Produkte datieren. Retro, Vintage und der Konsum der Zeit
Wer Produkte rezensiert, kommt kaum umhin, sie zu datieren. Nicht nur, weil Waren dieselbe Aufmerksamkeit verdienen wie Theaterstücke, Ausstellungen oder Bücher und deshalb in ihrem historischen Kontext betrachtet werden sollten. Sondern vor allem, weil die Datierung eines Produktes sowohl das Konsumerlebnis als auch die Kaufentscheidung empfindlich beeinflussen kann.
Obwohl sie lediglich die Entstehungszeit der Waren angeben, ist die Werbesprache durchsetzt von Vokabeln wie ›Jetzt‹, ›Neu‹ oder ›Frisch‹, die als verheißungsvolle Versprechen gedeutet werden. Wer etwas Neues kauft, scheint mehr zu erwerben als nur ein Produkt. Mit ihm bringt man sich nicht nur auf den letzten Stand von Design und Technik, sondern darf sich zugleich auf der Höhe der Zeit wähnen. Womöglich wirkt man sogar besonders fortschrittlich und geschmackvoll, weil man in die paradoxe Lage geraten ist, seinen Zeitgenossen voraus zu sein. In der Mittagspause oder am Gartenzaun darf man kennerhaft über die Vorzüge gegenüber dem Alten schwärmen oder als Kritiker über den Flop schimpfen und die Pleite lästern. Wer etwas Neues besitzt, wird fast wie ein Entdecker bewundert, der von seiner Konsumexpedition zurückgekehrt sogar um Kaufempfehlungen ersucht wird.
Doch wie frisches Obst und Gemüse währt auch der Glanz des Neuen nur für kurze Zeit. Da mittlerweile schon die Yoga-Lehrerin und selbst die Jungs vom Stammtisch eines haben, verliert das Neue allmählich seine temporäre Exklusivität. Die Bekannten überlegen, ob es nicht äffisch wäre, es sich noch anzuschaffen, wo es doch schon jeder hat. Und die Nachbarn wollen es gar nicht mehr, weil sie lieber auf den Nachfolger warten. Doch während das nächste große Ding schon in der Luft liegt, lohnt es, sich die Waren, die mit der Aura des Neuen zumeist auch ihren Wert verlieren, nicht aus dem Auge zu verlieren. Denn mit den Jahren werden die allmählich in Vergessenheit geratenden Produkte immer seltener, so dass sie als Vintage oder Antiquitäten wieder erstaunliche Preise erzielen können. Der Auftritt Julia Roberts anlässlich der Oscar-Verleihung 2001, bei der sie ein Kleid aus dem Jahr 1982 trug, lässt erahnen, welche Bedeutung der Vintage-Markt in den letzten Jahrzehnten gewonnen hat.
Mit dem Begriff Vintage, der auf das lateinische vindemia zurückgeht und ursprünglich die Weinlese bezeichnete, wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts der Jahrgang eines Weines angegeben, der bekanntlich seinen Preis mitbestimmt. Aber nicht nur der Wert, auch wie alte Dinge wahrgenommen, beurteilt und behandelt werden, hängt von ihrer Datierung ab. Wer Vintage oder Antiquitäten kauft, erwirbt deshalb weit mehr als etwas in die Jahre Gekommenes. Man darf nicht nur eine exquisite Rarität sein Eigen nennen, sondern gelangt auch in den Besitz eines Stücks Geschichte. In dem anachronistischen Zustand, seinen Zeitgenossen gegenüber unzeitgemäß zu erscheinen, wird man als besonders anspruchsvoll und bewandert wahrgenommen. Schon der Kauf bietet die Gelegenheit, historische Sachkenntnis zur Schau zu stellen, denn schließlich muss man sich von der Echtheit überzeugen und den Erhaltungszustand bewerten. Zudem erfordert Altes zumeist konservatorische Maßnahmen, so dass die Scheibe aus den 70ern unter Umständen nur auf einem ganz gewissen Plattenspieler mit einer bestimmten Nadel aufgelegt werden darf.
Aber auch Altes kann abrupt seine Aura verlieren, wenn sich das gut erhaltene Einzelstück als billiger Nachbau entpuppt. Denn so leicht der Tacho eines Gebrauchtwagens manipuliert werden kann, lässt sich auch behaupten, dass dieses besondere Exemplar ganz offensichtlich aus diesem oder jenen Kultjahrzehnt stammen müsse. Wenn man sich vor Augen führt, auf welche Schwierigkeiten etwa Kunsthistoriker stoßen, wenn sie die Entstehungszeit eines bestimmten Werkes zu bestimmen versuchen, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass es letztlich keine allgemein anwendbare Methodik gibt, um Datierungen zu überprüfen und falsche Jahresangaben zu widerlegen. Besonders wenn suggeriert wird, man könne einem Objekt sein Alter doch ansehen, wie Vintage-Sammler und Antiquitätenhändler gerne kokettieren, sind erhebliche Zweifel angebracht.
Bereits seit geraumer Zeit wird die Aussichtslosigkeit, beim Anblick einer Ware ihre Entstehungszeit zu bestimmen, von einem ganzen Genre an Produkten ausgeschöpft. Denn was in seiner Farb- und Formgebung oder Materialwahl und Verarbeitung an den Stil vergangener Zeiten erinnert, lässt sich auch brandneu produzieren. Wer Retro-Produkte kauft, erwirbt also kein Relikt, sondern ein Replikat. Es lässt seinen Besitzer stilsicher und weltgewandt erscheinen, als handle es sich um ein historisches Original, ohne dass man sich jedoch um dessen Erhaltung oder Wert sorgen müsste. Denn Retro lässt sich auskosten und genießen wie etwas Neues, so dass es hervorragend als Requisite taugt. Im Handumdrehen hat man sich den Look Jean Sebergs angeeignet oder seinem Wohnzimmer das mondäne Ambiente eines Gentlemen’s Club verliehen.
