Wolfgang Welts Welt: „Peggy Sue“ im popliterarischen Feld der 1980er Jahre
von Moritz Baßler
15.8.2013

Das ist keine Beichte

[zuerst abgedruckt in: „‚Über Alles oder Nichts.‘ Annäherungen an das Werk von Wolfgang Welt“, hg. von Steffen Stadthaus und Martin Willems, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2013, S. 75-93]

I

„‚Ficken‘ ist das Wort, nach dem ich gesucht habe“, schrieb einst Rolf Dieter Brinkmann.[1] Der Tabubruch, der im literarischen Gebrauch obszöner Sprache und im massiven Einsatz von Bildmaterial mit sexuellen Motiven (meist nackten Frauen) liegt, gehört maßgeblich zur Praxis jener Autoren, die die erste Phase der Popliteratur in der Bundesrepublik prägten.[2] Er markiert die Differenz zur prüden, muffigen, bildungsbürgerlichen Literatur der Vorgängergeneration, indem er deren Leser bewusst abstößt und somit vom Neuen und Eigenen ausgrenzt. Das ließ sich damals durchaus als linkspolitischer Gestus verstehen (vgl. etwa die Titelbilder der frühen konkret-Jahrgänge!). Zugleich behauptet der Umgang mit Wörtern wie „Ficken“ aber auch einen neuen, befreiten und damit irgendwie natürlicheren Umgang mit Sexualität. Wenn heute, aus der historischen Distanz, eher der Zwangscharakter dieser emanzipatorischen Praxis ins Auge fällt, dann liegt das daran, dass sich das diskursive Feld in den 1970ern aufgrund zahlreicher Faktoren, vom Feminismus über die Aufklärung (in der Bravo wie in der Schule) und die generelle Entwicklung der Popkultur bis hin zum Aufschwung der Erotik-Industrie, doch erheblich verschoben hat.

So mag es verwundern, dass auch Wolfgang Welts erster Roman Peggy Sue aus dem Jahre 1986 gleich im ersten Satz ostentativ das F-Wort bemüht: „Etwa zwei Jahre nach unserer ersten Begegnung machte mir Sabine am Telefon Aussicht auf einen Fick, allerdings nicht mit ihr selber, sondern mit ihrer jüngeren Schwester.“ (9)[3]

Und kurz darauf: „ich würde mit dieser Ute ficken, von der ich bis dahin immer nur gehört hatte“. (9) Das wirkt zunächst wie eine gewollte Wiederholung von 60er-Jahre-Gesten: Seht her, ich kenne keine Tabus, ich bin Pop; und das ist sicher auch ein Teil der impliziten Leseanweisung dieses Romanbeginns. Allerdings ist die Haltung, aus der heraus dabei gesprochen wird, von der Brinkmanns und seiner Zeitgenossen fundamental verschieden. Zwischen den beiden oben zitierten Fick-Stellen steht nämlich in direkter Rede jene Äußerung Sabines, die der autodiegetische Erzähler auf die genannte Weise interpretiert: „‚Die Ute fängt jetzt hier an zu studieren und interessiert sich für Journalismus. Du hast doch da Verbindungen. Kannst du was für sie tun?‘“ (9)

Von Geschlechtsverkehr ist hier, wie man sieht, gar nicht die Rede, dafür von Journalismus (der Erzähler schreibt Musikkritiken für das Bochumer Stadtmagazin Marabo). Sprich: Durch den eingeschobenen Sabine-O-Ton[4] generiert die Erzählung von Beginn an durchaus pointiert (wenngleich leicht zu überlesen) eine Distanz zu sich selbst, eine leichte Vorbehaltlichkeit, was Perspektive und Deutungskompetenz ihres Erzählers betrifft. Seine erste (Sprach-, Erzähl-) Handlung ist eine ebenso charakteristische wie problematische Interpretation und wird als solche ausgestellt. Das ist vor allem deshalb neu und irritierend, weil es sich hier eben um eine autodiegetische Erzählung handelt, in der der Autor sich selbst als Persona entwirft. In diesem Modus ist eine Differenz zwischen Erzählerrede und Textaussage, wie sie hier augenfällig wird, eigentlich nicht vorgesehen.

Zweifellos werden in Peggy Sue auch starke Signale der Authentizität, des Ehrlichen und Echten gesetzt: Dazu gehören die Bochumer Originalschauplätze, das unverbildete Arbeitermilieu, die Bedeutung von Fußball und Saufen, vor allem aber die minutiösen, zweifellos autobiografischen Details[5] und der dokumentarische Charakter (etwa in dem integrierten Feuilletontext Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe von 1982). Die Rezeption ist auf diese Signale angesprungen, fast alle bisher vorliegenden Texte zu Welt begeben sich auf die „Suche nach dem verlorenen Autor“ und finden ein Bochumer Original (das ergibt dann Titel wie „Stadtteilbukowski“, „Der trinkfeste Nachtwächter“, „Narr im Wunderland“, „Chronist des Potts“). Diedrich Diederichsen, der Welt aus Sounds-Zusammenhängen kennt (er tritt auch als Figur in Peggy Sue auf), hebt in einer Spex-Rezension ebenfalls auf diesen Authentizitätsgestus ab, auch wenn er dafür nicht anfällig ist, sondern sich beschwert:

„die Geste, ohne Beschönigung, Verklärung, Wahnsinn und vor allem ohne irgendeinen Gedanken mir das komplette, langweilige Leben vor die Füße zu knallen, hat was von Nötigung und Rockism: Nehmt mein kleines Leben, so ist es wirklich, alles echt, deswegen wertvoll!“[6]

Frank Schäfer spricht von einer „kruden, ohne ästhetisches Kalkül aufs Papier gerotzten Prosa, die offenbar nichts anderes als wahrhaftig sein will“,[7] und Jan Süselbeck im selben Sinne von einer „vollkommen distanzlos geschriebene[n] Suada aus unmittelbaren Selbstbetrachtungen“, die den Leser „zum Voyeur“ mache, was mit der späteren Psychose des Autors in Verbindung gebracht wird.[8]

All das ist sicherlich nicht ganz falsch, aber dennoch geht eine Prosa, die so subtil verschiebt (Ficken lies Journalismus lies Pop), schwerlich „vollkommen distanzlos“ zu Werke. Im nächsten Absatz outet sich der Erzähler denn auch als abgebrochener Student und zieht eine weitere Differenz ein: „Wenn ich jetzt vom Werkkreis Literatur der Arbeitswelt wäre, würde ich diese Maloche näher beschreiben.“ (9) Hier erhebt einer gerade nicht den Anspruch, ein schreibender Arbeiter, ein authentischer Malocher aus dem Pott zu sein. Zugleich distanziert sich Welts Text, indem er die links-engagierte Schriftstellervereinigung „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ bei ihrem vollen Namen aufruft, von einer politischen Literatur. Wenn er einen Absatz später dann doch auf Details seiner „Maloche“ im Plattenladen eingeht, dann ist das einerseits ein performativer Widerspruch zum vorher Gesagten und damit ein weiteres Signal, den Selbstaussagen des autodiegetischen Ichs nicht vollständig zu trauen. Andererseits wird aber tatsächlich mit einem spezifisch anderen Gestus erzählt als in der Arbeiterliteratur. Der besagte Absatz („Eine Freundin hatte ich auch nicht. […]“) nennt Markennamen (Tchibo, McDonald’s) und Popstars (Bowie, Müller-Westernhagen, Michael Franks) und kehrt dann wieder zum Thema Nr. 1 („wie ich alles dransetzte, diese Ute zu ficken“, 10) zurück – drei Indizien dafür, dass es sich bei diesem Gestus nicht um „Rockism“, sondern um Pop handelt.

