Populärer Realismus
von Moritz Baßler
23.10.2012

Bestseller der letzten Jahrzehnte

[zuerst erschienen in: Kommunikation im Populären. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen.
Hg. v. Roger Lüdeke. Bielefeld: transcript 2011, S. 91-103. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags]

Bei einem Japanaufenthalt kam das Gespräch auf Haruki Murakami. Deutlich degoutiert bemerkte ein älterer Japanologe, dieser Autor schreibe gar nicht Japanisch, sondern ›Übersetzungsjapanisch‹. Darunter konnte ich mir wenig vorstellen, bis ich etwas später Frank Schätzings »Der Schwarm« las, einen auf Deutsch verfassten Roman, der sich über weite Strecken wie die Übersetzung eines amerikanischen Thrillers liest, also wie ›Übersetzungsdeutsch‹. Es scheint sich hier so etwas wie ein International Style von Erzählprosa abzuzeichnen, von dem im Folgenden die Rede sein soll. Dabei geht es zunächst einmal nicht um Wertung und schon gar nicht um Abwertung. Haruki Murakami wie Frank Schätzing haben zweifellos ihre Qualitäten. Vielmehr geht es um die analytische Annäherung an ein Phänomen, das vorläufig als ›Populärer Realismus‹ bezeichnet sei. Es handelt sich um populäre, also außerhalb bestimmter kultureller Nischen erfolgreiche fiktionale Narrationen unserer Zeit. Die Bücher von Murakami sind internationale Bestseller, Schätzings »Der Schwarm« (2004) war vermutlich das meistverkaufte deutsche Buch des abgelaufenen Jahrzehnts, ähnlich erfolgreich wie zeitgleich Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt« (2005) oder zehn Jahre früher Bernhard Schlinks »Der Vorleser« (1995).

Die erste These lautet, dass solche Bücher realistisch geschrieben sein müssen. Damit ist nicht gemeint, dass die im Roman erzählten Vorgänge irgendwie der Wirklichkeit entsprächen – dass Mikroorganismen sich spontan zu Nachbildungen von Flugzeugträgern zusammenfügen wie in Schätzings »Schwarm«, ist in dieser Hinsicht ja auch wenig wahrscheinlich. Nein, mit Realismus ist zunächst ein Verfahren bezeichnet, die Technik, so zu schreiben, dass sich dem Leser automatisch eine erzählte Welt, eine Diegese, präsentiert, ohne dass er zunächst mit Phänomenen der Textebene zu kämpfen hätte. »Man liest. Und versteht.« hieß es werbend in einem Klappentext zu Bernhard Schlinks Büchern.[1] Ein Text, dessen Faktur ein solches unmittelbares Verstehen ermöglicht, wird von uns als realistischer empfunden.

Das liegt daran, dass wir die Informationen auf der Textebene mit denselben sprachlich-kulturellen Mustern erfolgreich deuten können, die wir auch sonst, im Alltag, beim Fernsehen oder bei der Zeitungslektüre ständig anwenden. Kein noch so ausführlicher Roman kann alles erzählen. Wir verfügen kulturell über eine Menge von Frames und Skripten, und es reichen oft wenige tatsächlich notierte Informationen, um diese aufzurufen. Wir ergänzen dann die Angaben im Text automatisch um das, was nach Maßgabe solcher kultureller Muster normalerweise dazugehört, und bilden dadurch unsere Vorstellung der erzählten Welt und auch unsere Erwartungen, was hier weiter geschehen könnte.

»Lars Jörensen stand auf der obersten Plattform des stählernen Treppenschachts, der vom Hubschrauberlandeplatz zum Wohntrakt führte, und sah auf den Bohrturm.«[2] Die meisten von uns waren vermutlich noch nie auf einer Bohrinsel, dennoch verfügen wir über einen entsprechenden Frame und können uns mit dessen Hilfe zumindest vage den Ort vorstellen, wo Lars Jörensen hier steht. Wir verbinden damit bestimmte Situationen, Geräusche, Gefühle, klimatische Bedingungen etc. Wir können uns eine Film-Szene dazu vorstellen. Der skandinavische Name ruft darüber hinaus einen bestimmten Phänotyp auf, wir stellen uns hier keinen Asiaten vor, und ganz selbstverständlich nehmen wir an, dass Lars genau einen Mund und zwei Ohren hat, männlichen Geschlechts ist, deshalb keine Kinder gebären kann usw. Frank Schätzings Text funktioniert nun so, dass er diese Annahmen nicht unterläuft, sondern mit ihnen rechnet und sie mit mühelosem Nachvollzug des Erzählten belohnt. Unsere kulturellen Frames reichen dazu aus, und seien sie, wie im Falle der Bohrinsel, noch so vage – wo wir mehr wissen müssen, liefert der Roman die Information nach. Schätzings Buch ist erheblich dicker als der »Ulysses«, und doch lässt er sich in wenigen Tagen lesen. Das ist hier mit Realismus gemeint.

