägt wurde. Da Capo enthielt unter anderem das monumentale Stück „Revelation“, das die komplette B-Seite in Anspruch nahm. Aufregender als die knapp 19 Minuten dauernde orchestrale Soundcollage waren aber die Stücke der A-Seite, nämlich sechs meisterliche Songs, die Psychedelia und Punk Rock mit Latin- und Broadway-Einflüssen vermischten.[9] Herausragend darunter ist vor allem „Seven and Seven Is“, ein Proto-Punksong mit vorwärts treibendem Rhythmus, aggressivem Gitarrenspiel – und als Schlusseffekt ein Explosionsgeräusch, das die Detonation einer Atombombe imitierte. So etwas hatte man zuvor noch nie gehört, weshalb ihn Barney Hoskyns zurecht als „one of the great rock singles of the ’60s“[10] ansieht.

Da Capo war insofern weniger eine Wiederholung des Vorgängeralbums als vielmehr ein bedeutender Entwicklungsschritt mitsamt dem Versprechen, es das nächste Mal noch besser zu machen. Die Nachfolgerplatte sollte dann noch stärker in die akustische Richtung gehen. Doch es gab ein Problem: Kaum war Da Capo erschienen, machte Tourmanager Neil Rappaport die Band mit Heroin bekannt, und schnell waren einige der Bandmitglieder mehr oder weniger abhängig davon. Frontmann Lee hingegen bevorzugte zwar ohnehin Kokain, wenn es um Amphetamine ging, Heroin konsumierte er – zumindest nach eigener Aussage – nur in moderatem Ausmaß. Aber in kalifornischen Musikerkreisen, in denen die Droge als inkompatibel mit dem blumigen Zeitgeist von Frieden und Liebe angesehen wurde, drängte die Heroinsucht die Band noch weiter in die Außenseiterrolle.

Die Umstände, unter denen Love Anfang Juni 1967, auf dem Höhepunkt des summer of love, ins Studio gingen, sind oft verzerrt dargestellt worden. Denn es war nicht der übermäßige Drogenkonsum, der ein zielgerichtetes Arbeiten an Forever Changes unmöglich machte, vielmehr lag es an persönlichen und künstlerischen Differenzen. Die Bandmitglieder kamen beispielsweise mit zahlreichen Eigenkompositionen ins Studio, die dann jedoch allesamt abgelehnt wurden, weil die Stücke des Bandleaders Lee Priorität hatten. Das frustrierte insbesondere MacLean, selbst ein hervorragender Songschreiber, wie der Opener „Alone Again Or“ hinreichend unter Beweis stellt. Zudem konnten die so ambitionierten wie introspektiven Stücke, die Lee für das Album vorschwebten – das intern den quasi-religiösen Arbeitstitel „The Third Coming of Love“[11] trug –, nicht einfach spontan eingespielt, sondern mussten gründlich einstudiert werden.

Kurzum: Da im Studio nichts vorwärts ging, platzte Lee und auch Produzent Bruce Botnick angesichts des Zeitdrucks der Kragen. Nicht zuletzt um die passiven Bandmitglieder aufzurütteln, engagierte man vier teure Session-Musiker, die vor den Augen der schockierten Band in kurzer Zeit drei Songs aufnahmen. Zwei davon, „The Daily Planet“ und das meisterhafte „Andmoreagain“, landeten dann tatsächlich auf Forever Changes.

Die Schocktherapie der demonstrativen Ausgrenzung der Musiker half: Sie gelobten Besserung, und man unterbrach die Aufnahmen für zwei Monate, um ihnen die Gelegenheit zu geben, ihre Parts in den komplexen Arrangements einzuüben. Als es Mitte August dann wieder ins Studio ging, klappte alles wie am Schnürchen: Nach einer Woche waren die Grundgerüste aller Songs im Kasten. Nun konnte Lee, unterstützt vom professionellen Arrangeur David Angel, daran gehen, die orchestralen Ausschmückungen und Verzierungen durch Bläser und Streicher als Overdubs hinzuzufügen.

