Die Grenzen der Überschreitung
von Elena Beregow
22.4.2016

Ästhetik und Politik der Grenzüberwindung

Die Aufforderung, Grenzen zu überschreiten, gehört zum selbstverständlichen Vokabular des Fortschrittlichen – ‚Progress durch Transgress‘, ob in Kunst, Pop oder Theorie. Bis in die Gegenwart wirkt das künstlerische Erbe vom Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Die klassischen Avantgarden verfolgten verschiedene Projekte der Überschreitung und Auflösung: Der Futurismus wollte die Grenzen von Technik und Kunst aufheben, der Dadaismus jene von Bild und Wort, der Surrealismus die Grenze von Fakt und Fiktion, in der Mitte des Jahrhunderts dann der Situationismus die von Kunst und Alltag.

An den Situationisten als jüngster Erscheinung lassen sich die typischen Gesten des ästhetisch-politischen Grenzübertretens sowie deren gegenwärtige Faszinationskraft aufzeigen, von der in den vergangenen Jahren zahlreiche Hommagen an situationistische Slogans in Kunst, Aktivismus und Theorie zeugten. Daran anschließend wird die – für Avantgarden typische – negative Konnotation der Grenze mit einigen eher grenzfreundlichen Positionen konfrontiert, um schließlich zu zeigen, warum die Überschreitungsgeste heute problematisch geworden ist – und wie das mit den aktuellen Verschiebungen gesellschaftlicher Grenzziehungsprozesse zusammenhängt.

Die Situationisten hatten einen umfassenden Anspruch: Die Grenzen von Kunst und Politik galt es für sie ebenso zu überwinden wie die von Kunst und Alltag, oder mehr noch: Kunst und Leben. Diesen von den Dadaisten übernommenen Anspruch, dass die Kunst als Leben und das Leben als Kunst zu begreifen sei, wendeten die Situationisten aber selbst politisch: Die Kunst bzw. die Spuren der darin enthaltene ‚Poesie‘ hielten in ihrer Vorstellung die Möglichkeit einer ‚Rückkehr des Verdrängten‘ bereit. Das Verdrängte verweist nicht wie bei Freud auf das Innenleben des Subjekts, sondern auf ‚radikale Bedürfnisse‘ im Sinne von Marx (die Situationisten sprechen von ‚Begierden‘). Jene Begierden sollten durch die Kunst an die Oberfläche des ‚Lebens‘ geholt werden und sich in Klassenkämpfen Bahn brechen. In dem Sinne war Kunst Mittel zum revolutionären Zweck.

Guy Debord, der Anführer der Gruppe, schreibt über die Verfehlungen der klassischen Avantgarden: „Der Dadaismus wollte die Kunst wegschaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie wegzuschaffen. Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Wegschaffung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst sind.“ (Debord 1996: 128f.) Kunst darf nicht um ihrer selbst willen betrieben werden, l’art pour l’art gehört für Debord als ‚Ideologie der Kunst‘ bekämpft. Darum trennen sich die Situationisten konsequent von den ‚Nur-Künstlern‘ aus ihrer Gruppe. Die angestrebte Grenzauflösung führt vorab zu strikten Grenzziehungen und Ausschlussverfahren.

Ein paralleles Grenzauflösungsprojekt betrifft das Verhältnis von revolutionärer Theorie und Praxis: Propagiert wurde eine ‚Praxis der Theorie‘ (Bücher schreiben) und eine ‚Theorie der Praxis‘ (die Planung und Inszenierung von Aufständen). Als dezidiert antiakademische Praxis-Theoretiker trieb die Situationisten ein tiefer Hass gegen Studentenmilieu und Universitätsbetrieb an. Nicht nur Entpolitisierung, sondern auch falsche Politisierung führte zur verbalen Trennung; ein Ausschlussgrund war etwa der Eintritt von französischen Professoren wie Henri Lefebvre in die von den Situationisen als zu orthodox kritisierte Kommunistische Partei Frankreichs. Die radikale Praxis der Ausschlüsse dezimierte die Gruppe stark und mündete in einem heroischen Akt der Selbstzerschlagung.

Was für die Situationisten gilt, charakterisiert zahlreiche Avantgarden und Gegenkulturen: Die Grenzen, die eingerissen werden sollten, weichen neuen, bisweilen rigideren Grenzziehungen, die im Akt des Rauswurfs aus der Gruppe überdeutlich vorgeführt werden. Dies ist nicht Ausdruck von ‚Intoleranz‘, sondern Bedingung der großen Grenzauflösungsgeste selbst. Im Falle der Situationisten ist das eine Geste der Entschleierung: Mit ideologiekritischer Emphase soll der Alltag, besonders auch der Kunst- und Universitätsbetrieb, als Ort entlarvt werden, der konsumistische Passivität, Oberflächlichkeit und Langeweile hervorbringt.