Nebenbei sei bemerkt, dass es genau diese Art von automatisiertem Verstehen war, gegen die sich die Formexperimente der literarischen Moderne gewandt hatten. Den Modernen ging es ja gerade im Gegenteil um eine Ent-Automatisierung der Wahrnehmung und der Lektüre, ihre Kunstmittel zielten auf eine erschwerte Form der Darstellung. Kunst und Literatur sollten die Realität nicht einfach voraussetzen, wie unser Realismus das in Gestalt der kulturellen Codes tut, sondern neu, anders und wie zum ersten Mal definieren. Der moderne Grenztext ist deshalb geradezu programmatisch schwierig, die ihm gemäße Lektüre, mit Roland Barthes gesprochen, ist »schwerfällig, sie klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Akribie und Besessenheit«, wohingegen die realistische Lektüre »direkt auf die Wendungen der Anekdote«, also der Handlung, zusteuert, die Sprachspiele der erschwerten Form ignoriert und daher eine leichte ist – »wenn ich Jules Verne lese«, sagt Barthes, »komme ich sehr schnell voran«.[3]

II

Die Geschichte des Verhältnisses von realistischen zu anderen Verfahren ist noch nicht geschrieben worden. Offenkundig hat sich jedoch die erschwerte Form nicht so durchgesetzt, wie die historischen Avantgarden vom Symbolismus bis zum Surrealismus sich das erhofft hatten. Bereits ab den 1920er Jahren dominieren in der deutschen Literatur mit der Neuen Sachlichkeit, dem Magischen Realismus, später dann auch in nationalsozialistischer, Exil- und Nachkriegsliteratur wieder realistische Schreibweisen. In der Massen- und Unterhaltungsliteratur waren diese ohnehin nie gefährdet gewesen, ebenso wenig wie übrigens ganz generell im angelsächsischen Sprachraum, der ja spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die kulturelle Dominante liefert. In Deutschland kam es in der zweiten Jahrhunderthälfte noch einmal zu einer Art wiederholter oder nachgeholter Moderne, in der sich, gegen den internationalen Trend, erschwerte Formen als Standard von Hochliteratur noch einmal durchsetzten. Begleitet wurde diese Tendenz von der bekannten Abwertung populärer Kulturformen unter der Ägide der Frankfurter Schule, in diesem Fall einer Abwertung realistischer Verfahren als tendenziell trivial und ideologisch.