Dass man Rockmusik orchestrierte (und manchmal sogar darin ertränkte), war im Herbst 1967 nicht mehr ganz neu. Neu jedoch war die ungewöhnliche, geradezu organische Weise, in der Lee und Angel die orchestralen Elemente in die Stücke auf Forever Changes einfügten. Entgegen weitverbreiteter Annahmen hat Lee kein einziges Instrument auf seinem Meisterwerk selbst gespielt, sondern stand als Dirigent hinter der Glasscheibe im Produktionsraum. Er war zwar weder in der Lage, Noten zu schreiben, noch sie zu lesen, aber er hatte wahrlich unerhörte Musik in seinem Kopf, und er verstand es, sie mithilfe seiner Band hörbar zu machen.

Die Fertigstellung von Forever Changes dauerte bis September, sodass das Album im November 1967 erscheinen konnte – ein ungünstiger Zeitpunkt, mitten hinein in die Flut der Neuerscheinungen im Weihnachtsgeschäft. Überdies herrschte im Jahr 1967 an konkurrierenden wegweisenden Alben nun wahrlich kein Mangel, die Konsequenz: Forever Changes ging praktisch sang- und klanglos unter. Die Platte schaffte es nur auf Platz 154 der US-Albumcharts, und selbst die Single „Alone Again Or“ verfehlte die Top 100.[12] Das war freilich auch ein Denkzettel dafür, im Vorhinein die üblichen Resonanzstrategien des Marktes nicht bedient zu haben. Insbesondere Lees Weigerung, extensiv zu touren oder am Monterey Festival teilzunehmen, um das Album auf diese Weise bekannt zu machen, erwies sich dabei als verhängnisvoll.

The Third Coming of Love

Das Cover von Forever Changes zeigt, darin durchaus Kind seiner Zeit, vor weißem Hintergrund eine psychedelisch-kaleidoskopische Collage der fünf Bandmitglieder, wobei sich das in zwei Pinktönen gehaltene Gesicht von Arthur Lee am prominentesten abzeichnet. Der Umriss hat die Exegeten an die Gestalt eines Herzens und die Konturen des afrikanischen Kontinents erinnert, allerdings auch an einen psychedelischen Tumor.[13] Das Motiv stammt vom Künstler Bob Pepper, der ursprünglich einen schwarzen Hintergrund erwogen hatte, sich dann aber für Weiß entschied.

Dieses ambivalente Schwanken, etwa in der Entscheidung zwischen schwarzem und weißem Hintergrund, aber auch zwischen der oberflächlich affirmativen Haltung gegenüber hippieskem „Love and Happiness“ und einem düsteren Schimmern, das mal mehr, mal weniger in den Vordergrund tritt, zieht sich wie ein roter Faden durch Cover, Musik und Lyrics des Albums. Konterkariert wird das Ambiente wiederum vom pop-psychedelischen Stil des Artwork, das dem von Peter Max für Yellow Submarine (1969) ähnelt. Die Ambivalenz als enges Neben- und Miteinander von psychedelischer Lebensfreude und paranoider Todesfurcht erzeugt auf Forever Changes eine Spannung, die so nirgend anders zu finden war, wobei Lees ausgeprägte Angst vor dem nahen Ende auch seinen Drang zum Perfektionismus beförderte. In seinen Memoiren notierte er dazu:

„Zu der Zeit, als ich diese Songs schrieb, dachte ich, es könnte das letzte Album sein, das ich je mache. Die Texte auf Forever Changes würden die letzten Worte sein, die ich über diesen Planeten sage. […] Ich denke mir immer, dass ich Sachen darüber schreibe, wie die Welt eben wirklich ist, denn wenn mir diese Dinge passieren, ist es nur wahrscheinlich, dass sie auch anderen zustoßen. Das war der Auslöser. Ich war nie so ein Typ von ‚I love you, I want you, I need you, ooh baby‘-Songwriter.“[14]

Manch einer erhob Lee deshalb zur prophetischen Gestalt, der wie ein Seismograf die dunkle Seite der sozialrevolutionären Glücksversprechungen zur Sprache gebracht und das bevorstehende Ende des California Dreaming vorzeitig erspürt habe, obwohl es seinerzeit niemand habe hören wollen.