 II

Peggy Sue ist bereits auf der Strukturebene keineswegs so schlicht, wie die vermeintliche „Suada“-Textur suggerieren mag. Die Ute-Geschichte fungiert im ersten Teil als ein Erzählrahmen, in den die Pop- und Sex-Sozialisation des Erzählers eingehängt wird. Im zweiten Teil des Romans wird dann das Feuilleton Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe, Welts erster Erfolg als Autor, eingefügt, das seinerseits eine Reihe von Textsorten mischt. Gleich im ersten Absatz heißt es dort: „Ich komme von Hölzken auf Stöcksken, nennt man das assoziieren?“ (122) Dieser Satz zeigt in nuce, dass hier ein Erzähler seinen Ruhrpott-Slang performiert, sich bildungsfern gibt, dabei jedoch sehr genau weiß, was er literarisch tut.

„Ohnehin fragte ich mich dauernd, wieso überhaupt so wenige Ruhrgebietsautoren Aufsehen erregen. […] Wieso schrieb hier keiner eine ‚Blechtrommel‘, gar einen ‚Ulysses‘, ein ‚Gruppenbild mit Dame‘, eine ‚Stunde der wahren Empfindung‘, ‚Jahrestage‘ oder wenigstens ‚Tadellöser und Wolff‘.“ (27f.)

Das sind schon hohe Vergleichsmaßstäbe für jemanden, der angeblich nicht weiß, was Assoziieren ist. Zwar wird diese Liste dem erzählten Ich zugeschrieben („fragte ich mich dauernd“), doch kann sie ihren poetologischen Status nicht verbergen. Man erkennt ein gewisses Faible für Werke mit starkem, bisweilen geradezu archivarisch-chronistischem Lokalbezug: Grass’ Danzig, Joyces Dublin, Bölls Köln, Johnsons und Kempowskis Mecklenburg – an diese Reihe, so wird suggeriert, wäre anzuknüpfen.

„Immerhin hielt ich mich für den wichtigsten jungen Schreiber im Revier“, heißt es im Nachfolgeroman Der Tick (2001),[9] und „Revier“ ist hier durchaus im doppelten Wortsinn zu lesen. Gegenwartsliteratur von Bochumer Autoren, wenn sie Welt denn begegnet, findet stets seine volle Aufmerksamkeit. Genannt werden, neben Max von der Grün, u.a. Frank Göhre (Schnelles Geld, 1979) und Bettina Blumenberg mit ihren Texten in der Suhrkamp-Anthologie Von nun an. Neue deutsche Erzähler (1980). Die arty Kurzprosa der Philosophentochter, der er die Publikationsmöglichkeit „in ersten Häusern“ neidet („immerhin war sie aus dem Ruhrgebiet“, 27), gefällt ihm zwar nicht, aber auch diese Wertung wird uns keineswegs rockistisch vor die Füße geknallt. Eher subtil heißt es bereits vor Erwähnung Blumenbergs: „Nur eine Geschichte gefiel mir, die von einem mir unbekannten Strätz.“ Vom Text der Autorin selbst (Angriffe) behauptet er dagegen, „daß ich ihn nicht ganz verstand“ (27) – dass dies dem hermetischen Gestus des Textes geschuldet ist, verschweigt er höflich (zudem lohnt der Blick auf das vorangestellte Porträtfoto, das die Autorin mit maximal verklärtem Gesichtsausdruck zeigt – sozusagen das Gegenteil von Pop).[10] Vom forciert hochliterarischen Anspruch des edition suhrkamp-Bandes distanziert er sich aber bereits im Absatz vorher, indem er die prätentiöse Titelformulierung (Von nun an) überaus profan in einem Satz über den beklagenswerten Zustand seiner Lohntüte einbaut („Selten erreichte ich von nun an das Limit, von dem an man mich am Umsatz beteiligte“, 27). An solchen Stellen erweist sich die vermeintlich distanzlose und platt-realistische Prosa Welts („alles echt, deswegen wertvoll“) als bewusst und in Kenntnis der Alternativen gewähltes Verfahren.

 III

Um dieses Verfahren im literarischen Feld um 1980 näher zu bestimmen, lohnt ein Blick auf die en passant erwähnten Göhre und Strätz. Auch wenn Frank Göhres rororo-panther-Roman[11] Schnelles Geld, den Welt für Marabo rezensiert, und die edition-suhrkamp-Prosa Katastrophal von Harald Strätz auf den ersten Blick publikationstechnisch und vom Anspruch her aus verschiedenen Welten zu stammen scheinen, präfigurieren beide signifikante Merkmale von Welts Prosa.

Göhres Roman erzählt personal, in figurennaher Umgangssprache und im Präteritum, mit vielen Dialogen und stilistischen Anklängen an den Hard-boiled-Krimi, die Geschichte von Charly, einem Büchereiangestellten, der über seine alten Schulfreunde in kriminelle Machenschaften verstrickt wird. Auffälliges Merkmal der Prosa sind von der ersten Seite an die zahlreichen, kursiv hervorgehobenen Namen von Originalschauplätzen (z.B. Kneipen) im Ruhrgebiet sowie die häufige Nennung von Popmusikern, Bands, Songs und Lyrics,[12] dazu Automarken. Der Lokalbezug wird zudem durch die Fotos hergestellt, die am Beginn jedes Kapitels einmontiert sind (das erste zeigt ein Stück Autobahn mit Wegweiser bei Essen, Richtung Bochum, ein weiteres rauchende Schlote). Der Pop-Bezug ist vom ersten Satz an präsent („den Kopf voll Suff und Rock ’n Roll“[13]) und wird in Rückblicken als Sozialisationsfaktor erkennbar:

„sie waren in den Schuppen am Busbahnhof gegangen, wo sich die Typen trafen, die auf Elvis und Cliffy standen und auch so aussahen: Röhrenjeans und Dreivierteljacken, gestreifte T-Shirts, Jailhouse Rock, Hüftdrehung und Überschwung. Die Musik dröhnte aus den Boxen, die Spotlights flackerten und Rita hatte ihn auf die Tanzfläche gezogen.“[14]

Wie bei Welt ist es vor allem der Rock ’n’ Roll, auch in seiner Retro-Form als Rockabilly, der bei Göhre diese Rolle spielt (neben Country). Eine weitere Parallele sind die wechselnden Frauenbeziehungen, wobei gleich die erste Interessierte, die fünfzehnjährige Uli, noch was ganz anderes will:

„- Hey, sagte das Mädchen und war schon im Zimmer, hockte sich auf das Bett und strahlte ihn an.