Noch die Bemühungen von Zeitungsleuten wie Frank Schirrmacher, Verlegern und Autoren Anfang der 1990er, ein Neues Erzählen auf internationalem Niveau zu propagieren, das auf elitäre Formexperimente verzichten sollte, um der Literatur ein größeres Publikum zurückzugewinnen und womöglich auch die ein oder anderen Filmrechte an Land zu ziehen, waren vom Kampf gegen diese Dichotomie (schwer = gut, realistisch = trivial) geprägt. Als Ideal galt dieser Bewegung damals Patrick Süßkind (»Das Parfüm«). Mitte der 90er kam dann die große Welle der Popliteratur, die mit ganz anderen Verfahren Erfolge feierte als die globalisierten Bestseller. Ihre literarische Ersterfassung der popkulturellen Enzyklopädie kam eine Zeit lang ohne die Plots, Hooks, Heldenreisen und Spannungskurven aus, die die internationalen Schreibschulen lehren. Zugleich aber feierte das verfilmbare, plottende Erzählen mit Bernhard Schlinks »Der Vorleser« einen durchschlagenden Erfolg. Schlinks Buch hatte dabei den Vorzug, dass es thematisch mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit sozusagen das schwere Erbe der deutschen E-Literatur übernahm. Dabei geht es offenkundig um inhaltliche Aspekte und weniger um die literarische Form – rein formal sind die ironischen Katalogtexturen Stuckrad-Barres deutlich anspruchsvoller als das Schlink’sche Plotting. Doch gaben die Popliteraten sich mit vermeintlichen Oberflächenphänomenen ab und ließen dabei den rechten Ernst vermissen, den es hierzulande für kulturelle Weihen braucht. Auch Frank Schätzing bleibt als Krimi- und Ökothriller-Autor trotz all seiner Qualitäten der Sprung in die E-Literatur verwehrt. Der ebenfalls zunächst als Kriminalautor geschulte Schlink jedoch fand eine Formel, E-Literatur-Anspruch und Marktgängigkeit zu verbinden; und seither kann man davon ausgehen, dass die meisten der in den Feuilletons besprochenen, Longlist-fähigen und einigermaßen gut verkauften deutschen Romane wieder ganz selbstverständlich realistisch geschrieben sind – in dem vorhin explizierten Sinne. Solche Bücher, von Schlink und Helmut Krausser bis hin zu Julia Franck, Kehlmann oder Uwe Tellkamp, sind es, die im Zentrum meiner Überlegungen zum Populären Realismus stehen.

III

Die soeben skizzierte Vorgeschichte belegt, dass ein solches realistisches Erzählen mit literarischem Anspruch in Deutschland keineswegs selbstverständlich ist. Der Populäre Realismus will schließlich Hochliteratur sein und sich gut verkaufen. Daher hat er auf der einen Seite immer noch die Erwartung jener abzuwehren, die das Erbe der literarischen Moderne hochhalten und meinen, dass sich literarischer Anspruch auch in einer anspruchsvollen Form niederschlagen sollte. In diesem Sinne sieht sich etwa Daniel Kehlmann bemüßigt zu betonen:

»Die wirkliche Frage, die auch die Zukunft der Literatur berührt, ist nicht die Frage Erzählen oder Nicht-Erzählen, sondern die des Realismus. Es ist einfach nicht so: Realismus = Erzählen = altmodisch und andererseits Nicht-Erzählen = Sprachkritik = modern. Das sind Gleichungen, in denen kein einziges Glied stimmt.«[4]

Auf der anderen Seite muss man sich abgrenzen gegen die gut gemachte internationale Unterhaltungsliteratur vom Schlage eines, sagen wir, Noah Gordon, Robert Harris oder Dan Brown.

Realismus, der zugleich Kunst sein will, hat ganz generell ein Problem – das war schon vor der emphatischen Moderne so, etwa im Poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts. Wenn ›realistisch erzählen‹ heißt, sich der Frames und Skripte einer immer schon definierten und konstituierten Wirklichkeit zu bedienen, dann stellt sich nämlich regelmäßig die Frage nach dem künstlerischen Mehrwert. Warum nicht Reportagen, Reiseberichte oder eben Geschichte schreiben statt realistischer Novellen, Abenteuererzählungen und historischer Romane? Warum nicht fotografieren, statt realistisch zu malen? Für dieses Problem gibt es schon im 19. Jahrhundert sehr unterschiedliche Lösungen, und es wäre eine lohnende Aufgabe, die realistischen Strömungen seither auf diese Frage hin zu untersuchen. Der Poetische Realismus etwa ging davon aus, dass der Dichter eine verklärte, das heißt von allem Zufälligen gereinigte, auf einen Wesenskern hin durchsichtige Darstellung der Wirklichkeit zu leisten habe. Das ergibt eine ebenso komplexe wie problematische, deutlich von Entsagung auch gegenüber dem explodierenden Weltwissen der Zeit gekennzeichnete Literatur bei Autoren wie Keller, Raabe, Storm und Fontane. Der zeitgleiche Professoren-, historische und exotistische Abenteuerroman dagegen begnügte sich damit, die Fakten der Wirklichkeit, vorzugsweise ihre neuen, noch unbekannten Seiten, in eine spannende Geschichte zu verpacken, von der Liebesgeschichte des Mönches Ekkehard über Ebers’ »Ägyptische Königstochter«, Felix Dahns »Kampf um Rom« bis hin zu den Abenteuern Gerstäckers und Karl Mays. Die Science Fiction Jules Vernes, als realistische Erzählung einer zukünftigen Welt, ist hiervon nur ein Sonderfall. In all diesen tendenziell trivialen oder zumindest populärliterarischen Fällen besteht der Mehrwert gegenüber populärwissenschaftlichen Darstellungen in einem spannenden Narrativ, das den Leser fesselt und durch aus heutiger Sicht schier unglaubliche Mengen positiver Information in Sachexkursen und Fußnoten hindurch bei der Stange hält.