Das Rätsel Arthur Lee erklären zu wollen, wäre anmaßend. Eine detaillierte Beschreibung seiner Gemütslage im Verlauf des popkulturellen Schaltjahres 1967 –also während der Arbeit an Forever Changes – müsste aber wohl berücksichtigen, wie sich eine von den politischen Umständen getragene apokalyptische Weltsicht mit existentialistischem Ekel vor der Gegenwart vermischte, in der sich Flower Power und Kapitalismus gegenseitig bekämpften. All dies führte bei Lee zu einer Art von messianischem Zorn über die Verlogenheit seiner Umwelt. Allerdings darf man bei solchen Dechiffrierungsversuchen auch die drogeninduzierten „tieferen Einsichten“ ins sogenannte Weltganze nicht vergessen.

So oder so: Etwas vom rätselhaften Charakter Lees fand seinen Weg in die enigmatischen Songtexte auf Forever Changes, die sich poetisch-schillernd zwischen den üblichen Themen wie Verlieben und Verlassenwerden einerseits und Drogenrausch, dunklen Visionen von Hybris, Krieg und ((rassistischer)) Gewalt oder Ironisierungen des Lebensstils von Love & Happiness andererseits bewegen. Es sind die Lyrics, die dem Album und seinen mitunter allzu lieblichen Melodien eine Düsternis und Tiefe verleihen, die es nur bedingt zum künstlerischen Ausdruck des revolutionär-libertären Zeitgeists werden lassen:

„Während die Musik auf Forever Changes mit einer fast narkotisierenden Beständigkeit und trügerischen Schönheit dahinströmt, können die Texte wie ein Juckreiz wirken, den man mit dem kratzenden Finger nie erreicht. Die Kombination ist durch und durch fesselnd und leicht verunsichernd zugleich – psychedelisch im wahrsten Sinne des Wortes.“[15]

Wohl weil er glaubte, Forever Changes sei sein letztes Werk vor dem unausweichlichen Tod, verwendete der damals 22-jährige Lee viel Energie auf Songtexte, aber auch auf deren Titel. Denn, ungewöhnlich für ein Popalbum im Jahre 1967, nur mit wenigen Ausnahmen tauchen die Songtitel in den Songs selbst auf und sorgen dadurch für noch mehr Arbeit bei den späteren Exegeten. Und selbst bei den Ausnahmen hat Lee kleinere Störungen eingebaut, die auch die konventionelleren Lyrics, wie beispielsweise die seines Bandkollegen MacLean im Opener „Alone Again Or“, zum Schillern bringen.

Ursprünglich hieß das Stück lediglich „Alone Again“, doch durch die von Lee verantwortete Erweiterung gelingt es, das so klassische wie triviale Songthema von der erneuten Einsamkeit etwas ins Merkwürdige und Offene zu verdrehen. Warten in einer Welt, in der jeder jeden lieben will, neues Glück und das Ende der Einsamkeit nicht hinter der nächsten Ecke? Lees Bearbeitung von MacLeans Song geht aber noch weiter. Nicht nur ließ er hinter dem Rücken seines Kollegen dessen Gesangspart so weit in den Hintergrund mischen, dass das Stück eindeutig von Lees Stimme dominiert wird, sondern er ergänzte das sparsame akustische Arrangement der Flamenco-Gitarre, das von MacLean vorgesehen war, auch um fröhliche Mariachi-Trompeten und liebliche Streicher. Die Wirkung ist besonders im Vergleich zu MacLeans Soloversion auf dessen Album ifyoubelievein (1997) nicht zu überhören: In der Fassung auf Forever Changes konterkariert die Musik die Lyrics und gibt damit gleich die Richtung für die anderen Songs des Albums vor.