– Ich brauch ’n Buch von dir. Von der Grün. Hast du von der Grün?“[15]

Damit steckt Schnelles Geld ziemlich genau das Spannungsfeld zwischen Ruhrgebiets-Autochthonie („Und dä Fußball is wieder am laufen. Und Vatter hat Last mit die Füße, das bleibt ja nich aus bei die Maloche. Willze noch ’n Pils?[16]), literarischem Bewusstsein, Popsozialisation und Frauensuche ab, das dann auch für Peggy Sue charakteristisch ist. Der Hauptunterschied liegt darin, dass Welt diese Konstellation konsequent autodiegetisch, ja autobiografisch formulieren wird. Göhre dagegen, der nach Ausweis der biographischen Notiz im Buch ebenfalls erhebliche Übereinstimmungen mit seiner Hauptfigur Charly Kunkelfuß aufweist, muss seine durchaus originelle Prosa noch mit Genreelementen des Krimis versehen (z.B. kennt Charly eine Frau bei der Kfz-Zulassungsstelle u.ä.), um sie zu verkaufen. Dass Rowohlt den Roman aber an „junge Leser ‚zwischen den Generationen‘“ adressiert, ist von heute aus gesehen ein historisch signifikanter Reflex auf die zahlreichen Marker von Popkultur, die Göhres Prosa enthält. Einem erwachsenen Literaturpublikum war so etwas trotz oder gerade wegen Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll um 1980 offenbar (noch) nicht zuzumuten.

Stellt sich die Frage, wieso dann Harald Strätz’ Katastrophal jene e-literarischen Weihen erhalten konnte, die mit einer Publikation in der edition suhrkamp verbunden sind. Auch dieser fast 60-seitige Text beginnt mit Suff, Schimpfworten („Kackemalacke“) und obszönen Herrenwitzen („Frag ich die doch tatsächlich, ob ich mal lecken darf. Daß ich solange das Eis halte, hätte ich natürlich nicht sagen dürfen.“[17]), nennt im weiteren Verlauf Originalschauplätze (z.B. das SO36) sowie zahlreiche Marken beim Namen (oft in Versalien, z.B. TCHIBO, EDUSCHO, LANGNESE, SPALT, TOGAL, SPIEGEL, IBM, aber auch zahlreiche Zigaretten- und Getränkemarken), verwendet Fußball- und Kraftausdrücke, und spricht, wenn auch nicht so flächendeckend wie Göhre und Welt, über Popmusik (u.a. Stones, Elvis, Leonard Cohen).

Dabei wird vollständig auf Genremuster, und das heißt auch: auf traditionelle Elemente von Handlung und Spannung verzichtet – womöglich eine erste Voraussetzung, diese Art von Prosa als vollwertige Literatur zu platzieren. Was zuvor den Text noch nicht tragen konnte, scheint nun als Struktur hinreichend: Das autodiegetische Ich, ein Büroangestellter, treibt etwas ziellos zwischen Kneipen und diversen Frauenbekanntschaften umher. Über seinen Freund Alfred, der auf Frauenversteher macht, heißt es: „Bei allem Verständnis denkt der nur an das eine. Wie ich. Er sagt, uns lockt doch alle nur das feuchte magische Dreieck, das ist halt in dieser Gesellschaft so.“[18]

Vielleicht ist auch dieser etwas forcierte Gesellschaftsbezug bei der Aufnahme in die „ersten Häuser“ der Literatur dienlich gewesen. Katastrophal durchmustert bundesrepublikanische Milieus vom Regierungsbüro („Das Büro ist das kleinere Übel. Wie die SPD.“[19]) bis zur Landkommune, wo bei freier, aber wenig befreiender Liebe Ernst Busch, Wolf Biermann und „Go down, Moses“ zur Gitarre erklingen, und endet mit einem RAF-Witz. Unzweifelhaft hat der Text aber auch formal eine gewisse Konsequenz: Als autodiegetischer Text ist er vollständig im Präsens gehalten, ein Modus, der durch Bret Easton Ellis (Less Than Zero) und Nick Hornby (High Fidelity) für den Poproman der 90er Jahre (Kracht: Faserland, Stuckrad-Barre: Soloalbum) stilbildend wird. Brinkmann (Keiner weiß mehr) oder Fauser (Rohstoff) hatten dagegen, ebenso wie Welt, im Präteritum geschrieben. Strätz nutzt diese nicht-mimetische Form der Ich-Erzählung – schließlich kann man nicht gleichzeitig erleben und darüber reden oder gar schreiben – für eine durchaus interessante Mischung aus Tirade und radikal fokalisierter Beobachtung der Umgebung („Hoffentlich bemerken die beiden nicht, daß ich sie in meinem voyeuristischen Vakuum beobachte.“[20]). Gerade die kommentierenden Einwürfe, die den Erzählfluss begleiten („Oh, Mann!“, „Zu dumm!“, „Er nun wieder.“ etc.), bestärken den Eindruck des Spontanen und Gegenwärtigen. Die häufigen Redeberichte vermeiden den literarisierenden Konjunktiv Präsens, so dass die Tirade nie ins Artifiziell-Thomas-Bernhardsche kippt. Dagegen kommt es ansatzweise bereits zu jenen enzyklopädischen Improvisationen, in denen es Stuckrad-Barre später zur Meisterschaft bringen wird; etwa anlässlich einer Frau im Zug:

„Sie ist der Typ ‚Leihbücherei hinterm Tresen’, überzogene Bücher kassieren, mit einer pflegeleichten Kurzhaarfrisur und einigen grauen Strähnen im Haar. Kinderlos und Goldrandbrille. Dezent karierten Rock mit einer etwas auffälliger karierten Jacke. An der einen Hand den Ehering, an der anderen den Ring ihrer jüngst verstorbenen Mutter. […] Ihr gepflegter Konversationsstil mündet in einen grenzenlosen Small-talk. Jawohl, Frau Lehrerin. […] Wie geht die wohl mit ihrem Mann um? Die hat doch gar keinen Mann. Jungfer aus Prinzip. Meyers 20bändiges Konversationslexikon, incl. Nachträge in der Vitrine hinter Glas in Augenhöhe.“[21]

Ausgehend von wenigen äußerlichen Beobachtungen und vielleicht Gesprächsfetzen generiert der Erzähler das Bild einer Frau inklusive Beruf und Inneneinrichtung. Weil sie als Sexualpartnerin nicht in Frage kommt, fällt es abschätzig aus und nimmt dabei sogar offenkundig kontrafaktische Schlüsse (Jungfer trotz Ehering) in Kauf. Das imaginierte Lexikon[22] lenkt von der gegenwartskulturellen Enzyklopädik des eigenen Assoziationsverfahrens ab.