Da Retro-Produkte zu marktüblichen Preisen und in entsprechender Stückzahl zu haben sind, eignen sie sich zudem hervorragend, eklektizistisch durcheinandergemischt zu werden. Sie verleihen nicht nur dem Trödel und Plunder vom Flohmarkt und aus dem Secondhand-Shop die nötigen Akzente, sondern bieten sogar Vintage eine passende Kulisse. Da längst nicht nur Accessoires, Kleidung, Möbel oder Autos produziert werden, die den Eindruck vermitteln, aus der Zeit gefallen zu sein, sondern sogar Apps downloadbar sind, die Handyfotos so wirken lassen, als seien sie mit Opis Kleinformat-Kamera aufgenommen worden, und selbst Lebensmittel auf den Markt kommen, die noch aus der guten alten Zeit stammen könnten, wird deutlich, dass Retro längst zu einem Lebensgefühl geworden ist.
Doch so gefragt Retro-Produkte auch sein mögen, so umstritten sind sie auch. »Gefälschte Geschichte«, empört sich Niklas Maak bereits 2005. »Ein Versuch, der eigenen Gegenwart zu entkommen – von der man mittlerweile gar nicht mehr weiß, wie sie aussieht.« Denn die Versuchung, die von Retro ausgehe, sei nicht der Reiz des Neuen, sondern das Verlangen, sich zu erinnern. Selbst wer in die Zukunft blicke, habe nur noch trübe Aussichten, da schließlich alles so aussehen werde wie in der Kindheit.
Aber manifestiert sich im Retro-Trend tatsächlich ein Nicht-von-der-Vergangenheit-lassen-können, das in seiner Rückwertsgewandtheit nostalgisch, gar reaktionär wäre? Denn zu Retro-Produkten greift nicht nur, wer in der Vergangenheit schwelgen will, sondern auch, wer so ausgesucht und erlesen erscheinen möchte wie die vermeintliche Upper Class.
Was ständig wiederholt wird, ist jedoch schnell abgedroschen, weshalb die Lust am Zitieren vielen schon suspekt war, als sie zumindest noch den Anschein wahren konnte, womöglich postmodern zu sein. Heute, da man die Phantom-Zeit nach der Moderne gerne hinter sich lassen würde, aber das große Zitieren einfach nicht zum Ende kommen will, wachsen die Sorgen: »Was wird passieren, wenn der Popindustrie die Vergangenheit ausgeht? Steuern wir auf eine Art kulturell-ökologische Katastrophe zu, wenn das Archiv restlos geplündert und der Strom der Popgeschichte endgültig versiegt ist?«, fragt sich etwa Simon Reynolds unter dem programmatischen Titel »Retromania«.
Wenn man durch die 2012 erschienene deutsche Übersetzung seines Buches blättert, fällt jedoch auf, wie unfreiwillig retro selbst die Befürchtungen vor dem Ende der Geschichte heute erscheinen. Gerne würde man antworten, auch wenn die Geschichte endlich wäre, ließe sie sich endlos zitieren, aber auch dabei würde es sich um die x-te Cover-Version eines postmodernen Philosophems handeln. Es gibt jedenfalls keinen Grund zur Sorge: Die Möglichkeiten sind vielfältig, man muss sie nur nutzen – bis die Geschichte irgendwann weitergeht.
Verbreitet ist auch die Angst, dass mit dem Retro-Trend historisch längst überkommene Wertvorstellungen wiederkehren könnten. Denn auch so fragwürdige Gestalten wie das Pin-up scheinen heute ein Revival zu erleben. Leider haben die immer zahlreicher werdenden Retro-Magazine dem wenig entgegenzusetzen, weil sie sich auffällig unkritisch geben, als würden sie den Eindruck erzeugen wollen, selbst aus einer Zeit zu stammen, als von Kritischer Theorie noch keine Rede sein konnte.
Doch die dunklen Seiten der Geschichte waren nie ein guter Grund ihr den Rücken zu kehren. Im Gegenteil: Mögen doch all die problematischen Role Models ruhig wiederkehren, auf dass sie heute einer gründlichen Kritik unterzogen werden. Eine Grundlage könnten hierfür Konsumrezensionen bieten, die Produkte nicht nur affirmativ als im Supermarkt Gegebenes, sondern auch historisch-kritisch als Gewordenes betrachten.
Aber werden Historiker nicht auf unüberwindbare Datierungsprobleme stoßen, wenn sie einmal auf das frühe 21. Jahrhundert zurückblicken? Werden sie nicht dazu verurteilt sein, Retro mit Vintage zu verwechseln? Nein, denn die Gegenwart dürfte Historiker nicht vor größere Herausforderungen stellen als andere Epochen wie etwa die Gründerzeit oder die Gilded Age, in denen auch rege zitiert wurde.
Oliver Krätschmer ist Kunstwissenschaftler und widmet sich insbesondere Problemen der Datierung. Derzeit ist die Ausstellung 31,2 laufende Meter zur Geschichte des Badischen Kunstvereins zu sehen, die von ihm mitkuratiert wurde.