Eines ähnlichen Kniffs hatte sich Lee etwa bei der Zusammenschreibung der Titelbestandteile von „Andmoreagain“ bedient, dem dritten Song des Albums. Lee selbst bot dazu eine lebensphilosophische Deutung für den Titel an: „And … more … again: das ist die Geschichte deines Lebens. Die Geschichte jedes Lebens ist ein ‚Andmoreagain‘ [Undmehrdavon]. Was ist das Leben? Ein einziges ‘Andmoreagain’, und dann noch mehr, und dann noch mehr.“[16]

Diese beiden melodiösen Songs rahmen mit „A House Is Not A Motel“ einen gänzlich vom Albumauftakt verschiedenen Track ein. Der Titel ist ein abgewandeltes Zitat von „A House Is Not A Home“, einem Song von Burt Bacharach und Hal David, deren „My Little Red Book“ Love in einer radikal veränderten Version für ihr Debütalbum aufgenommen hatten. Mit dem Bacharach/David-Song, die häusliche Variante eines Liebeslieds à la „Ain’t no sunshine when she’s gone“, hat der Song aber gar nichts mehr zu tun. Der, gemessen an der Vorlage, etwas tautologische Titel erscheint in den Lyrics nirgends, das titelgebende Motel mag vielleicht gerade noch als Bild der Heimat des unbehausten Menschen herhalten.

Der Text beginnt als an den Hörer gerichtete Einladung zu einem Besuch im Haus des Singenden, das gemäß der damals luxuriösen Lebensumstände von Lee beschrieben wird mit: „In the halls you’ll see the mantles / Where the light shines dim all around you“. Sodann schwenkt er aber um auf eine Referenz an die Prophezeiung des puritanischen Geistlichen Cotton Mather, der 1709 verkündigte: „Many Arguments perswade us, that our glorious Lord, will have an Holy City in AMERICA, a City, the street of whereof will be Pure Gold“ [Viele Gründe sprechen dafür, dass unser glorreicher Herr eine Heilige Stadt in Amerika schaffen wird, eine Stadt, deren Straßen mit purem Gold gepflastert sein werden.].[17] Entsprechend wird behauptet, „the streets are paved with gold“. Mathers Metapher bezieht nun also auf die Stadt der Engel und Hollywood, das sich, negativ gewendet, als säkulare Einlösung dieses religiösen Versprechens erweist. Dieser Bezug auf einen der zentralen amerikanischen Mythen wiederholt sich in der zweiten Strophe. Die freundliche Höreransprache aus der ersten („You can come and look“) ist dort bereits einer Distanzierung und Herabsetzung gewichen („You are just a thought that someone / Somewhere somehow feels you should be here“), und dem hilfsbereiten Angebot „You can call my name“, der einzigen in allen drei Strophen wiederkehrenden Zeile, folgen nur noch ein „I hear you calling my name“, Lees Schrei – und dann ist der, der seinen Namen ruft, alleine mit einer in den Vordergrund drängenden E-Gitarre, die nach der dritten Strophe noch ausführlicher zur Geltung kommt. In derselben ist an die Stelle der versprochenen goldenen Straßen der blutrote zeitgenössische Horror der killing fields in Vietnam getreten:

“By the time that I’m through singing / The bells from the schools of wars will be ringing / More confusions, blood transfusions / The news today will be the movies for tomorrow / And the water’s turned to blood / And if you don’t think so / Go turn on your tub / And it is mixed with mud / You’ll see it turn to gray / And you can call my name / I hear you callin’ my name”

Die Vorhersage über in der Traumfabrik später am Band gemachte Vietnam-Filme trifft auf die horrende Vision der mit Blut und Matsch gefüllten Badewanne, durch die der Krieg quasi nach Hause kommt, wobei diese merkwürdige Überblendung zurückgeht auf die Berichte eines Vietnam-Veteranen, auf den die Band bei einem Janis-Joplin-Konzert in San Francisco traf. Zu dem von fernem Geheul begleiteten wilden Gitarrensolo, in das „A House Is Not A Motel“ mündet, erklärte John Echols: „Die Solopassage sollte den Krieg repräsentieren, das Chaos auf einem Schlachtfeld, sterbende Menschen, das ganze Wimmern, Explosionen, die Angst der Menschen.“[18] Und in der Tat könnte man sich vorstellen, dass das mehr als einminütige Solo, das dem letzten Hilferuf nachfolgt, Martin Sheens Tanz in der legendären Anfangssequenz von Apocalypse Now (1979) mindestens ebenso gut untermalen könnte wie „The End“ von den Doors, dieser anderen Band aus der Nachbarschaft Hollywoods – bissiger Kommentar zur ästhetischen Verwertung der Gewalt inklusive.