Dabei bleibt alles, auch die misogynen Äußerungen und Herrenwitze, vollständig der Ich-Instanz zugeschrieben, die vom Text weder bloß als ‚Fall’ (z.B. als problematischer Alkoholiker) konstruiert noch aber auch als autoridentische behauptet wird. Wie fünfzehn Jahre später bei Kracht und Stuckrad-Barre fungiert diese Instanz vielmehr als genuin literarische Lizenz für ein welthaltiges Erzählen in einem dezidiert problematischen Modus. Dies wird im Text durchaus reflektiert, wenn es anlässlich einer sympathischen Sekretärin (mit der es auch zum Sex kommt) heißt: „Richterle mag meine Ausdrucksweise nicht. Lacht trotzdem darüber. Weil ich es bin. Ich darf das.“[23] Das ist ebenso poetologisch zu lesen wie die Rede vom „voyeuristischen Vakuum“: Strätz konstruiert hier ein episch-präsentisches Ich, das darf, was es tut, nämlich mit personal beschränktem voyeuristischen Blick auf verschiedene Milieus blicken und schimpfen. Suhrkamp-Literatur ist, wenn man trotzdem lacht.

 IV

Literarische Bezugspunkte des Strätzschen Erzählers sind Erich Kästner und Ralph Waldo Emerson. Popmusik kommt für ihn eher als Milieumarker vor: die Musikbox in der deutschen Provinz („Alte Kameraden und La Paloma“), die Cohen-Songs der alleinerziehenden Renate, die obsoleten linken Kampflieder der alternden Generationsgenossen. Eine Berliner Sozialarbeiterin wird durch ihren Musikgeschmack („Die Beatles gefallen ihr noch besser als Elvis, aber von denen auch nur die ersten Platten. Die Dire Straits findet sie ganz nett. Und Punk ist Spitze“) ebenso gut charakterisiert wie durch ihren Dialekt und Humor („Kennste die Hymne von Kreuzberch? Nee? Na von Elvis kennste doch In the ghetto, oder?“).[24] Zwar kann man sich in keinem anderen Text der Müller-Schwefe-Anthologie Von nun an die Nennung von Popmusiktiteln auch nur vorstellen. In Wolfgang Welts Roman, der sich zumindest innerhalb der Diegese ja ebenfalls einer Anregung des Suhrkamp-Lektors verdankt,[25] spielt der Pop-Bezug jedoch eine deutlich fundamentalere Rolle. Popmusik ist hier der Sozialisationsfaktor Nummer eins, der Anlass zum Schreiben und die Eintrittskarte auch in höhere Gefilde des deutschen Musikzeitschriften- und Verlagswesens; Pop-Bezüge prägen den Text dementsprechend vom Titel bis in die einzelnen Absätze (neben der Frauensuche werden hauptsächlich Begebenheiten aus dem Leben des Plattenhändlers und Konzertkritikers erzählt). Und dies geschieht ganz bewusst: „Es hatte nie viele Berührungspunkte zwischen Rock-Musik und Literatur gegeben“ (56), sinniert der Erzähler und ist elektrisiert, wenn er auf solche stößt. Am zitierten Ort geht es um Bands und LPs, die nach Romanen benannt sind, und für Peggy Sue gilt eben die Umkehrung. Welt praktiziert, vielleicht als erster deutscher Autor, ein Schreiben nach der Popmusik.

Im Zentrum des Welt’schen Pop-Universums steht, wie nicht anders zu erwarten, Buddy Holly. Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe erzählt die Sozialisation des Künstlers als Dokumentation einer Jugendszene: „Ich stell mich hinten an. Von jetzt an Fußball, Rock’n’Roll und vor allem der Buddy Holly Club auf der Wilhelmshöhe.“ (124). Es ist dieser Text, datiert mit Bezug auf Hollys 45. Geburtstag, der dem Erzähler (und Welt) den Zutritt zur gehobenen Musikkritik verschafft, nachdem er bereits vorher mit einem Text über Hollys 20. Todestag fürs Marabo überhaupt erstmals zum Autor wird.[26] Rock ’n’ Roll und Schreiben sind hier also gleichursprünglich und bleiben Äquivalente („Zurück ins Spektrum, zurück zu Buddy Holly, zurück zum Schreiben.“, 20). Unmittelbar benachbart sind die anderen Hauptkomplexe von Welts Prosa, nämlich, wie gleich zu Beginn gesehen, das Ficken, aber auch die Psychose. Sie befällt den angehenden Autor als Todesangst mit Schreibblockade, die dann in legendentauglicher (Diederichsen würde sagen: rockistischer) Manier bewältigt wird: „Heute Nacht oder nie. Ich stand gegen halb drei auf, ging von der Mansarde runter und holte mir aus dem Kühlschrank ’ne Pulle Cola und ’n Liter Milch. Dann schrieb ich. Um sechs war das Ding fertig.“ (22)

Man kann hier kaum von unverdichteter Prosa sprechen: Gerade über die Buddy-Holly-Idiosynkrasie findet eine erhebliche Verdichtung des Textes statt, Leben und Schreiben werden über dieses enzyklopädische Stichwort aufs Engste miteinander verwoben. So heißt seine englische Brieffreundin, mit der es zu einem enttäuschenden Treffen kommt, Sue und deren Mutter Peggy („Das ergab ‚Peggy Sue’, mein Lieblingslied von Buddy Holly. Fand ich lustig.“, 17). Auch seine nach Ausweis von Auto-Dokumenten bis heute andauernde Freundschaft mit Philipp Goodhand-Tait beruht darauf („Ich las in der Zeit, geschrieben von Franz Schöler, daß da einer Songs im Stile von Buddy Holly schrieb“, 18). Und wie die Frauen durchgehend unbeirrt nach ihren sekundären Geschlechtsmerkmalen bewertet werden, so bleibt auch der Musikgeschmack, Hauptlegitimationspunkt des bezahlten Schreibens, vollständig abhängig von der frühen Prägung. Welt und sein Erzähler sehen in der legitimen Nachfolge Hollys etwa Alan Vega von Suicide[27] sowie ganz allgemein Punk. Rituell beglaubigt wird diese musik- und zugleich lokalhistorische Kontinuität am Ende von Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe durch die Auszeichnung des Patenkindes Marcus:

„Neulich kam er von der Lütgendortmunder Kirmes mit einem Badge auf dem Pullover: ‚Ich bin gegen alles‘, ein elfjähriger Punk. Ich griff an mein Revers, nahm meinen Button ab und schenkte ihn meinem Neffen. Es war letzten Montag. Von der Anstecknadel lächelt ein bebrillter junger Mann mit falschem Gebiß. Es war Buddy Holly. Er wäre an diesem Tag 45 geworden.“ (139)

 V

Das ist nicht so sehr weit von der Engführung zwischen Elvis und Punk entfernt, wie man sie bei Strätz oder wirkmächtiger etwa bei Neil Young findet. [28] Aber Buddy Holly ist eben nicht Elvis. Steht dieser für die große Erzählung, den Urknall von Pop schlechthin, so repräsentiert Holly eher eine kleine, geniale, aber in jeder Hinsicht idiosynkratische Spielart von Rock ’n’ Roll,[29] falsches Gebiss und Hornbrille statt Beckenkreisen und Goldsuit. Gerade hier anzuknüpfen, wie Welt das tut, ist also auch ein Statement, eine pophistorische Ortsbestimmung.[30] Und vielleicht ist es kein Zufall, dass auch die edition suhrkamp kurz zuvor „Für eine kleine Literatur“ plädiert hatte, im Untertitel zu Deleuze/Guattaris Kafka-Bändchen von 1976,[31] das dem Philologie-Studenten Welt nicht entgangen sein wird.