Dabei kann der spannende Plot selbst, jenseits weiterer Bedeutungen oder Fragen nach Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, durchaus Eigenwert gewinnen. Plotstrukturen der Abenteuer-Reisegeschichte, der Queste, der Love Story, des Melodrams oder des Kriminalromans ermöglichen einen sozusagen hedonistischen Realismus jenseits aller Rechtfertigungszwänge. Sie bilden eigene, Barthes sagt: hermeneutische Codes aus, die für sich selbst interessieren und unterhalten, und dafür gibt es in der bürgerlichen Gesellschaft offenkundig einen Markt. Man mag das trivial nennen, letztlich handelt es sich in diesen Fällen aber auch nur um Formen poetischer Schließung. Der Groschenroman kann solche Plots relativ weltarm präsentieren, doch zeigt sich ja wie gesagt bereits im Professorenroman des Historismus, dass man sie auch umgekehrt zum Transport von Weltwissen aller Art instrumentalisieren kann. Ist nicht beispielsweise bis heute der Hollywood-Film das weltweit wichtigste Medium zur Internationalisierung von historisch-kulturellem Wissen aus allen Epochen und Weltgegenden, gerade indem er regelmäßig mit solchen Strukturen eines hedonistischen Realismus arbeitet? Man kann sich natürlich darüber beklagen, dass die immergleichen Geschichten nur in immer neuen Einkleidungen verkauft werden, man könnte sich aber auch umgekehrt darüber freuen, dass die unterschiedlichsten Stoffe und Wissensgebiete auf diese Weise in die internationalisierte Populärkultur gelangen und damit die Chance haben, unter Marktbedingungen in eine Art globales kulturelles Gedächtnis einzugehen.

 IV

Unter den bislang erwähnten deutschen Gegenwartsautoren steht Frank Schätzing diesem Muster am nächsten, und sein Roman weiß das. Gleich auf der ersten Seite des ersten Teils vom »Schwarm« wird ein Protagonist folgendermaßen vorgestellt:

»Johanson war ein Visionär und wie alle Visionäre dem völlig Neuartigen ebenso zugetan wie vergangenen Idealen. Sein Leben war getragen vom Geiste Jules Vernes. Niemand hatte den heißen Atem des Maschinenzeitalters, erzkonservative Ritterlichkeit und die Lust am Unmöglichen so treffend zu vereinen gewusst wie der große Franzose.«[5]

Stellen wie diese sind poetologisch auf das eigene Verfahren zu beziehen: Dem »heißen Atem des Maschinenzeitalters« entsprechen die ökologischen, technischen und meeresgeographischen Fakten, auf die Schätzings Thriller sich stützt, die »Lust am Unmöglichen« zeigt sich in den phantastischen Elementen der Handlung, erzkonservativ ist dagegen, wenn man so will, die Erzählweise, eben jener realistische International Style, auf den das Buch sich mit der traditionellen Liebes- und Thrillerhandlung und der topischen Last-Minute-Rettung verlässt. Und noch in einer anderen Hinsicht lässt sich hier Konservativismus diagnostizieren; denn weiter erfahren wir über Johanson, dass er gern in seinem Landhaus am See sitzt, und dort, lesen wir, las er »die Visionäre unter den Klassikern von Thomas More bis Jonathan Swift und H.G. Wells, hörte Mahler und Sibelius, lauschte dem Klavierspiel Glenn Goulds und Celibidaces Einspielungen der Sinfonien von Bruckner. Er hatte sich eine umfangreiche Bibliothek zugelegt.«[6]

