Social Media August
von Annekathrin Kohout
15.8.2016

Pokémon gestern und heute

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Mein erster Gameboy war violett und leicht transparent, so dass man seine Mechanik sehen konnte. Bevor ich begann, Pokémon auf ihm zu spielen, habe ich die dazugehörige Serie gesehen. Im deutschen Fernsehen lief Pokémon jeden Nachmittag direkt nach Sailor Moon. Es war eine tolle Serie, ich war vermutlich elf Jahre alt und zum ersten Mal verliebt: in Ash Ketchum. Er war so cool. Ich weiß noch genau, wie eifersüchtig ich immer war, wenn er mit seiner Freundin Misty anbandelte.

Im Spiel war es daher merkwürdig, plötzlich selber Ash zu sein. Natürlich konnte man sich auch einen alternativen Avatar erstellen – oder Blau wählen –, aber das hätte sich wie ein Verrat angefühlt. Bis endlich die gelbe Edition herauskam und ich ein lang ersehntes Pikachu bekam, wählte ich als erstes Pokémon immer Shiggy, denn mit ihm ließ sich in der Fels-Arena trumpfen, und in der Quell-Arena hatte man zumindest einen gleichwertigen Gegner zu erwarten. Die Auswahl des ersten Pokémon war vielleicht die strategischste Stelle des Spieles, sie war aussagekräftiger als jeder Marshmallow-Test.

Zusammen mit meiner Schwester habe ich ständig gespielt und über ein ziemlich kurzes Kabel Pokémon getauscht. Ich stellte mir immer vor, dass die Pokémon durch das Kabel „fließen“, ein einschlägiges Geräusch verstärkte diese Fantasie noch.

Irgendwann hörte ich auf, Pokémon zu spielen und Pokémon zu schauen. All diese Serien und Spiele hatten ihre Zeit, und die hielt oft nicht länger als zwei bis drei Jahre an, dann wuchs man heraus. Man wollte nicht mehr eines dieser Kinder sein, die Pokémon spielen (und wenn, machte man das heimlich). Es war eine Zeit, in der Spiele noch etwas für Kinder oder Nerds waren. Unterschiedliche Spiele wurden mit unterschiedlichen Altersgruppen assoziiert, bei Pokémon war man so 11 bis 14, höchstens. Ich war die 150(151)-Pokémon-Generation. Mittlerweile gibt es über 700.

 

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Kinder spielen Pokémon – früher (um 1998) und heute (2016).

Meine Eltern haben sich übrigens nicht für dieses Spiel interessiert. Darüber habe ich mich bis heute auch nie gewundert. Erwachsene spielten eben kein Gameboy. Aber sie spielen mit dem Smartphone – und seit Pokémon GO spielen Erwachsene auch Pokémon. Ich weiß das, weil ich selbst zu den Erwachsenen zähle und auch manchmal Pokémon GO spiele, vor allem weiß ich es natürlich aus den Medien. Ehrlich gesagt, wundert mich das Interesse. Als ehemaliger Pokémon-Fan muss ich sagen: Die Grafik ist langweilig, und dass man nur in Arenen kämpfen kann, ist fad. Eier ausbrüten? Bonbons füttern? Das ist doch kein Training!

Faszinierend jedoch: Die bekannte Pokémon-Welt ist plötzlich unsere eigene. Pokémon in unserem Alltag, auf unseren Straßen. Das ist fantastisch. Ich habe vor kurzem den Roman „Das Jahr 2440: ein Traum aller Träume“ von Louis-Sebastien Mercier aus dem Jahr 1771 gelesen. Es ist der erste utopische Roman, der nicht an einem Fantasieort – wie Atlantis – oder im Weltall spielt, sondern in der eigenen Stadt. Jetzt weiß ich, wie sich das angefühlt haben muss.

Trotzdem frage ich mich, ob Menschen, die Pokémon vorher noch nie gespielt haben, wirklich Freude daran haben. Und wenn ja: warum? Hierfür müsste man wissen, welche erwachsenen Menschen Pokémon spielen. Sicher sind es schon mal all jene, die Pokémon halbwegs gut kennen, etwa aus ihrer eigenen Kindheit. Hinzu kommen alle, die neugierig sind auf Augmented-Reality. Vielleicht noch einige Game-Nerds, die sich freuen, dass endlich alles mit dem Smartphone gespielt wird und man nicht mehr den Gameboy auspacken muss – heimlich, weil sich das für Erwachsene nicht ziemt.