Vielleicht hätte Peggy Sue ohne diese Verpflichtung auf die Buddy-Holly-Musik und damit auf das Kleine zu einer Chronik der frühen Neuen Deutschen Welle und damit zu einer Art Urknall der deutschen Popliteratur werden können. Es ist ja nicht so, dass Welt die frühe deutsche Punk- und Wave-Szene, die um 1980 herum noch im Zeichen des Ratinger Hofs steht, nicht wahrgenommen hätte, im Gegenteil. In seiner Eigenschaft als DJ wird dem Ich-Erzähler das Obsolete seines eigenen Musikgeschmacks deutlich vor Augen geführt: „Schon nach der dritten Nummer kamen die Kids angelaufen. ‚Du bist wohl bescheuert! Was spielt du für einen Scheiß! Wir holen dich gleich da runter! Spiel mal Ideal! Spiel mal D.A.F.! Spiel mal Kim Wilde!‘“ (117)

Auch S.Y.P.H. und Fehlfarben haben in Peggy Sue ihren Auftritt, wenn auch eher unter lokalen als unter musikhistorischen Vorzeichen; das Urteil fällt milde zustimmend, aber nicht enthusiastisch aus („Im Laufe eines solchen Abends mußte ich in der Regel sämtliche Stücke der Fehlfarben-LP spielen. Hatte ich auch nichts gegen.“, 119). Eine ähnliche Haltung nimmt der Kritiker Welt etwa auch zu Motörhead ein, die er auf der legendären No Sleep ’Til Hammersmith-Tour begleitet:[32] Statt, wie es Musikkritiker ja gelegentlich tun (müssen), gemeinsam die Ikone hochzuhalten, die Band und sich zu mythisieren, statt also Größe zu evozieren und an ihr teilzuhaben, charakterisiert er die drei Metaller als nette Menschen, die leider schreckliche Musik machen[33] (sprich: nicht recht nach Buddy Holly klingen).

In unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft zu Welts literarischen Anfängen bringt Peter Glaser 1984 bei Kiepenheuer & Witsch seine Anthologie Rawums. Texte zum Thema heraus. Unter den Beiträgern finden sich neben Künstlern (Kippenberger, Dokoupil) und jungen Bachmann-Preisträgern (Goetz, Morshäuser) auch „mit allen Wassern der Stadtzeitschriftenzone gewaschene“[34] Autoren wie Hubert Winkels (damals beim Düsseldorfer Überblick, für den Welt später auch schreibt) und Pop-Kritiker wie Diederichsen und Jutta Koether von Spex. Glaser selbst ist mit einem Text vertreten, den er gemeinsam mit Thomas Schwebel, dem Texter von S.Y.P.H. und Fehlfarben, verfasst hat und in dem ubiquitär „Ficken“ vorkommt, sogar als letztes Wort (Handlung mörderisch). Besonders im zu Recht bekannt gewordenen einleitenden „Explosé“ Zur Lage der Detonation formuliert der Herausgeber das Verhältnis von Popmusik und Literatur in einer Weise neu, die weit über das hinausgeht, was Welt sich zur selben Zeit vorstellen kann, obwohl es durchaus auf seiner Linie liegt: „Songtexter“ wie Schwebel werden ausgemacht als „die ersten Schreibenden zum Ende der literarisch hinsiechenden 70er, denen der Kragen platzt“.[35] Gegen eine langweilige, langsame und nur mit sich selbst beschäftigte E-Literatur stellt Glaser Punk und „Neue Welle“: „Das beste Buch des Jahres ’81 ist eine Schallplatte“ – so weit wäre der Spiegel-Leser und Möchte-gern-Suhrkamp-Autor Welt denn doch wohl nicht gegangen (und schon gar nicht hätte er sich dann ausgerechnet für „’Monarchie und Alltag’ von Fehlfarben“ entschieden).[36] Die Differenz ist unter anderem am Verhältnis zu Peter Handke auszumachen, dessen Die Stunde der wahren Empfindung (1975) Welt, wie gesehen, zu den unerreichten Vorbildern zählt,[37] während das Buch für Glaser ein Symptom für obsoleten „Tiefsinn“ auf dem „Grund des Marianengrabens“ darstellt.[38] Dennoch ist Welt und den Rawums-Autoren das Bewusstsein gemeinsam, nach der Popmusik zu schreiben und also, unausgesprochen, so etwas wie Pop-Literatur zu sein.

 VI

Für Süselbeck ist Wolfgang Welts Prosa „dem Stil nach irgendwo zwischen Charles Bukowski und Rainald Goetz verortbar, aber dann doch ganz anders und ziemlich eigen.“[39] Ebensogut ließe sie sich auch zwischen Frank Göhre und Harald Strätz einordnen. Gemeinsamkeiten wären der nicht mehr ganz jugendliche Mann im Zentrum der Erzählung, die durchgehend interne Fokalisierung, die figurennahe Sprache, die Verwendung von Markennamen und Popmusik, die mäßig erfolgreichen Frauengeschichten, der konsequente Gegenwartsbezug, die Archivierung lokaler Spezifika (Dialekt in wörtlicher Rede, Kneipennamen, Lokalitäten) und der Bezug auf andere Literatur. Anders als Göhre verzichtet Strätz darauf, diese Prosa noch mit Genre-Strukturen zu überformen, mit dem Ergebnis, dass er auf Lektoratsebene als Literatur-Literatur (edition suhrkamp) wahrgenommen wird, während man Göhre in Jugendbuchreihen platziert. Welt strebt eindeutig ersteres an, allerdings räumt er Popmusik und -szene eine konstitutive Rolle ein, die sich bei Strätz so nicht findet. ‚Gesellschaft’, Ende der 70er der kleinste gemeinsame Nenner linker (Suhrkamp-) Literatur, interessiert den Welt’schen Erzähler dagegen nicht. Zwar inszeniert er einen Aufstand gegen den Betreiber einer Kette von Plattenläden, für den er arbeitet, doch ist die Tatsache, dass er den Ratinger Hof-Slogan „Wir sind die Türken von morgen“ in seinem Protestbrief erwähnt (98), dabei deutlich interessanter als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit prekären Arbeitsverhältnissen. Auch die lokale Hausbesetzerszene ist für ihn bloß ein (bezahlter) Schreibanlass unter anderen, die Popkritik ist ihm wichtiger und bleibt das einzige, was er aus eigenem Antrieb verfasst:

„Abends tippte ich meinen Kommentar zur Besetzung. Es war das erste Mal, daß ich mich politisch zu äußern hatte. Ich bekundete meine Sympathie mit den Chaoten und wetterte gegen die halsstarrigen Stadtväter. In der Nacht hörte ich mir dann noch ungefähr dreißig Singles an, die im Laufe des Monats in die Redaktion eingegangen waren, und schrieb zu jeder ein, zwei Sätze.“ (114).