Noch etwas ist bedeutsam an dieser Passage, denn es ist eine von nur sehr wenigen Stellen auf Forever Changes, bei denen eine elektrische Gitarre zum Einsatz kommt – und wenn doch, so begleitet sie wie in „A House Is Not A Motel“ die Thematisierung von Krieg und Gewalt, ob zeitgenössisch oder historisch. So zum Beispiel auch das zweimal wiederholte E-Gitarrensolo in „Live And Let Live“, in dem Lee auf den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern anspielt.

Just zum historischen Zeitpunkt, als sich die zumeist weißen Mittelschichtkinder von der konservativen Weltsicht ihrer Eltern befreien wollen, erinnert Lee seine Hörerschaft damit an das Schicksal der unterdrückten autochthonen Minderheit, deren Land gewaltsam gestohlen wurde: „And so the story ended / Do you know it all so well / Well, should you need, I’ll tell you“. Lee geht es dabei weniger darum, eine Rebellion anzuzetteln, als die historische Gewalt vorzuführen, und in gewisser Weise die Selbstgerechtigkeit des revolutionären Mittelstands auszustellen.

Die Art und Weise, wie sich Lee dabei in die Rolle der natives versetzt („I have seen you many times before / Once when I was an Indian / And I was on my land“), ähnelt merkwürdig jenem Rollenwechsel, wie ihn ein anderer Musiker aus Los Angeles 1967 in seinen Texten vollzieht, um Gewalt aus der Sicht von Betroffenen zu thematisieren: Tim Buckley. In „Once I Was“ benutzt er eine solche Form der verkörpernden Erinnerung: „Once I was a soldier / and I fought on foreign sand for you / Once I was a hunter / and brought home fresh meat for you“.

Tim Buckley gehört wie Jim Morrison zu Lees Konkurrenz auf dem Sunset Strip, wo überlebensgroße Billboard-Werbung sein Album Goodbye and Hello ankündigt, und er teilt im Sommer 1967 mit Lee nicht nur die Themen, sondern auch die L.A.-typische Skepsis gegenüber dem psychedelischen Hype in San Francisco sowie den Wunsch, seine künstlerische Freiheit gegen die Vorgaben der Plattenfirmen zu verteidigen. Goodbye and Hello entsteht in unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Nähe zu Forever Changes, auch Buckleys Album wird vom Produzenten Jac Holzman bei Elektra Records produziert. Die mediale Verwertung des Kriegs thematisiert Buckley im Opener „No Man Can Find The War“, doch musikalisch unterscheiden sich die Alben trotz der weichen Stimmen von Lee und Buckley – man vergleiche einmal „Andmoreagain“ und „Phantasmagoria In Two“ – deutlich. Buckleys Album ist sparsamer arrangiert, folkiger, und wenn er die Gefahr des Kriegs vertonen will, greift er mit der Bombendetonation im Eröffnungssong ein Mittel auf, das Love bereits 1965 als losgelösten Soundeffekt genutzt hat. Chaotisches Kriegsgeheul findet allenfalls eine textuelle Umsetzung, die Lyrics wiederum sind erzählerischer und konventioneller als bei Arthur Lee.