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Aber mit meinen Vermutungen liege ich weitgehend falsch. Kürzlich hat selbst das Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte auf Facebook Bilder von Pokémon GO gepostet. Auch sonst bekennen sich viele Intellektuelle, Wissenschaftler oder Journalisten zum Spiele-Hype. Natürlich gilt hier ebenfalls, was in den Sozialen Medien stets als Ursache auszumachen ist: Man folgt Jugendtrends, um nicht abgehängt zu werden, oder weil man Jugendliche weiter als Zielgruppe ansprechen will. Bestes Beispiel der letzten Zeit: Snapchat.

Aber bei Pokémon GO ist es anders als bei Snapchat. Wenn Snapchat ein Witz wäre, würde man Pokémon GO als Insider-Witz klassifizieren müssen. Intellektuelle wollten gerne rebellisch sein, als sie sich nicht mehr der Hoch-, sondern der Popkultur zuwendeten. Snapchat ist in diesem Sinne einfach das neue Fußball. Es ist cool, darüber zu schreiben, weil man noch immer glaubt, Popkultur sei gegen den intellektuellen Mainstream. Dabei ist das Gegenteil der Fall. (Ich finde das ja erfüllend. Endlich sind wir Mainstream-Fans selbst irgendwie Mainstream). Natürlich merkt man das und daher der Hype um Pokémon GO: Er ist nicht nur Mainstream, sondern nerdiger Mainstream.

Deshalb bekennen sich alle so aufdringlich dazu. Vor dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte gibt es Habitaks? Das einzig Interessante an dieser Information ist, wie fremd vielen Intellektuellen die Welt der heutigen Jugend geworden ist. Ich interpretiere diesen Facebook-Eintrag als Hilferuf.

Dabei leben wir längst alle in der Internet-Welt. Selbst meine Omi. Das Internet oder die Sozialen Medien sind nicht der Jugend oder Insidern oder einer Jugendsprache oder Insider-Witzen vorbehalten. Es muss endlich verstanden werden, dass es dort auch seriöse und „erwachsene“ Orte geben kann. Die Social Media-Accounts vieler sonst seriöser Institutionen, Zeitungen und Zeitschriften oder gar der Bundesregierung wollen so krampfhaft jung und hip sein. Aber das müssen sie nicht.

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Erwachsene spielen Pokémon GO – am liebsten im Museum. Von links nach rechts: ein Dodri in der Metropolitan Museum of Art’s Charles Engelhard Court Gallery, Mauzi im Brandywine River Museum of Art, Krabby in der Metropolitan Museum of Art Gallery 401, Fukano im Museum of Contemporary Art (Los Angeles), Evoli in der National Gallery of Art (Washington).

Zurück zu Pokémon GO und der noch unbeantworteten Frage, warum es all jene spielen, die sonst nichts mit Pokémon am Hut haben. Die Antwort lautet: wegen der Screenshots. Pokémon GO-Screenshots wurden nur wenige Tage nach dem Relaunch des Spiels bei „Know Your Meme“ eingestellt; ins Spiel selbst ist der Aufruf zum Fotografieren integriert. Traf man bei dem Gameboy-Spiel auf wilde Pokémon, hat man gegen sie gekämpft. Das war ein wesentlicher Anreiz, auch weil man dadurch seine Pokémon trainieren konnte. Heute kämpft man nicht mehr, sondern fotografiert sie. Mit diesen Bildern kann man sich auf anderen Sozialen Netzwerken ohne große Umstände als kreativ erweisen, weitere Bilder erzeugen, die spielerisch und spontan sind. Das ist eine gelungene Übersetzung ins Jahr 2016.

 

Annekathrin Kohout ist freie Autorin und Fotografin. Der Beitrag ist eine leicht bearbeitete Version eines Artikels, der auf ihrem Blog zu finden ist.