Sympathie bekunden und gegen die lokalen Autoritäten wettern klingt eher nach einem Kompromiss mit dem linken on dit als nach politischem Engagement, wogegen das popästhetische Engagement (dreißig Singles an einem Abend rezensieren) nichts zu wünschen übrig lässt. Popkultur tritt als Relevanzraum an die Stelle von ‚Gesellschaft’.

Formal wählt Welt wie Strätz die Ich-Form, bleibt aber wie Göhre beim epischen Präteritum. Von beiden Autoren unterscheidet ihn jedoch fundamental der radikal autofiktionale Gestus seiner Prosa: Peggy Sue wird zwar Roman genannt und damit eindeutig im Feld der Literatur verortet, jedoch heißt dessen autodiegetischer Erzähler Wolfgang Welt und ist mit dem Autor, was die biografischen Daten, die Verfasserschaft diverser Texte etc. angeht, auch sonst weitestgehend identifizierbar. Genauer: Die Figur Wolfgang Welt aus dem Roman Peggy Sue ist gleichzusetzen nicht nur mit dem Ich-Erzähler, sondern darüber hinaus „sowohl mit dem Träger der literarischen Autor-Funktion als auch mit dem journalistischen Autor“[40] desselben Namens. Welts Prosa hat also von Beginn an einen komplett autofiktionalen Charakter im Sinne einer geschlossenen Selbst-Poetik, wie Innokentij Kreknin sie jüngst anhand von Rainald Goetz entwickelt, vor allem aber für Joachim Lottmann beschrieben hat. In allen drei Fällen handelt es sich um Autoren, die Mitte der 1980er ins literarische Feld eintreten und kaum zufällig unter dem Label ‚Pop’ behandelt werden.

Lottmanns erster Roman Mai, Juni, Juli erscheint 1987, ein Jahr nach Peggy Sue, ist ebenfalls in Ich-Form und Präteritum gehalten, zeigt die Figur zwischen Frauen und popjournalistischen Projekten im Spex-Umfeld und spielt ausweislich des ersten Satzes „in der Zeit, als ich unbedingt ein Schriftsteller sein wollte“.[41] Zusätzlich zu diesen Gemeinsamkeiten übernimmt Lottmann auch den Kunstgriff, einen eigenen journalistischen Text als solchen in den Roman einzufügen. Kreknin liest das „als die Initialzündung eines poetologischen Prinzips, das auf die Herstellung einer konsistenten faction ausgerichtet ist, in welcher immer wieder der Protagonist als der Autor Joachim Lottmann aufscheint“,[42] wobei faction die im amerikanischen Gonzo-Journalismus praktizierte Mischung von Tatsachen und Fiktionen meint. Die Grenze wahr/falsch wird dabei nicht überschritten, sondern aufgelöst zugunsten eines neuen, paralogischen Modus, in dem die Konsistenz einer Autofiktion und damit des erschriebenen Selbst „nicht als Identität der Eigenschaften von Autor-Subjekt-Figuren umgesetzt werden muss“.[43] Vermieden wird, mit anderen Worten, die Authentizitätsfalle: Wenn die Rezensenten Wolfgang Welt in Bochum aufsuchen und befriedigt feststellen, dass er genau so ist wie in seinen Romanen, dann ist damit eben noch keineswegs gesagt, dass der reale Welt seinem literarischen Entwurf, wie er mit Peggy Sue etabliert wird, vorausginge. Die Auto(r)fiktion ist eben, wie bei Lottmann und beim späten Goetz, eine geschlossene. An die Stelle des obsoleten Authentizitätsanspruchs tritt nun aber keineswegs der Verzicht auf Referenz, vielmehr erweist „sich die vorhandene Referentialität von autofiktionalen Subjekten und den von ihnen organisierten Zeichen als eine der interessantesten und ergiebigsten Quellen der Analyse“;[44] was wohl nur so sein kann, weil es sich eben vor allem auch um ein ergiebiges Textverfahren handelt.

Vielleicht könnte man diese von Kreknin beschriebene Spielart geschlossener Autofiktion als popspezifische Lösung des Problems lesen, kulturelle Archivierung und Literarizität miteinander zu verbinden. Genau das ist jedenfalls Welts Absicht: Bei den Fakten bleiben („Mann, was fällt mir da alles wieder ein, echt keine Mache, mein Gedächtnis ist beängstigend.“, 132) und zugleich Literatur auf Suhrkamp-Niveau machen.[45] Müller-Schwefes im Roman kolportierte Reaktion in den heiligen Hallen des Verlags – „Ich erzählte ihm, was ich in den letzten Wochen so gemacht hatte, und er meinte, das sei doch schon ein Roman.“ (146) – bestärkt ihn in beiden Punkten zugleich: „einfach das komplette, langweilige Leben vor die Füße zu knallen“ (Diederichsen) und dabei dennoch einen „Roman“ zu verfassen. Nebenfiguren wie Müller-Schwefe haben innerhalb der Autofiktion denselben Status wie die Ich-Figuren selbst: Sie sind Romanfiguren mit interessanten referentiellen Bezügen. Und inzwischen dürfte klar sein: all dies geschieht keineswegs „ohne ästhetisches Kalkül“, es hat den Segen des Suhrkamp-Lektors und will durchaus „noch etwas anderes als wahrhaftig“ sein, nämlich Kunst.[46]

Das Medium, in dem so etwas zumindest denkbar wäre, heißt Pop, soviel hatte Welt bereits bei seinen ersten, journalistischen Schreiberfahrungen begriffen, und deshalb setzt er bereits in den ersten Sätzen die entsprechenden Signale („ficken“). Auch die Darreichung von „Döntjes aus Bochums reicher Fußballgeschichte“ (Diederichsen) verfährt in dieser Hinsicht alles andere als naiv. Die Aufstellung der bewunderten A-Jugend des SuS Wilhelmshöhe (124) zitiert Peter Handkes Poème trouvé Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 (1969), ein frühes und bekanntes Beispiel suhrkampliterarischer Aneignung von Populärkultur. Und wenn Welt die grafische Anordnung wieder aufnimmt, um eine Seite später den mit dieser A-Mannschaft teilidentischen Buddy Holly Club zu archivieren, dann indiziert diese Verschiebung auch sein poetologisches Programm, das zugleich ein autofiktionales ist: „Von jetzt an Fußball, Rock’n’Roll und vor allem der Buddy Holly Club auf der Wilhelmshöhe. Ohne ihn gäb’s mich so nicht.“ (124) Und ohne den fast gleichnamigen Text Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe, in dem all dies steht, auch nicht.