Das geht nun deutlich über das poetologisch und erzählökomisch Notwendige hinaus. Setzt die Buchliste mit ihren utopischen Romanen sozusagen noch die mit Jules Verne angefangene Reihe fort, die letztlich im »Schwarm« selbst endet, so weiten die Musikbeispiele diesen intertextuellen Raum zu einem Kosmos aus, der sich als der des klassischen Bildungsbürgers identifizieren lässt.[7] Hier fehlen nur noch die guten Rotweine. Populärer Realismus geht hier also eine Allianz mit dem Bildungsbürgertum ein, ja versteht sich womöglich selbst als diesem zugehörig. Schätzing hat sich zwar, wie gesagt, nicht in die Celibidace-Liga geschrieben, und Johanson bleibt letztlich nur einer seiner vielen Protagonisten, an anderer Stelle im selben Roman werden auch »die einschlägigen Filme [genannt]: Unheimliche Begegnung der Dritten Art, E.T., Alien, Independence Day, The Abyss, Contact, und so weiter.«[8] Womit man in der Tat näher bei den Skripten ist, mit denen Schätzing operiert, als mit More oder Swift. Dennoch fällt das bildungsbürgerliche Urvertrauen auf, mit dem Schätzing hier Komponisten und Interpreten aufzählt, die seinem realen Publikum – im Gegensatz zu den Filmen – wohl nur teilweise geläufig sein dürften.

Der Blick auf andere Texte zeigt, dass wir es hier mit einer Konstante zu tun haben. Das Stichwort »bildungsbürgerliches Urvertrauen« stammt aus Schlinks »Der Vorleser«. In diesem Roman bespricht der Ich-Erzähler, ein junger Jurastudent, der analphabetischen Ex-KZ-Wächterin Hanna Hörcassetten zu ihrer humanistischen und Seelen-Bildung.  Signifikant in unserem Zusammenhang ist die Art der Literatur, die er zu diesem Zweck auswählt:

»Ich las […] vor, was ich schon kannte und liebte. So bekam Hanna viel Keller und Fontane zu hören, Heine und Mörike. […] Insgesamt weisen die Titel […] ein großes bildungsbürgerliches Urvertrauen aus. Ich erinnere mich auch nicht, mir jemals die Frage gestellt zu haben, ob ich über Kafka, Frisch, Johnson, Bachmann und Lenz hinausgehen und experimentelle Literatur, Literatur, in der ich die Geschichte nicht erkenne und keine der Personen mag, vorlesen sollte. Es verstand sich für mich, daß experimentelle Literatur mit dem Leser experimentiert, und das brauchten weder Hanna noch ich. Als ich selbst zu schreiben begann, las ich ihr auch das vor.«[9]

An Stellen wie diesen, wo der Populäre Realismus poetologisch wird, also auf sich selbst reflektiert, finden wir regelmäßig ein merkwürdiges Amalgam von drei Dingen:

(1.) stellt er ein bildungsbürgerliches Urvertrauen aus, er beruft sich auf den Kanon der Hochkultur und tritt damit jeglichem Trivialitätsverdacht entgegen.

(2.) wehrt er den modernistischen Anspruch auf erschwerte Form und experimentelle Texturen ab. Schlink distanziert sich unmissverständlich von einer nicht-realistischen Literatur im Verfahrenssinne, von einer Textur jenseits eingeführter narrativer Stereotype, »in der ich die Geschichte nicht erkenne und keine der Personen mag«.

(3.) aber wird dieser Realismus als etwas behauptet, das trotz seiner konventionellen Form nicht bloße Unterhaltung sein soll, sondern relevante, wirkmächtige Hochliteratur. Die Rezeption realistischer Literatur bedeutet für Hanna Aufklärung, die Erziehung zur eigenen moralischen Mündigkeit. Sie ermöglicht ihr die Aufarbeitung des Holocaust durch eigene Lektüre und damit ein Verständnis der eigenen Schuld.

