Apologie der Schaulust: Blickkontakte des frühen Films
„Ein Schauen wars, das Tempo hatte und Leben, und das eine Lust war“, schrieb Walter Serner 1913 über die Kinoerfahrung.[1] Das Motiv der Schaulust stand schon vor dem Film symptomatisch für die moderne Zeit, in der die Erfassung der Wirklichkeit nicht über den Geist, sondern vorrangig über das Auge geleistet wurde. Es gehörte zu jenen Charakteristika des frühen Mediums, die nach Meinung der KinoreformerInnen wenn nicht überwunden, so zumindest transzendiert werden sollten.
Entgegen dem plakativ als Gegenpol zu pädagogischen Interessen negativ eingegrenzten Begriff der Schaulust, fungierte diese im Kino der Attraktionen in differenzierter Weise als kommunikatives Element, das durch ein perspektivisches Spiel einen unentwegten Wechsel der Erscheinungen bewirkte. Sie zeigte sich als Impuls unterschiedlicher Wahrnehmungsqualitäten, der zwischen der Wirklichkeit und den imaginären Bilderwelten sowie zwischen diesen und dem Publikum im Zuschauerraum vermittelte. Sie erzeugte Sichtbarkeit, arbeitete mit Modalitäten des Zeigens, des Erblickens und des Erblicktwerdens und erfüllte dabei auch narrative Funktionen.[2]
Filmkader WIEN IM KRIEG, A 1916, Hans Theyer an der Kamera | Filmarchiv Austria
Der Blick auf die Welt
Im Verdacht, auf die Schaulust des Publikums abzuzielen, standen vor allem Schauer- und Mordgeschichten, Ehebruchs- und Sensationsdramen, Burlesken sowie erotische Filme. Doch im Moment der Anschaulichkeit zeichnet sie auch filmische Dokumentationen und Berichte aus, wenngleich diese dank ihres Lehrwertes nicht Teil der Kritik waren.
Nicht nur die Sensation exotischer Weltgegenden, auch die eigene Umgebung und alltägliche Begebenheiten wurden ins Blickfeld gerückt. Die Kamera erfasste mehr, als das menschliche Auge zu sehen vermochte, oft aus einer ungewohnten Perspektive, und lenkte die Aufmerksamkeit auf Details. Gleich einer Wechselwirkung wurden wiederum Wahrnehmung und Schaulust durch die kinematographische Erfahrung geschult:
„Über alles und jedes stürzt sich das sehende Objektiv-Auge des Aufnahme-Apparates, betrachtet es lange und eindringlich, bewahrt es in seinem Innern, konserviert das Geschaute aufs Filmband, und immer, wenn wir es wollen, können wir es wieder betrachten. Ich glaube, durch den Kino haben wir jetzt erst das Sehen gelernt. Die Freude am Schauen ist geweckt.“[3]
LEBEN AM NASCHMARKT, Pathé Frères, F um 1911 | Filmarchiv Austria
Der Blick in die Kamera
Nicht nur das Schauen, auch die Erfahrung, angeschaut oder beobachtet zu werden, erhielt durch den Kinematographen eine neue Dimension, wofür der Blick in die Kamera als typisches Merkmal früher Filmaufnahmen ein Indiz ist. Die dadurch hergestellte Beziehung zwischen dem projizierten Bildraum und dem Zuschauerraum ist auf unterschiedliche, zum Teil auch einander intentional entgegengesetzte Mechanismen zurückzuführen. Zum einen ist sie einer Irritation der Wirklichkeit geschuldet, bei der sich der Blick auf die Neuartigkeit, Attraktion und Ungewöhnlichkeit einer in der eigenen Lebenswelt auftauchenden Kamera richtet.