 VII

Auf derselben Spex-Doppelseite, auf der im November 1986 Diederichsens Rezension von Peggy Sue erscheint, findet sich auch eine Kolumne von Lottmann über Mit der Kirche ums Dorf, die erste Suhrkamp-Publikation Thomas Meineckes. „Was ist realitätshaltige Poesie?“ fragt Lottmann hier. „Ungefähr das: Die Handlung spielt heute, in der Bundesrepublik, an genau bestimmten Plätzen, Straßen, Lokalitäten. Menschen haben Berufe, Politiker werden wiedererkannt. Autos spricht man mit ihren Markennamen an. Ich mag das.“[47]

All das trifft auch auf Peggy Sue zu (Welt fährt Opel Kadett). Allerdings hebt Lottmanns Rezension im Weiteren auf die grotesken Elemente in Meineckes früher Kurzprosa ab (sich in eine Schaufensterpuppe verlieben) und leitet daraus eine paralogische Poetik ab, die er in seiner eigenen autofiktionalen Prosa dann mit der bekannten, sehr spezifischen faction–Technik zu jenem irritierenden „Paralleluniversum“ ausbaut, „das unserem unheimlich stark ähnelt, aber eben nicht ganz“, eine Welt, „in der alles stimmen kann, aber nichts stimmen muss“.[48] Diesen paralogischen Weg, der zugleich den bewussten Entwurf als Autor-Persona im medialen Feld einschließt, geht der Autor von Peggy Sue nicht. Im Vergleich mit Lottmanns kühner, gerade in ihrer Geschlossenheit irritierender Autofiktion wirkt Welts Welt redlich, aber bescheiden (Diederichsen: „kleines Leben“). Weder verfügt er über die Chuzpe zur konsequenten medialen Selbstinszenierung, wie sie Rainald Goetz von seinem Klagenfurter Stirnschnitt an beweist, noch kann er sich im popmusikalischen Feld selbst Autorität verschaffen, wie die Ratinger Hof-Leute, Thomas Meinecke als Mitglied von F.S.K oder Omo in Peggy Sue. Und schon gar nicht kann der Buddy Holly-Fan zur hegemonialen Macht der neuen Pop-Diskurse aufschließen, wie sie Diedrich Diederichsen repräsentiert. Dennoch teilt Welts Prosa mit Lottmann und Goetz den geschlossen autofiktionalen Charakter: Was Diederichsen daran als katholischer „Geständniszwang“ irritiert[49] (all die auto-fick-tionalen Äußerungen über sexuellen Erfolg/Misserfolg etc.), kommt genau besehen ja völlig ohne Scham, Schuld und Erlösung aus. Es klappt sogar mit Ute: „Im Bett zierte sie sich nicht, wir legten sofort mit der Vögelei los. Gegen zwei pennten wir ein. Morgens machten wir weiter. Der irre Trip hatte sich also gelohnt.“ (79)

Das ist keine Beichte, sondern ein literarischer Ich-Entwurf, wie er im Feld popkulturellen Schreibens der 80er, zwischen Stadtmagazinen, Spex und frühem Suhrkamp-Pop, überhaupt erst möglich wird. „Von einer bestimmten Schreibqualität an Ist Literatur Wahrheit, was immer sie transportiert.“ lautet Lottmanns Fazit.[50] Für Welt wäre dieses Credo paralogischer Autofiktionalität vermutlich genau umzukehren: Von einer bestimmten Schreibqualität an ist Wahrheit Literatur.


Anmerkungen


[1]      Rolf Dieter Brinkmann: Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie. In: Silver Screen. Neue amerikanische Lyrik. Hg. v. R.D.B. Köln 1969, S. 7-32; S. 15.

[2]      So gehörten zu den 15 Fragen des Autorenfragebogens, den die durchweg männlichen Beiträger zu dem Sammelband SUPER GARDE (Prosa der Beat- und Pop-Generation. Hg. v. Vagelis Tsakiridis. Düsseldorf 1969) ausfüllten, auch die Fragen: „Welche Art Sex mögen Sie“, „Welche erotischen Vorstellungen haben Sie beim Träumen?“, „Wie oft lieben Sie im Monat?“ und „Mit welcher bekannten Frau /bzw. Mann) möchten Sie gerne mal?“ Brinkmann bringt sein Lieblingswort aber unter der Frage „Was tun Sie am liebsten?“ unter…

[3]      Wolfgang Welt: Peggy Sue. In: W.W.: Peggy Sue & andere Geschichten. Vorwort v. Leander Haußmann. Bochum 1997, S. 9-161 (Seitenzahlen dieser Ausgabe in runden Klammern). Das Original erschien 1986 im Konkret Literaturverlag.

[4]      Sabine am Telefon ist Anfang der 80er übrigens bereits popkulturell codiert durch den Trio-Song „Sabine Sabine Sabine“ von 1982.

[5]      „Alles. Daß Wim Thoelke im Fernsehen lief und daß er gern gewußt hätte, wie die und die im Bett wäre. Wie er soziale Ungerechtigkeiten in einem Schallplattenladen erlebte und sich an die Gewerkschaft wandte und irgendwelche historischen Döntjes aus Bochums reicher Fußballgeschichte. Die meisten Geschichten hat er mir damals […] auch schon am Telefon erzählt“ (Diedrich Diederichsen: Neue Deutsche Literatur für angehende Erwachsene. In: Spex, November 1986, S. 64f; S. 64).

[6]      Diederichsen: Neue Deutsche Literatur für angehende Erwachsene, S. 64.

[7]      Frank Schäfer: Der Chronist des Potts. Ein Besuch bei Wolfgang Welt. In: F.S.: Ich bin dann mal weg. Streifzüge durch die Popkultur. Berlin 2002, S. 87-91; S. 87.

[8]      Jan Süselbeck: Lenz, postmodern. Eine Begegnung mit Wolfgang Welt, dem Autor der Romansammlung „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“. In: literaturkritik.de, Februar 2007 (www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10431; 5.9.2012)

[9]      Wolfgang Welt: Der Tick. Roman. München 2001, S. 29.

[10]    Vgl. Bettina Blumenberg: Angriffe. In: Von nun an. Neue deutsche Erzähler. Hg. v. Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Frankfurt 1980, S. 95-113; Foto S. 93.