Dessen Art des Songwriting lässt sich an „Live And Let Live“ gut beobachten. Übergangslos mäandern die Lyrics von der befremdlichen ersten Zeile „Oh, the snot has caked against my pants / It has turned into crystal“ zur Beobachtung eines Vogels, der auf einem Zweig sitzt“, wechseln in die Perspektive eines weißen Siedlers („I guess I’ll take my pistol / I’ve got it in my hand / Because he’s on my land“) und erst dann in die des native american. Es sind solche Passagen ebenso wie der Text zu „A House Is Not A Motel“, die dazu verleiten können, Bandkollege und Songwriter-Konkurrent MacLean Recht zu geben:

„Sie müssen verstehen, dass Arthurs Lyrics […] alle einem Bewusstseinsstrom entspringen. Ich arbeitete an meinen Songs, konstruierte sie, er hingegen schrieb nicht auf diese Weise. Da kamen Sachen raus wie ‚Der Rotz hat sich auf meiner Hose verkrustet‘ – und blieben stehen! Er war wirklich brillant, aber sein größtes Problem war, dass er versuchte, hip zu sein. Er war zu hip für Wörter((Texte)). Er redete wie ein Jazzmusiker aus den vierziger Jahren.“[19]

Viele assoziative Verknüpfungen und wenig reflektierte Anspielungen in den Songs auf Forever Changes sprechen für MacLeans These. Ein Song wie das erwähnte „The Red Telephone“ aber zeigt, wie viel Arbeit Arthur Lee nicht nur in die Texte selbst, sondern auch in deren Arrangement steckte, um das Ausdruckspotential zu steigern. Nehmen wir etwa diese Strophe: „Sometimes my life is so eerie / And if you think I’m happy / Paint me white (yellow)“

Die letzte Zeile ist zunächst lesbar als eine Anspielung auf die Single „Paint It, Black“ (1966) von den Rolling Stones, wenngleich an die Stelle des Ratschlags, alle Gegenstände der privaten Umgebung schwarz anzumalen, nun die Offerte tritt, den Sänger weiß anzumalen. Über Lees Hautfarbe kommt zum einen offenkundig ein Rasse-Diskurs ins Spiel, der sich in das stets präsente Außenseiter-Thema des „black freak in a white world“ einfügt.[20] Zum anderen aber verwendet Lee hier wie andernorts das gängige Verfahren des double tracking der Leadstimme – normalerweise zu deren Verstärkung eingesetzt –, um allzu eindeutige Zuschreibungen zu stören. Die Aufforderung, jemanden anzumalen, wird akustisch nicht untermalt, sondern übermalt. Beinahe synchron wird über die Weißmalerei eine zweite Farbe, gelb, gesungen. Dadurch wird die primäre Aussage dementiert und ins Schweben gebracht, es scheinen gleichsam zwei Erzählerpersönlichkeiten am Werk zu sein. Vom Duett mit sich selbst bis zum Kommentar der Leadstimme reizt Lee hier die Studiotricks auf vielfältige Weise aus.[21]

Neben anderen Popsongs webt Lee als intertextuelles Zitatmaterial auch Zitate aus literarischen Texten ein. Im Fall von „The Red Telephone“ ist es allerdings ein dezidiert politischer, der den Song in eine Reihe mit „A House Is Not A Motel“ sowie „Live And Let Live“ stellt: Es ist das Theaterstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade von Peter Weiss. Der Song endet mit den Versen:

„They’re locking them up today / They’re throwing away the key / I wonder who it’ll be tomorrow, you or me? / We’re all normal and we want our freedom / Freedom … freedom … freedom … freedom / Freedom … freedom … freedom … freedom / All a God’s chillins gotta have dere freedom“.

Sind die ersten drei Zeilen leicht lesbar als Beschreibung staatlicher Repressionsmaßnahmen gegen die schwarze Minderheit oder die protestierenden Jugendlichen, übernimmt die vierte Verszeile die zentrale Forderung der im Hospiz zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade agierenden Schauspielgruppe: „Wer hält uns zu Unrecht gefangen wer sperrt uns ein / Wir sind gesund und wollen in Freiheit sein“.[22] Das Stück, 1964 uraufgeführt, war in den USA äußerst erfolgreich, und allein Arthur Lee hat offenbar sechs Vorstellungen von Marat/Sade besucht. Und so wie Weiss mit dem im 18. Jahrhundert angesiedelten Schauspiel eigentlich die Studentenrevolte der sechziger Jahre meinte, verbindet Lee den Ruf nach Freiheit mit dem Civil Rights Movement der schwarzen Minderheit in den USA. Die letzte Zeile spricht er ausdrücklich im antiquierten Slang der Sklaven mehr insistierend als sie nur rhapsodisch zu singen.