Filmkader VIENNE. LE RING, Lumière, F 1896 | Filmarchiv Austria
Der Blick in die Kamera erfolgte beiläufig, ohne dass die Gefilmten ihre Handlungen unterbrachen oder ihr Verhalten in hohem Maße davon beeinflussen ließen. Diese Beiläufigkeit und der potentielle Panoptismus der Kamera gipfelten in Phantasien der All-Sichtbarkeit („Auge Gottes“).[4] Der Kinematograph war in diesen anders als in der späteren Debatte zunächst noch ein positives Instrument der Überwachung und ein Korrektiv, mit dem Sittlichkeit eingemahnt und wiederhergestellt werden konnte, da theoretisch zu jeder Zeit an jedem Ort die Möglichkeit bestand, bei einem Fehltritt von einer Filmkamera festgehalten zu werden.
Zum anderen kam wie in dem Ausschnitt LEBEN AM NASCHMARKT bisweilen auch eine reale Gesprächssituation zustande, deren Inhalt den ZuschauerInnen aufgrund der Stummheit des Films jedoch verborgen blieb. Es finden sich Reaktionen auf die bzw. Interaktionen mit der Kamera. Dabei handelte es sich wohl weniger um eine bewusste Antizipation des kollektiven Publikums im Zuschauerraum als vielmehr das Posieren und Zur-Schau-Stellen in der spezifischen Situation des Sichtbar- und Angeblicktwerdens durch die Kamera.
BAD AM GÄNSEHAUFEL IN WIEN, A 1911 | Filmarchiv Austria
Der sichtbare Mensch
Wie SchaustellerInnen – die den Kinematographen als erstes ins Repertoire aufgenommen hatten – präsentieren die Badenden sich in BAD AM GÄNSEHÄUFEL dem Publikum, insbesondere durch ihre Körperlichkeit, führen ‚Kunststücke‘ vor und sorgen für Unterhaltung. Der Film vermochte, analog der Schriften von Georg Lukács und Béla Balázs, wie kein anderes Medium zuvor, den Menschen in der Welt sichtbar zu machen.[5]
Das Verhalten der Badenden verdeutlicht, dass es sich bei der Filmaufnahme nicht um eine alltägliche Situation handelte, was auch die Eingangssequenz „In der Damen Abteilung“ unterstreicht. Die Szene, in der eine Frau ihre Kleider gegen Badebekleidung wechselt, steht für den der Öffentlichkeit verborgenen und verbotenen Blick in die Umkleidekabine, auch wenn die Kamera sich nicht tatsächlich in der Kabine befindet, sondern Abstand wahrt.
Vielmehr ist es die Dame, die vor die Kamera und das heißt vor den Vorhang der Kabine tritt und sich mit fortwährendem Blickkontakt zur Kamera zu entkleiden beginnt. Jacke, Hut, Bluse und Schuhe fallen, bis ein Schnitt zwischen dem Schließen des Vorhangs und dem Hervortreten in Badeanzug ihren nackten Körper dann doch der Phantasie der BetrachterInnen überlässt.
Der Blick auf Frauenkörper
Eine erotische, komplizenhaft involvierende Konnotation erhält diese Szene nicht zuletzt durch den kontinuierlichen Blickkontakt mit der Kamera und die unterlassene (oder unterschlagene?) Einstellung des geschlossenen Kabinenvorhangs – den fehlenden Kamerablick zwischen Schließen und Öffnen – und durch die Zigarette danach. Der offenbar aus der Ferne erfolgte Zuruf und die Reaktion der Frau weisen darauf hin, dass schon die wenigen Kleidungsstücke, derer sie sich öffentlich entledigt, für damalige Verhältnisse eine Verletzung des Anstandes oder zumindest aufsehenerregend waren. Das Vergnügen und die lange Nase, die sie dem Zurufer entgegnet, erscheinen beinah sinnbildlich für den Konflikt zwischen filmischer Schaulust und SittlichkeitshüterInnen.
Die Frage nach weiblicher Emanzipation und männlicher Schaulust bleibt unentschieden. Der Kinematograph brachte der Frau sowohl als Subjekt als auch als Objekt eine stärkere Präsenz in der Öffentlichkeit.
