Suchen, Sammeln, Sampeln: Die Kreativität des Konsums in der musikalischen Sampling-Kultur
In vielen Genres der Popmusik spielt das Sampling von konkreten Sounds eine entscheidende Rolle. Sampling, hier verstanden als Verwendung von kopierten Ausschnitten aus existierenden Klängen wie Musik oder Geräuschen, bildet die produktionstechnische Grundlage für ganze Genres: Hip-Hop, House, Techno, Drum’n’Bass.
Sie hätten ohne die Technologie des Samplers und den damit verbundenen Speicherungsmöglichkeiten von Klang nicht die Stabilität, die wir heute beobachten können. Vermutlich würden sie ohne Sampling gar nicht existieren. Dementsprechend lassen sich die genannten Genres anhand ihrer starken Orientierung an Sampling-Methoden beschreiben – und anhand der weitreichenden Folgen, die sich durch die Durchsetzung des Samplings für das künstlerische Subjekt, seine Produktions- und Rezeptionsweisen in den letzten 40 Jahren eingestellt haben.
Die Beobachtungen, die in diesem Beitrag diskutiert werden, lassen sich unter der These einer konsumtiven Kreativität zusammenfassen – der ästhetische Wert Sampling-basierter Kreationenn soll unter konsumtiven Leitlinien verhandelt werden. Nicht nur, aber zu einem beachtlichen, mitunter dominanten Anteil. Man könnte auch sagen, dass der bewusste Konsum von Musik, Geräuschen und Klängen, oder auch von Medien allgemein, als schöpferische Note in die Produktion miteinfließt und schließlich als ästhetisches Merkmal reflexiv ausgestellt wird. Der Konsum schreibt sich in die klangliche Materialität des produzierten Tracks ein, er wird zu einer künstlerischen Kompetenz, die als »Entdeckerstolz« neben den Werkstolz tritt, ihn ergänzen oder sogar ganz verdrängen kann.
Der Begriff des Konsums lässt sich dabei in zweierlei Weisen verstehen: auf der einen Seite als das käufliche Erwerben von Musikmedien im Sinne eines Tauschgeschäfts, auf der anderen Seite als rezeptiver Konsum dieser Medien im Sinne einer Hör- und Suchpraxis. Ich werde nicht versuchen, beide Konsumbegriffe strikt voneinander zu trennen oder gar gegeneinander auszuspielen, sondern eher die gemeinsame Verschränkung beider Praktiken, insofern sie aus der Kultur des Samplings heraus erklärt werden können, in den Vordergrund rücken. Ich gehe also im Folgenden tendenziell von einem weiten Konsumbegriff aus.
Joseph Schloss, der die Praktiken von US-amerikanischen Hip-Hop-Produzenten in »Making beats« ethnographisch erforscht hat, beschreibt das »Digginʼ in the Crates« als eine der zentralen künstlerischen Kompetenzen, die in der Sampling-Kultur gefordert werden. Mit »crates« sind dabei die Kisten gemeint, in denen ursprünglich Milchflaschen ausgeliefert wurden und die sich wegen ihres Formats als Aufbewahrungsboxen für Schallplatten großer Beliebtheit erfreuen. Bis heute sind solche mit Schallplatten gefüllten Kisten in vielen Plattenläden, aber auch in Privathaushalten, Musikstudios oder Bars zu finden. Manchmal handelt es sich auch um Bananenkartons oder ähnliche Behältnisse aus Holz oder Plastik, in denen die Digger nach neuen Schätzen fahnden.
»Diggin‘ in the Crates« auf einem Flohmarkt in Sydney (Foto: Georg Fischer)
Entscheidend ist Schlossʼ Bemerkung, dass die crates in den Plattenläden oftmals auf dem Boden unter den Regalen oder sogar im Keller stehen, weil sie Ladenhüter oder weniger beliebtes second-hand-Vinyl enthalten: B-Ware also, die das normale Publikum in der Regel nicht interessiert. Doch genau das ist für Produzenten wie auch viele DJs das attraktive Material, denn es geht ihnen darum, Samples zu entdecken, die von Kollegen und Konkurrenz bisher noch nicht verwendet wurden. Je abwegiger die Quelle, desto größer die Chance, einem ungehobenen Schatz zu begegnen.
Die bürgerliche Originalitätsforderung in der Kunst gilt auch und gerade hier, bei der Suche und Beschaffung von Samples, nicht nur in der Produktion von Sampling-basierter Musik. Besonders in den eher puristisch ausgelegten Spielarten des Hip-Hop, die bei Schloss im Zentrum stehen, zeigt sich das erklärte Ziel, das rare, obskure, vergessene, übersehene Sample zu finden, das für die Produktion eines neuen Tracks Pate stehen kann.
Die Kompetenz, unverbrauchte, aber ästhetisch anschlussfähige Samples zu finden, nimmt mitunter obsessive Formen bei den Crate-Diggern an, die in der Regel auch als Plattensammler und DJs aktiv sind. Ab einem bestimmten Punkt in der Geschichte des Hip-Hop verlangten die zunehmenden Such-, Sammel- und Sampleaktivitäten nach einer Bündelung des Wissens über die Originalität und Verwendungskontexte der Samples. Während in den 1990er Jahren Szene-Bücher existierten, die präzise auflisteten, welche Stücke von wem bereits gesampelt wurden, können diese Informationen mittlerweile in Online-Datenbanken wie whosampled.com abgerufen werden.
