Sechs Signifikationen: Rezension zu Ole Petras, »Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung«
von Thomas Wilke
15.2.2014

Popmusik ist mehr als Musik

Popmusik als einen lohnenswerten Untersuchungsgegenstand zu begreifen, galt innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses lange Zeit als unseriös und randständig. Die seit 2011 vorliegende Studie von Ole Petras unternimmt den Versuch einer methodischen Bündelung in der Analyse von Popmusik. Er greift den den aktuellen Forschungsdiskurs auf, der seit mehreren Jahren aus ganz unterschiedlichen Fachdisziplinen heraus die Komplexität von Popmusik und ihre gesellschaftliche Relevanz betont. Dabei beginnt Petras keineswegs voraussetzungslos, sondern betont und integriert aus einer eigenen stark literaturwissenschaftlich geprägten Forschungstradition heraus ganz unterschiedliche Perspektiven.

Damit kein Missverständnis entsteht, Petras will keineswegs aufzeigen, was Popmusik bedeutet. Sonst wäre der Titel verfehlt. Er umgeht ganz bewusst eine Phänomenologie und eine Positionierung hermeneutischer Ausdifferenzierungen, die auch im Rahmen einer solchen Studie nicht zu leisten wären. Vielmehr präsentiert er ein vielschichtiges, offen angelegtes und zugleich systematisch methodisches Setting. Dieses hebt neben der Musik an sich, der Medialität, den Aufführungspraxen sowie der Zeichenhaftigkeit eben auch die gesellschaftliche Einbettung und die möglichen ökonomischen Wechselverhältnisse von Popmusik hervor. Schon dieser Versuch, den in den Blick genommenen Horizont zu resümieren, verspricht einen gewaltigen Analyse-Rundumschlag.

Was macht nun Ole Petras, oder besser: wie sieht das bei ihm aus? Bereits der Untertitel gibt hier drei Hinweise: Eine synchrone Beschreibung schließt einen historiographischen Zugang über den Vergleich eines Ist-Zustandes aus, eine Beschreibung widmet sich dem Beobachtbaren und vermeidet Erklärungsversuche. Drittens zeigt der Begriff der Zeichenverwendung, dass neben dem vorgeschlagenen Setting ein eigenes semiotisch geprägtes methodisches Verständnis zugrunde liegt. Dabei wird das Zeichen bei ihm mit der entsprechenden theoretischen Herleitung und einem analogen Schluss zu einer „signifizierenden Einheit“.

Petras bewegt sich insgesamt in einem großen theoretischen Umfeld, das ohne disziplinäre Zuschreibung und mit unterschiedlicher Gewichtung zwischen Karbusicky, Goodman, Peirce, Lotman, Genettes, Deleuze, Guattari bis hin zu Kristeva und Foucault und weiteren changiert. Denn er möchte im Verständnis der Popmusik als bedeutungstragender Zeichenkomplex „alle denkbaren Perspektiven“ (S.14) integrieren. Aus dieser engagierten Sicht heraus „interagieren alle Funktionen“ von Popmusik als eine „übergeordnete[n] Struktur der Bedeutungserzeugung“ (ebd.). Dabei soll hauptsächlich unter Rückgriff auf das Rhizom als einem theoretischen Modell „die Vergleichbarkeit der Befunde ermöglicht“ (S. 285) werden. Mit einer – bei allem Respekt vor und Sympathie für theoretische Textschlachten – bei solcher Verallgemeinerung besteht die Gefahr, dass das Modell normativ und holzschnittartig wird. Doch ist es das tatsächlich?

Petras definiert sechs umfangreiche verschiedene Ebenen (bei ihm: Signifikationen), die in sich geschlossen jeweils voneinander abgrenzbare Themenbereiche abdecken, um „einen Bezug zur sukzessiven Genese des Kunstwerks zu erhalten“ (S. 283): die Ebenen der Komposition, der Produktion, der Illustration, der Distribution, der Akquisition und der Rezeption. Diese recht großen Themenbereiche, so viel sei vorausgeschickt, schließen sich in ihrer Ausdifferenzierung an vorbestehende analytische Perspektiven an und sind zugleich in ihrer Weiterführung anschlussfähig.