Frauen machten einen großen Teil des Publikums aus und in den Filmen spiegelten sich ihre Sicht der Welt, ihr Alltag und ihre Nöte.[6] Zugleich war aber auch der erotisierende männliche Blick auf Frauenkörper ein konstitutives Moment des frühen Films. Die Selbstverständlichkeit der Verfügbarkeit von nackten Frauenkörpern drückt sich nicht zuletzt in der großen Verbreitung der sogenannten „Herrenabendfilme“ aus.[7]
Filmkader DAS EITLE STUBENMÄDCHEN, Saturn-Film, A 1908 | Filmarchiv Austria
Nackte Männerkörper blieben hingegen nur mit wenigen Ausnahmen dem öffentlichen Blick entzogen. In dieser Hinsicht war die Serner‘sche „Wollust des Schauens“[8] ganz offenherzig mit männlichem Voyeurismus verbunden. Die Episoden zielten allein darauf ab, Frauen in Situationen zu bringen, in denen sie sich entkleideten, auch jenseits der Herrenabendfilme: „Die Kinoheldin muss im Bett liegen, muss ihr Gewand im Winde flattern lassen, mit nassem Trikot aus dem Meer steigen und sich in ihrem Boudoir entkleiden, als ob ihr nur der liebe Gott zusähe.“[9] Die Kamera, das Auge Gottes.
Der Blick auf das Publikum
Nicht nur im Falle erotischer Filme, vielfach erschien die „reine“ Schaulust generell als Gefahr für die moderne Gesellschaft, insbesondere für Frauen, Kinder und Jugendliche. Mit Nachdruck traten Kinoreformer*innen sowohl aus der Filmbranche selbst wie auch von außen dafür ein, „daß die Kinematographie heutzutage nicht mehr allein der Schaulust dienen dürfe, sondern vor allem auch erzieherische Zwecke verfolgen müsse.“[10] Unter die verwerflichen Produktionen subsumierten sie ebenso Filme, die auf kein pädagogisches, künstlerisches, moralisches oder wie immer geartetes „höheres“ Ziel hin, sondern – wie Burlesken – allein für die Zerstreuung und Erheiterung gemacht waren.
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DE TONNEAU EN TONNEAU [VON FASS ZU FASS], Pathé Frères, F 1907 | Filmarchiv Austria
In den meisten Burlesken schaute das Publikum einem oder mehreren ProtagonistInnen bei irgendeiner Auseinandersetzung, einem Unfall oder Malheur zu und lachte darüber. Die Episoden waren wie VON FASS ZU FASS in sich geschlossen, ohne Moral, ohne Läuterung des Alkoholikers, der Kokotte oder des Verbrechers und ohne die Geschlechter (insbesondere die Frau) wieder auf ihre traditionelle gesellschaftliche Rolle zurückzuführen[11], was diese Figuren nach pädagogischen Prämissen für das „Volk“ als (Vor-)Bilder ungeeignet machte.
In der Kritik solcher Unterhaltungen und der damit einhergehenden Forderung nach Bildung schwingt nicht selten eine Bevormundung jenes Kinopublikums mit, das gerne als die nach Schaulust dürstenden „kleinen Leute“ bezeichnet wurde: „Das Publikum, das so recht verständnislose, nimmersatte, nach äusseren Glanz lüsterne Publikum […].“[12]
Der Blick in die Kamera galt im Kino der Attraktionen aber auch ganz bewusst dem Publikum. Nach Tom Gunning ist es dessen Wesensmerkmal, nicht auf innere psychologische Vorgänge, sondern nach außen auf eine/n imaginäre/n ZuschauerIn gerichtet zu sein und diese/n wiederholt daran zu erinnern, dass er/sie sich einen Film anschaut.[13]
Während dem Spiel wurden konspirative, komplizenhafte oder affirmative Verbindungen zwischen dem imaginierten Handlungsraum und dem Zuschauerraum hergestellt.[14] Mitunter wurde die Blickkontaktaufnahme durch die Geste einer Verbeugung unterstrichen. Auch im Vorspann späterer narrativer Filme stellten die Mitwirkenden sich vor und erwiesen dem Publikum durch Verbeugungen ihre Reverenz.