Die kreative Kompetenz entfernt sich damit ein Stück von der künstlerischen Produktionslogik, die vorwiegend darin besteht, eigenständige Werke herzustellen, die sich durch ihre Originalität auszeichnen. Die Kreativität verschiebt oder erweitert sich vom Produzieren hin zum Finden. Kennerschaft wird ausgezeichnet, Such- und Entdeckerkompetenzen werden gestärkt, und es bildet sich ein intertextuelles Vermögen aus, Sampling-basierte Tracks zu hören, ihre »Gemachtheit« zu dekonstruieren und Referenzen zu erkennen.
Die Kreativität beruht dann, so ließe sich weiter folgern, auf geradezu »detektivischen« und konsumtiven Fertigkeiten, das passende Sample am passenden Ort zu finden. Als Orte kommen dabei in Frage: der Plattenladen oder ein Flohmarkt, die eigene oder eine fremde Musiksammlung, die auf einer Tonträger gespeicherten Songs oder auch das im Radio gespielte Stück. Es wird ersichtlich, dass Konsum hier im Sinne eines Tauschgeschäfts wie auch als Hörpraxis verstanden werden kann, beide Konsumaspekte sogar miteinander in Verbindung stehen. Der Musikkritiker und Kulturjournalist Simon Reynolds beschreibt die Zusammenhänge des kreativen Konsums im Sampling-Kapitel seines Buches »Retromania« sehr plastisch:
»Die Fähigkeit des Autors und Crate-Diggers – Typen wie Prince Paul, Premier, the RZA, DJ Shadow – bestand nicht nur darin, diese geheimen Orte zu entdecken und diese stundenlange, staubige Arbeit des Wühlens auf sich zu nehmen. Es ging auch um die feine Sensibilität, das potenzielle Sample zu erkennen, das andere übersehen würden: Der kürzeste Fetzen einer Orchestrierung oder einer unbedeutenden Rhythmusgitarre, der als Loop funktionieren könnte, der beiläufige Augenblick in einem Jazz-Funk-Track, bei dem die Instrumentierung abnimmt und eine isolierte Notenfolge auftaucht, die als zentraler Riff eines neuen Tracks verwendet werden kann.« (S. 292)
Sampling setzt also in zweierlei Hinsicht konsumtive Arbeit voraus: Einerseits muss der »state of art«, wie er von Kollegen und Konkurrenz fortlaufend aktualisiert wird, verfolgt und ausgewertet werden. Andererseits müssen unzählige Musikstücke durch ein bewusstes, achtsames Hören auf ihre »Samplebarkeit« hin abgeklopft werden.
Das achtsame Hören wartet ungeduldig auf den »Kairos«, den richtigen Moment in einem Lied, um jene Stelle noch im Moment des Erklingens als potentielles Sample identifizieren und innerhalb eines neuen musikalischen Zusammenhangs zu imaginieren. Das »unerhörte« Sample darf nicht zu nah, aber auch nicht zu fern am Bekannten liegen. Es muss sich vielmehr durch die richtige Dosis Neuheit auszeichnen. Und nicht zuletzt wegen der nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten anhaltenden urheberrechtlichen Schwierigkeiten beim Sampling ist das richtige Sample auch oftmals richtig obskur, das heißt für Anwälte und andere schwer zu dekonstruieren. Websites wie dontsample.me, die Listen mit tendenziell urheberrechtlich »gefährlichen« Samples anbieten, und zahlreiche Urheberrechtsstreitigkeiten seit den 1990er Jahren belegen dies.
Freilich ist beim kreativen Konsum auch immer eine gesunde Portion »Serendipität« im Spiel. Dieser Begriff, ursprünglich von Robert K. Merton für die Wissenschaftssoziologie in »The travels and adventures of serendipity« eingeführt, beschreibt die Kontingenz naturwissenschaftlicher Entdeckungsprozesse im Labor. Ganz allgemein versteht man unter Serendipität das Phänomen des Zufallsfunds. Es wird also etwas Wertvolles gefunden, obwohl man gar nicht danach, sondern womöglich nach etwas ganz anderem gesucht hat. Dies schließt auch den Fall mit ein, dass man der gesuchten Sache an einem Ort begegnet, an dem man diese gar nicht vermutet hätte. Das crate diggin‘ kann vor diesem Hintergrund als serendipitäre Praxis charakterisiert werden, die den glücklichen Zufall durch eifrigen Musikkonsum herbeiführen möchte.
Trotz der umfangreichen postmodernen Rezeption, die das Sampling seit den 1980er Jahren erfährt, ist es mit der Abschaffung des Genies im Hip-Hop nicht allzu weit her. Zwar spricht einiges dafür, die postmodernen Momente beim Sampling ernst zu nehmen: das mosaikartige Referenznetz, das durch Sampling-basierte Tracks entsteht; der Angriff auf die Abgeschlossenheit des Kunstwerks durch die eklektische Entnahme beliebiger Fragmente daraus; oder natürlich die brüchig gewordene Trennung zwischen Konsumtion und Produktion. Aber all diese intellektuellen Bemühungen haben nicht dazu geführt, dass der Diskurs um Genies im Hip-Hop oder anderen Spielarten Sampling-basierter Popmusik verabschiedet wäre.
Das kreative Sampling-Genie wird weiterhin in der Überhöhung des Produzenten gefunden, diesmal aber erweitert gefasst als konsumtiver Hybrid aus Kurator, Kenner und Connaisseur. Die obsessiven Züge des Sammelns und Akkumulierens werden zelebriert, die Selektionskompetenz wird als Alleinstellungsmerkmal gefeiert. Was es letztendlich ist, das das vermeintliche Sample-Genie aus dem Ozean an verfügbarer Musik auswählen lässt, bleibt dabei eher mythifiziert als aufgedeckt.
Georg Fischer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute«, Institut für Soziologie, TU Berlin.