Dem setzen die Situationisten Auf- und Ausbruch, Abenteuer, Heroismus entgegen: Alles soll aufregender, überraschender, verspielter sein, nur dadurch könnten „die Worte, die Musik, die Schreie, die Gesten, die Malerei, die Mathematik und die Tatsachen wiederentdeckt“ werden (SI 2008: 162). Das Unmittelbarkeitspathos scheint notwendig zu sein, um die eigene Grenzüberschreitung sicht- und hörbar zu markieren. Da die angestrebte Intensität sich bei den Situationisten aber vor allem bei Ausschlussprozessen einstellte, steht die euphorische Rede von der Grenzüberschreitung als Befreiungsschlag in Frage; gegenkulturelle und avantgardistische Gruppen waren seit jeher Agenten strikter Grenzziehungen.

Diese Einsicht deckt sich keineswegs mit dem Selbstverständnis der Situationisten und anderer Avantgarden: Grenzen gelten ihnen als etwas Problematisches, Falsches, zu Überwindendes. Nicht zufällig leiten die Situationisten aus dieser Sichtweise ein Interesse am „Leben“ als Ganzem, als grenzenloser Totalität, ab. Die elementaren Funktionen von Grenzen, sowohl was die Denktätigkeit und Begriffsbildung als auch die eigene Gruppen- und Gemeinschaftsbildung betrifft, werden dabei unsichtbar.

Der Soziologe Helmuth Plessner hingegen interessiert sich bereits in den 1920er Jahren aus einer grenztheoretischen Perspektive für das Leben. Da er die produktive Bedeutung von Grenzen stark macht, gelangt er zu einer Kritik solcher Gemeinschaftsbildungen. Grenzen sind für Plessner Bedingung der Möglichkeit des lebendigen Körpers, weil dieser mittels seiner Grenze, der Haut, eine Positionalität in der Welt erhält, die durch ihre Differenz von Innen/Außen „gebrochen“ und dadurch „von Natur aus künstlich“ ist (Plessner 1931:199).

Aus diesem Verständnis leiten sich für Plessner auch Gesellschaft und Öffentlichkeit als Grenzräume ab. Das 1924 verfasste Buch „Grenzen der Gemeinschaft“ reagiert auf das Erstarken der Gemeinschaftsideologien, die in den 20ern etwa in Gestalt der Jugendbewegung, aber auch kommunistischer und nationalistischer Gruppierungen auf eine wahrgenommene Kälte von Moderne und Gesellschaft antworten und ein Gegenideal warmer bis glühender Gemeinschaftlichkeit propagieren. Plessner kritisiert an diesem „Ideal gemeinschaftlichen Aufgehens in übergreifender organischer Bindung“ (Plessner 2001: 28), dass dadurch der Einzelne seines „Rechts auf Distanz“ (ebd.) beraubt werde. Der Kult der Aufrichtigkeit und Innerlichkeit ist so ruinös, weil er vom Einzelnen völlige „Entschleierung“ (ebd.: 58) fordert, ja seine „körperlichen Grenzlinien“ (ebd.: 110) niederreißt. Während die radikale Gemeinschaftsform innerhalb der Gesellschaft existiert, also jener Grenzziehungsprozesse der Öffentlichkeit bedarf, hegt sie eine „Feindschaft gegen das Unlebendige, Trennende, Künstliche“ und die Sehnsucht, „es zu vernichten und zur Natur zurückzukehren“ (ebd.: 56).

Ganz im Gegensatz dazu bringt Gesellschaft geradezu eine „Sehnsucht nach den Masken“ hervor, „hinter denen die Unmittelbarkeit verschwindet“ (ebd.: 41). Der entscheidende Motor der Vergesellschaftung ist also das geistige Moment, „da die Künstlichkeit als solche Wertschätzung genießt“ (ebd.). Das Individuum, das den Raum der Öffentlichkeit betritt, bedarf einer verhüllenden Form. Sie erfüllt die Doppelfunktion, nach innen zu schützen und nach außen zu wirken. Die Metapher der Maske weist auf eine derart grenzziehende Form.

Grenzauflösung im Einzelnen, zwischen den Einzelnen oder zwischen Gruppen und Sphären, ist für Plessner nicht nur konstitutionell unmöglich, sondern als Illusion und Forderung gefährlich, da zivilisationsfeindlich. Dass Grenzauflösungen politisch fatal sein können, macht auch Walter Benjamin in seinen Überlegungen zur Ästhetisierung der Politik deutlich, deren Prototyp er in einer avantgardistischen Schrift sieht: im futuristischen Manifest von Marinetti. Darin heißt es: „Der Krieg ist schön.“ (zit. n. Benjamin 1963: 49). Begründet wird seine Schönheit bei Marinetti humanistisch: Der metallische Mensch bringe es im Krieg wieder zu Größe und Heroismus, indem er die Herrschaft über die Maschine erlange, statt sich ihr zu unterwerfen (ebd.). Im radikalen Antimodernismus treffen sich die Futuristen mit den Faschisten, so Benjamin. Transgress schlägt hier um in Regress. Die historische Klammer der Texte von Plessner und Benjamin sind die 1920er und 30er; unverändert erhellend sind sie, wenn es zu einer Reartikulation von Gemeinschaftskult und Ästhetisierung der Politik in aktuellen politischen und künstlerischen Bewegungen kommt.