Filmkader WIEN IM KRIEG, A 1916 | Filmarchiv Austria
So wie sich der Protagonist in VON FASS ZU FASS am Ende seiner Odyssee noch den ZuschauerInnen präsentiert, weil er das Kunststück schließlich allein für sie vollbracht hat. Und weshalb sollten wir ihm dann noch eine Läuterung wünschen, wo er für seine Trunkenheit ja schon symbolisch geteert und gefedert worden ist.
Alle hier verwendeten Filme/Kader stammen aus den Sammlungen des Filmarchiv Austria und sind bis zum 31. Juli 2017 in Archiv der Schaulust. Eine Ausstellung zur Frühgeschichte des Kinos, 1896–1918 im METRO Kinokulturhaus in Wien zu sehen.
Anmerkungen
[1] Walter Serner: Kino und Schaulust, in: Schaubühne IX (1913), Nr. 34, S. 807–811, zitiert nach: http://www.earlycinema.uni-koeln.de
[2] vgl. Thomas Elsaesser: Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde. Vom kollektiven Publikum zum individuellen Zuschauer, S. 69–93.
[3] Anonym: Neuland für Kinematographentheater, in: Lichtbildbühne 111 (1910), S. 3, zitiert nach: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film, 1909–1929, hrsg. von Anton Kaes, S. 41.
[4] Ein frühes literarisches Beispiel ist die 1897 veröffentlichte Erzählung „Der Kinematograph“ von Clara Eysell, in der eine Liebesbeziehung dank einer Kinovorführung legitimiert wird. Clara Eysell: Der Kinematograph, in: Agramer Zeitung, 13. März 1897. Zugleich erschienen unter dem Titel „Lebende Photographien“ in: Mährisches Tagblatt 18, Nr. 59, 13. März 1897. Ein anderes Beispiel ist das Theaterstück „Hans Huckebein“, in dem ein treuloser Ehemann mit Hilfe eines Kinematographen überführt wird. Das 1897 in Berlin uraufgeführte Stück integrierte ein kinematographisches Bild in die Vorführung auf der Bühne.
[5] Georg Lukács: Gedanken zu einer Ästhetik des „Kino“ (1911). Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924).
[6] Vgl. Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos. Basel/Frankfurt a. M. 1990.
[7] Österreichs erste Produktionsfirma überhaupt, die Saturn-Film (1906), war auf Herrenabendfilme spezialisiert. Während beispielsweise Pathé Frères Produktionen die Frauen leicht bekleidet zeigten, waren sie bei Saturn völlig nackt. 1911 wurden sie verboten und konfisziert.
[8] Walter Serner (Anm. 1).
[9] Richard Guttmann: Die Kinomenschheit, Wien; Leipzig 1916.
[10] Ludwig Brauner: Das Programm des Kinematographen-Kongresses in Mailand, in: Kinematographische Rundschau 57, 8. April 1909, S. 3.
[11] Vgl. Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, S. 50–61.
[12] Brief aus D… – Eine Mahnung, in: Kinematographische Rundschau, Nr. 22, 15. Dezember 1907, S. 1f., hier: S. 2.
[13] Tom Gunning: The Cinema of Attractions: The Early Film, its Spectator and the Avant-Garde. In: Wide Angle 8 (1986), Nr. 3/4, S. 63–70, zitiert nach: Early Cinema. Space, Frame, Narrative, hrsg. von Thomas Elsaesser und Adam Barker, London 1990, S. 56–62.
[14] Vgl. Thomas Elsaesser: Wie der frühe Film zum Erzählkino wurde. Vom kollektiven Publikum zum individuellen Zuschauer, S. 78–82.
Martina Zerovnik, freie Kuratorin. Letztes Projekt: Archiv der Schaulust. Eine Ausstellung zur Frühgeschichte des Kinos, 1896–1918 des Filmarchiv Austria im METRO Kinokulturhaus, 1. Oktober 2016 – 31. Juli 2017, gemeinsam mit Ernst Kieninger und Nikolaus Wostry.