Ungebrochen ist jedoch auch diese Deutung nicht zu haben. Erstens verbindet sich der Schlussvers derart mit dem Fade-Out, das er kaum noch hören ist und verklingt, bevor er als Aufruf überhaupt laut werden kann. Zweitens geht das erwähnte „Freedom“-Mantra bald in ein unmoduliertes, nicht ernstzunehmendes Lallen über, das sich nach hängengebliebener Schallplatte anhört – oder eben, als ob es einer der Insassen des Irrenhauses von Charenton sänge.

Das nachfolgende Lied – „Maybe The People Would Be The Times Or Between Clarke and Hilldale“ – ist ähnlich wie bei der Paarung „A House Is Not A Motel“ und „Andmoreagain“ wieder deutlich beschwingter. Es setzt fast tanzbar ein mit Gitarre und einem Schlagzeug, das den Einfluss des Bossa Nova nicht verhehlen kann. Der Text entwirft das Bild eines immer wieder vom Lärm beziehungsweise der Musik unterbrochenen, aber auch inhaltlich ins Leere laufenden Party-Smalltalks. Tatsächlich ‚stört’ die hereindrängende Musik mehrfach die Syntax der Songzeilen, die erst mit Verspätung vervollständigt werden: „What is happening and how have you been / Gotta go but I’ll see you again / And oh, the music is so loud / And then I fade into the – Crowds of people standing everywhere“.

Die im Titel genannte Adresse auf dem Sunset Strip weist daraufhin, dass die Party wohl im legendären Whisky A Go Go in Los Angeles steigt, wo neben Love vor allem The Doors berühmte Auftritte in jener Zeit feierten. Vom Aufgehen des Individuums in der Einheit der glücklich Liebenden und Feiernden ist im Summer of Love dieses Songs jedoch nichts zu spüren. Im Mittelpunkt stehen das Desinteresse am Wohlergehen des anderen, die Monotonie der Dauerfeier („they come here just the same / Telling everyone about their games“) und einem allgemeinen Überdruss am Leben unter der kalifornischen Sonne, „ where everybody is painted brown“. Der Song, dessen Melodie und erneuten Mariachi-Bläser noch bei seiner Wiederaufführung 2003 zum Tanzen anregte, endet mit einer Zeile, die die Absage an Flower Power und California Dreaming kaum deutlicher bekräftigen könnte: „Let’s go paint everybody gray / Yeah, gray, yeah“.

In die gleiche Kerbe schlägt wenig später „The Good Humor Man He Sees Everything Like This“ in seiner vermeintlichen Beschwörung eines Hippie-Glücks aus Blumen, sommerlicher Heiterkeit, bunten Vögeln und Schulmädchen mit Zöpfen. Auch dieses oberflächliche Idyll wird jedoch nicht ungebrochen besungen, lässt doch der Songtitel keinen Zweifel daran, dass Arthur Lee sich hier lediglich in ironischer Absicht eine quasi rosarote Sonnenbrille aufsetzt.

Herz der Finsternis

Anders als in Haight-Ashbury, der Hochburg der psychedelischen Bewegung, begegneten Bands und Musiker in Los Angeles dem dionysischen Lebensgefühl von 1967 mit größerer Skepsis und Distanz. Ob sie nun Gothic-Rock-Vorwegnahmen in ihre Musik einbauten wie The Doors oder sich gleich offensiv über die Vermarktung der Counterculture lustig machten wie We’re Only In It For The Money von Frank Zappas Mothers of Invention: Unter dem „orangefarbenen Smog-Himmel“ von L.A. klang der Summer of Love weitaus düsterer und befremdlicher als in San Francisco, und nirgends ist diese „Kombination aus Schönheit und Furcht((Scheu))“ (Edmonds) besser eingefangen als in den dunklen Visionen des „Third Coming of Love“[23]:

„In gewisser Weise ist Forever Changes der ultimative Soundtrack für L.A.: die Mariachi-Bläser des melting pot, die Sirenen und die Autounfälle; die süßlichen Streicher und die dissonanten Gitarren. Arthur Lee und Love haben all das auf einer musikalischen Postkarte festgehalten.“[24]