Auf der Ebene der Komposition analysiert Petras wenig überraschend das Musikstück in seinen Komponenten hinsichtlich seiner Form und Aussage. Als eine manifeste Verschriftung konzentriert er sich hierbei auf Aufbau Metrik, Syntax, Narrativität und Propositionalität bei dem Liedtext sowie auf Melodie, Harmonik, Rhythmus, Denotate und Konnotate bei der Musik. Die Ebene der Produktion umfasst dann Performanz, Performance und die Aufnahme. Die Performanz tritt noch einmal als „Performanz des Hörens“ auf der Ebene der Rezeption in Erscheinung, die Performance auf der Ebene der Akquisition beim Konzert als einem Unterpunkt der Public Relation.

Hier regt sich schon Widerspruch; bei allem Systematisierungswillen gerät das Modell zu groß und wendet sich gegen sich selbst: denn wenn versucht wird, alles zu beschreiben, wird nichts mehr beschrieben. Zumal die Performanz zwar mit Bezug auf Austins Überlegungen zur Performativität auf Sprechakte hergeleitet und in einem Analogon auf Musik übertragen wird: das mag bei Bob Dylans Liedtexten funktionieren, nicht aber bei Scooter oder Drum’n’Bass. Zumal die (durchaus notwendige, damit zusammenhängende und versprochene) Auseinandersetzung mit Performativität in einem solchen Kontext als Leerstelle auffällt (vgl. S. 223).

Auf der Ebene der Illustration geht es ihm das Sichtbare von Popmusik, das nicht nur im Titel und dem Cover sondern auch im Booklet durch Credits und Linernotes sowie dem Video in seiner Ästhetik und seinen Funktionen in Erscheinung tritt. Auf der Ebene der Rezeption vermeidet Petras eine Einengung auf den Rezeptionsprozess. Vielmehr führt er synchrone Differenzen – über die Performanz des Hörens, der Beschreibung medialer und kultureller Felder – sowie diachrone Differenzen ein.

Interessant zeigt sich hier die Begriffsverwendung von Petras: Popmusik ist bei ihm je nach Ebene Musikstück, Song, Referentialisierung, Artefakt, Identität und Differenz – allein im Zusammendenken dieser Begriffe und ihrer substanzreichen Spektren zeigen sich interdisziplinär-analytische Anschlüsse in der Beschäftigung mit Popmusik.

Eine Systematik immer erstrebenswert, um das Erkenntnisinteresse, das Problem, die Frage nicht aus dem Blick zu verlieren, Abgrenzungen vornehmen und die thematische Perspektivierung deutlich machen zu können. Das ist umso relevanter, wenn es sich um eine synchrone Beschreibung handelt, die durchaus umfassend bzw. dicht im Sinne Clifford Geertz auftreten möchte. Allerdings, und hier kommt der Haken der Systematik, sollten auch die Verbindungen innerhalb der Systematik erkennbar sein, denn eine Systematik kann aus der Sache heraus konsistent und kohärent sein, doch was bringt sie, wenn die einzelnen Ebenen unverbunden bleiben?

So gut und verdienstvoll eine Beschreibung aller „denkbaren Perspektiven“ ist, wirft es dennoch die Frage auf, inwieweit der Prozess der Bedeutungszuschreibung an Konsistenz verliert, wenn die Interaktion in ihrer Summe letztlich nur Behauptung bleibt. Dass es auf allen Ebenen beobachtbare Formen der Bedeutungszuschreibung in unterschiedlicher Intensität gibt, kann Ole Petras anhand vieler Einzelbeispiele sehr anschaulich und überzeugend aufzeigen. Die durchaus luziden Ergebnisse der Beispielanalysen stehen für sich, bleiben jedoch für das Gesamtmodell nur Teilergebnisse. Es fehlt zumindest ein Beispiel, das dies in der behaupteten Komplexität für alle Ebenen kenntlich macht.