[11]    Die rororo-Taschenbuchreihe panther erweitert ab 1979 die Kinder- und Jugendreihe “rotfuchs“ als „eine neue Taschenbuchreihe für junge Leser ‚zwischen den Generationen’. ‚panther’ bringt es bis 1989 auf 143 Titel.“ (https://www.rowohlt.de/verlag/chronik/1970-1995, 23.06.2021). Die Erstausgabe von Schnelles Geld erschien 1979 im Münchner Weismann Verlag, der ebenfalls auf Jugendbücher spezialisiert war.

[12]    Das letzte Kapitel heißt „Sympathy for the Devil“.

[13]    Frank Göhre: Schnelles Geld. Roman. Reinbek 1981 [EA Weismann 1979], S. 5. Es folgt ein Hinweis auf Elvis’ Tod.

[14]    Göhre: Schnelles Geld, S. 15. „Cliffy“ meint hier Cliff Richard und nicht den später im Roman ebenfalls erwähnten Reggae-Musiker Jimmy Cliff.

[15]    Göhre: Schnelles Geld, S. 10.

[16]    Göhre: Schnelles Geld, S. 12.

[17]    Harald Strätz: Katastrophal. In: Von nun an. L.c., S. 241-299; S. 241.

[18]    Strätz: Katastrophal, S. 261.

[19]    Strätz: Katastrophal, S. 252.

[20]    Strätz: Katastrophal, S. 286.

[21]    Strätz: Katastrophal, S. 271.

[22]    Beim zwanzigbändigen Meyer’s mit Ergänzungsbänden kann es sich eigentlich nur um die 6. Auflage (1902-1910) handeln, nach verbreiteter Auffassung das beste je in deutscher Sprache erschienene Lexikon.

[23]    Strätz: Katastrophal, S. 257.

[24]    Strätz: Katastrophal, S. 295 und 297.

[25]    „Ich sagte ihm:’Herr, wie heißen Sie noch mal?’ ‚Müller-Schwefe.’“ (142).

[26]    Buddy Holly (bürgerlich: Charles Hardin Holley) wurde am 7.9.1936 geboren und kam bei einem Flugzeugabsturz am 3.2.1959 ums Leben. Der 1952 geborene Wolfgang Welt ist also zwischen 1979 und 1981, zu Beginn seiner Schreibkarriere und in der Diegese von Peggy Sue, genau in dem Alter, in dem Holly starb.

[27]    Vgl. die Verbindung zu Rockabilly bei Göhre, s.o.!

[28]    Neil Youngs notorische Verse „The King is gone, but he’s not forgotten / this is the story of Johnny Rotten“ im Song My, my, hey, hey (out of the blue) (auf: Rust Never Sleeps, 1979) mythisieren ja das ‚Die-Fackel-Weitergeben’ mit Bezug auf 1977, Presleys Todesjahr, in dem zugleich die erste Sex Pistols-LP Never Mind the Bollocks erschien.

[29]    Der Top-Ten-Hit Peggy Sue „introduced HOLLY’s idiosyncratic vocal mannerisms, his exaggerated hiccuping framed by simple but effective arrangements“ (Martin C. Strong: The Great Rock Discography. New York 72004, S. 700).

[30]    Man findet das ganz ähnlich in der frühen Hamburger Schule: Bernd Begemann lokalisiert sich im Kleinen mit dem Bezug auf Buddy Holly und Jonathan Richman (Buddy, nimm lieber den Bus (auch ich bin nur ein Jonathan Richman-Fan), auf: Rezession, Baby!, 1993), während Distelmeyer und Blumfeld mit dem Plattencover von L’Etat et Moi ein Jahr später an Elvis anknüpfen.

[31]    Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt 1976.

[32]    Motörheads No Sleep ’Til Hammersmith (1981) gilt als eines der besten Live-Alben aller Zeiten und erreichte Platz 1 der britischen Charts.

[33]    Vgl. Wolfgang Welt: Motörhead – Kein Schlaf bis Hammersmith [Musikexpress 5/1982]. In: W.W.: Peggy Sue & andere Geschichten, S. 179-185.

[34]    Diederichsen: Neue Deutsche Literatur für angehende Erwachsene, S. 64.

[35]    Peter Glaser: Zur Lage der Detonation – Ein Explosé. In: Rawums. Texte zum Thema. Hg. v. P.G. Köln 1984, S. 9-21; S. 13f.

[36]    Glaser: Zur Lage der Detonation, S. 14f.

[37]    Außerdem kennt und verehrt Welt den durch Handkes Fürsprache bekannter gewordenen Hermann Lenz (27).

[38]    „Ebenfalls Mitte der 70er Jahre ortet Peter Handke in Paris eine der letzten wahren Empfindungen Europas.“ (Glaser: Zur Lage der Detonation, S. 10f.). Peter Handke galt mit einigen Texten Anfang der 70er selbst bisweilen als Popautor, wurde dann aber zu einem führenden Vertreter der Neuen Innerlichkeit. 59to1, eine Popzeitschrift der 80er Jahre, brachte ihm in ihrem Literaturteil jedoch immer noch Verehrung entgegen.

[39]    Süselbeck: Lenz, postmodern, l.c. Bukowskis Die Ochsentour wird in Peggy Sue genannt (34), Goetz publiziert seinen Klagenfurter Skandaltext Subito in Rawums.

[40]    Innokentij Kreknin: Poetiken des Selbst: Identität, Autorschaft und Autofiktion. Am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Diss. Münster 2012 [Ms.], S. 276 (Kreknin spricht hier über Lottmann).

[41]    Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli. Ein Roman [1987]. Köln 2003, S. 7.

[42]    Kreknin: Poetiken des Selbst, S. 281.

[43]    Kreknin: Poetiken des Selbst, S. 404.

[44]    Kreknin: Poetiken des Selbst, S. 403.

[45]    Es ist wohl kaum Zufall, dass sowohl Welt (wie oben zitiert) als auch der ganz frühe Lottmann dabei Walter Kempowski im Blick haben („Sowas…wie ist es nun bloß möglich“ heißt es bereits in Drei Frauen (In: Rawums. l.c., S. 124-139; S. 130). Über zehn Jahre später wird Benjamin von Stuckrad-Barre sich erneut für diesen im Schatten der Gruppe 47 lange Zeit nicht ernstgenommenen Autor stark machen.

[46]    Folgerichtig bricht für ihn auch eine Welt zusammen („zumindest meine“), als er von Suhrkamp/Müller-Schwefe einen ablehnenden Bescheid über ein Manuskript bekommt (Welt: Der Tick, S. 158).

[47]    Joachim Lottmann: Realitätsgehalt: Ausreichend. In: Spex 11 (1986), S. 65.

[48]    Kreknin: Poetiken des Selbst, S. 283f.

[49]    Diederichsen: Neue Deutsche Literatur für angehende Erwachsene, S. 64.

[50]    Lottmann: Realitätsgehalt: Ausreichend, l.c.

 

[Hinweise zu dem Sammelband, in dem dieser Aufsatz erschienen ist, hier]