Was aber bedeutet es, wenn Grenzen nicht mehr fixiert werden können, sondern vielfältig, beweglich und dazu unsichtbar geworden sind? Kritisiert wird in aktuellen Diskussionen zur Topologie die Vorstellung eines Raums, in dem die Außengrenze eine klare Linie der Ausdehnung markiert; also eines Raums, in dem man eindeutig zwischen „offen“ und „geschlossen“, Innen und Außen unterscheiden kann. Der globale Raum der Gegenwart, so macht etwa Sandro Mezzadra (2012) deutlich, erscheint als Raum von Strömen oder ‚flows‘, in dem Grenzen nicht nur trennen, ausschließen oder blockieren, sondern eben auch verbinden und versammeln. Statt eine bereits vorhandene Welt „einzuteilen“, wirken sie weltbildend (Mezzadra 2012: 59).

Auch der illegale Flüchtling bewegt sich, wenn ihm der Grenzübergang glückt, durchaus im gesellschaftlichen Raum von Arbeitsmärkten und Staatsbürgerschaft, auch ohne über einen vollständig legalisierten Zugang zu ihnen zu verfügen (ebd.: 62). Er findet sich deshalb in einer Position des eingeschlossenen Außenseiters wieder. Eine solche Perspektive soll nicht über die Gewalt hinwegtäuschen, die Tote an den europäischen Außengrenzen zurücklässt. Doch Darstellungen von „Mauern“ oder der „Festung Europa“ unterstellen einen starren, unzugänglichen Block. Diese Auffassung verkennt erstens die Prozesse der ständigen Grenzkonstruktion und lässt überdies die Frage offen, wie und warum ein Großteil der Flüchtlinge den Grenzübergang schafft (ebd.: 64). Ein topologischer Ansatz würde auf der Grenze selbst ansetzen und sich für die genauen Arten und Weisen interessieren, in denen bewegte Körper Grenzregime überschreiten. So erscheint der Grenzübergang, aber auch die Grenzstabilisierung als Feld vielfältiger Kämpfe und Spannungen.

Dafür ist es notwendig, nicht nur geopolitische, sondern soziale und kulturelle Grenzen zu adressieren. Ob Flüchtlinge Zugang zum politischen Raum der Staatsbürgerschaft erhalten sollen, wird oft an ihrem „Nachhaltigkeitswert“ gemessen, an Kriterien wie Bildung, Sprachkenntnisse oder Bereitschaft zur Integration (ebd.: 69). So vervielfältigen sich Distinktionsgrenzen, aber auch Möglichkeiten der Grenzüberschreitung: Es gibt folgerichtig zahlreiche Wege und Taktiken, die Oppositionen legal/illegal, skilled/unskilled durch das Auffinden von Grauzonen zu unterwandern.

Wegen solcher Vervielfältigungen wird Grenzüberschreitung in der globalisierten Welt zu einem ambivalenten Unterfangen: Sie kann Ort politischer Kämpfe sein, wird aber auch zur normativen Anforderung. Um sich erfolgreich als Individuum zu entwerfen, ist man angehalten, nicht auf der Stelle zu treten, sondern sich in ständiger Bewegung und kreativer Selbstüberschreitung als Persönlichkeit neu zu erfinden – es ist kein Zufall, dass Soziologen wahlweise den nomadischen Flüchtling oder den Künstler als Vorbild dieses Subjektmodells identifizieren. Grenzüberschreitung ist zum Dauerprogramm für alle geworden  – fast unnötig zu betonen, dass ihr Provokationspotential damit an ihr Ende gekommen ist. Was das für unser Vokabular der Kritik bedeuten könnte, pointiert die Autorin Ashley Tauchert:

„In some cultural contexts, transgression is a liberating act, a means of revising, transvaluing, escaping a dead past. In the context of the contemporary academy, it is reactionary, impertinent, cowardly, stifling. Like the fumes of the automobile and heavy industry which befoul the atmosphere, transgression poisons our critical sensibilities.“ (Tauchert 2008: 2)

‚Against transgression‘ zu sein, wie der Buchtitel Taucherts lautet – liegt darin die letzte verbliebene Möglichkeit der Provokation?

 

Literatur

Benjamin, Walter (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Debord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat.

Mezzadra, Sandro and Brett Neilson (2012): Between Inclusion and Exclusion: On the Topology of Global Space and Borders, in: Theory, Culture and Society 29(4/5), 58-75.

Plessner, Helmuth (1931): Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders. Gesammelte Schriften V. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Plessner, Helmuth (2001 [1924]): Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Ders. Gesammelte Schriften V. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Situationistische Internationale (2008): Der Beginn einer Epoche. Hamburg: Edition Nautilus.

Tauchert, Ashley (2008): Against Transgression. Chichester: Wiley-Blackwell.

 

Der Artikel geht auf einen Vortrag zurück, der am 2. April 2016 beim Lichter Filmfest Frankfurt International gehalten wurde.