Zu den bitter-ironischen Wendungen der Bandgeschichte gehört auch die Herkunft des Namens „Love“. Gerüchteweise benannte Arthur Lee die Band so als Hommage an den Spitznamen von Bobby Beausoleil, der als Gitarrist in Lees Vorgängerkombo The Grass Roots gespielt hatte. Wegen seiner sexuellen Umtriebigkeit wird Beausoleil „Cupido“ genannt. 1969 war er am brutalen Mord an Gary Hinman beteiligt, mit dem Charles Manson und seine „Family“ ihre drogen- und popkulturinspirierte Mordserie, nach einem Beatles-Song als „Helter Skelter“ bezeichnet, begannen. Der Mord an Roman Polanskis Frau Sharon Tate und vier weiteren Personen findet nur wenige Häuser von Lees Anwesen in L.A. statt. Spätestens das „Helter Skelter“ der Manson Family, ein Massenmord aus dem Geist der Hippie-Kommune, beendete 1969 den überlangen Summer of Love, zwei Jahre nach Arthur Lees Abgesang auf die Hippie-Bewegung.

 

Anmerkungen

[1] Arthur Lee, zitiert nach: Einarson: Forever Changes and the Book of Love, London 2010, S. 24. Alle Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser.

[2] Vgl. hierzu die Aufsätze zu den Debüts von den Doors und der Jimi Hendrix Experience in diesem Band.

[3] Vgl. Ben Edmonds im Booklet zum Re-Issue von Forever Changes (Elektra Entertainment 2001), S. 13 und 15.

[4] Barney Hoskyns: Arthur Lee: Alone Again Or, Edinburgh 2001, S. 8.

[5] David Anderle, zitiert nach: Hoskyns, op. cit., S. 2f..

[6] Vgl. Einarson, op. cit., S. 178.

[7] Hoskyns op. cit., S. 43.

[8] Alban Pfisterer, zitiert nach: Andrew Hultkrans:.Forever Changes, New York / London 2003 , S. 48f.

[9] Vgl. Hoskyns, op. cit., S. 52.

[10] Hoskyns, op. cit., S. 48.

[11] „Second Coming“ bezeichnet auf Englisch die zweite Parusie, also die erhoffte Wiederkehr des christlichen Messias. Gleichzeitig spielt der Titel sowohl auf das dritte Album der Band als auch auf einen Orgasmus an.

[12] Allerdings sollte angemerkt werden, dass die im Februar 1968 in Großbritannien erfolgte Veröffentlichung auf mehr Resonanz stieß. Kritiker wie Publikum die Platte feierten, und sie schaffte es entsprechend auf Platz 24 der UK-Albumcharts.

[13] Vgl. Hultkrans, op. cit., S. 96.

[14] Arthur Lee, zitiert nach: Einarson, op. cit., S. 159.

[15] Edmonds, op. cit., S. 15.

[16] Arthur Lee, zitiert nach: Einarson, op. cit., S. 181.

[17] Cotton Mather, zitiert nach: Hultkrans, op. cit., S. 36.

[18] John Echols, zitiert nach: Einarson, op. cit., S. 181.

[19] Bryan MacLean, zitiert nach: Edmonds, op. cit., S. 15.

[20] Hultkrans, op. cit., S.66.

[21] Vgl. Edmonds, op. cit., S. 15

[22] Peter Weiss: Werke in sechs Bänden. Bd. 4. Frankfurt a.M. 1991, S. 167.

[23] Siehe Edmonds, op. cit., S. 2.

[24] Andrew Sandoval im Booklet zum Re-Issue von Forever Changes (Elektra Entertainment 2001), S. 1.

 

Zu Pop 1967 siehe auch das Buch (von u.a. Christoph Jürgensen):
Younger than Yesterday

 

Dr. Christoph Jürgensen ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung an der Universität Bamberg.

Dr. Uwe Schütte ist Reader in German Studies an der Aston University in Birmingham.