Dies räumt auch Petras durchaus nachvollziehbar am Ende mit dem Verweis auf Untersuchungszeitraum und Suchoptik ein, denn „eine Analyse [kann] immer nur einen Ausschnitt textueller Kohärenz liefern“ (S. 285). Gleichwohl stellt sich die Frage, ob dann in der ausschnitthaften Analyse der Prozess der Bedeutungszuschreibung, deren Akteure und möglicherweise das Ergebnis hinreichend beschrieben ist. Es fehlen aus Sicht des Rezensenten auch deutliche Differenzierungen innerhalb der Popmusik, die zeigen, dass unterschiedliche musikalische (Sub-)Kulturen unterschiedliche Praktiken hervorbringen und eine derartige analytische Betrachtung in ihrem Umfang und differenzierten Bedeutungszuschreibung nicht möglich machen.

Wie verhält es sich beispielsweise mit Phänomenen der Popmusik wie Mashups, YouTube-Stars oder Minimal Techno? Diese passen nicht in das vorgelegte Raster der Beschreibung, da sich relativ schnell die Zugänge zu den Ebenen der Produktion, der Illustration oder der Distribution als schwer zugänglich erweisen. Eine Relativierung der notwendigen Rasterung popmusikalischer Zeichenverwendung hätte unter Umständen einen Dynamisierungsschub für das Modell der Bedeutungszuschreibung zur Folge. Schaut man sich zudem die Wahl der Beispiele an, so handelt es sich in der Mehrheit um auch in der Wissenschaft bereits etablierte Pop(uläre) Texte, bspw. von Bob Dylan, den Beatles oder Madonna.

Es fällt auch eine Gewichtung in der zeitlichen Verortung der Beispiele auf: So stammen von den insgesamt 147 genannten musikalischen Referenzen 57 aus dem Zeitraum von 1960 bis 1975, lediglich 20 sind nach 2005 erschienen. Das stellt natürlich die Frage nach der Aktualität und ihrer Notwendigkeit: Ist dieses Modell eines, das für eine historische Rekonstruktion von Bedeutungszuschreibungen plädiert, oder eines, das anhand von historischen Exemplifikationen zeigt, dass dies auch heute noch funktioniert?

An dieser Stelle zeigen sich die Schwachstellen des vorgelegten Modells, denn in der Fortführung der oben genannten Kritik an der Verbindung der Ebenen macht Petras eben nicht klar, wie eine synchrone Beschreibung der Zeichenverwendung unter Berücksichtigung der Komplexität funktionieren kann. Da er versucht, alles zu integrieren, wird vieles leider nur angesprochen. Eine weitere offene Frage zielt weniger auf das Erkenntnisinteresse, sondern sehr viel mehr auf das „Qui bono?“ Was erfahre ich über Popmusik, wenn ich einzelne (nicht weiter verbundene) Prozesse der Bedeutungszuschreibung beschreibe?

Das bei aller hier geäußerten Kritik in sich schlüssige und lesenswerte Buch zeigt eines: Popmusikanalyse ist komplex, sie bleibt es im theoretischen und methodischen Zuschnitt und vor allem im Versuch einer ganzheitlichen Betrachtung. Insoweit schließt die Studie an Philip Taggs 1982 formulierte Forderung an: „Studying popular music is an interdisciplinary matter. […] Indeed, it should be stated at the outset that no analysis of musical discourse can be considered complete without consideration of social, psychological, visual, gestural, ritual, technical, historical, economic and linguistic aspects relevant to the genre, function, style, (re-)performance situation and listening attitude connected with the sound event being studied.“ („Analysing popular music: theory, method and practice“, in: Popular Music 2 (1982), S. 37-65; online hier). Ole Petras kann gehaltvoll aufzeigen, dass Popmusikanalyse keinesfalls mehr eine „underdeveloped area“ darstellt.

 

Bibliografischer Nachweis:
Ole Petras
Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung
Bielefeld 2011
transcript Verlag
ISBN 978-3-8376-1658-3
314 Seiten

 

Prof. Dr. Thomas Wilke ist Professor für Kulturelle Bildung der pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.