Diese Befunde bestätigen sich auch bei Beschäftigung mit anderen Texten dieser Art. Den bildungsbürgerlichen Kanon findet man etwa in Helmut Kraussers ständiger Berufung auf klassische Musik und große Oper wieder. Die Abwehr des Modernismus ist ein wesentliches Anliegen von Daniel Kehlmann, so in seinen Poetikvorlesungen von 2006, in denen er explizit ein »Plädoyer für den Realismus« hält, und zwar für einen explizit nicht-radikalen Realismus, ein bildhaftes, diegetisches Erzählen nach dem Vorbild des südamerikanischen Magischen Realismus. »Ich fand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit«, heißt es dort, und auch die modernistischen Feindbilder werden benannt: »Hierzulande wollte man davon [vom realismo magico] nicht viel wissen, knüpfte an den Dadaismus der Vorkriegszeit an, zog den Humor ab und nannte es ein Experiment. Lautpoesie und soziales Engagement – die zwei bedrückenden Eckpfeiler des radikalen Realismus.«[10]

Es sei nur am Rande erwähnt, dass es sich hier literaturgeschichtlich um eher haarsträubende Konstruktionen handelt. Gerade in Deutschland gibt es seit den 1920er Jahren eine starke Tradition des Magischen Realismus, die mit Autoren wie Langgässer, Eich, Grass, Hilbig und anderen weit in die Zeit nach 1945 hineinwirkt. Wo die deutsche Nachkriegsliteratur an Dada anknüpft, etwa bei Ernst Jandl, ist sie kaum humorlos zu nennen, und eine dominante Tendenz sozial engagierter Literatur ist nirgends zu erkennen. Auch tragen Kehlmanns vehemente Invektiven gegen das Regietheater zum Verständnis des Phänomens wenig bei. Interessant werden diese polemischen Positionen allein als strategische Rechtfertigungen eines Populären Realismus, und als solche sind sie, wie gesagt, überaus folgerichtig. Bereits der Poetische Realismus der 1850er Jahre sah sich genötigt, sich einerseits von den romantischen Formexperimenten und andererseits von einem bloßen Naturalismus der Darstellung sozialen Elends abzugrenzen. Das Problem ist immer dasselbe: Was kann ausgerechnet eine realistische, also formal konventionelle, Darstellung der Welt über das bereits anderweitig, etwa in Alltag und Wissenschaften, über diese Welt Bekannte hinaus leisten? Kehlmann erklärt hierzu:

»Was das Erzählen vom einfachen Wiedergeben unterscheidet, ist der Prozess des Arrangierens. Man arrangiert […], um der Wirklichkeit näher zu kommen. Man arrangiert nicht auf eine Botschaft zu, sondern man arrangiert, um einer genaueren und überzeugenderen Präsentation der Wirklichkeit in ihrer Widersprüchlichkeit willen.«[11]

Das klingt schon sehr nach Otto Ludwig oder Julian Schmidt, den Programmatikern des Poetischen Realismus der 1850er Jahre: Behauptet wird ein wesentlicherer Blick, nicht etwa auf und durch Sprache, wie im Modernismus, sondern auf die, auf unser aller Wirklichkeit. Diese soll in der poetisch-realistischen Darstellung ›genauer‹ und ›überzeugender‹ präsentiert werden, ohne dass der Vergleichspunkt dieser Komparative je genannt würde.

V

Geradezu prototypisch drückt sich der bildungsbürgerliche Glaube an die Bedeutung dieser Art von Populärem Realismus in einer Szene des deutschen Erfolgsfilmes »Das Leben der Anderen« (2006, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck) aus. In direkter Nachbarschaft wird hier zweimal innerhalb von wenigen Minuten die Wirkung großer Kunst performiert. Zunächst stiehlt der überwachende Stasi-Beamte dem Protagonisten, einem DDR-Autor, einen Band mit Brecht-Gedichten und liest ergriffen die »Erinnerung an die Marie A.«, anschließend erfährt der Autor vom Selbstmord eines guten, regimekritischen Freundes und setzt sich daraufhin ans Klavier, um die »Sonate vom guten Menschen« zu spielen. Anschließend formuliert er für seine lauschende Lebensgefährtin und damit auch für das Publikum noch einmal explizit die Botschaft:

»Ich muss immer daran denken, was Lenin von der Appassionata gesagt hat: Ich kann sie nicht hören, sonst bring ich die Revolution nicht zu Ende. Kann jemand, der diese Musik gehört hat, ich meine: wirklich gehört hat, noch ein schlechter Mensch sein?«[12]

Die Szene versammelt das Maximum an bürgerlichem Kulturgut: klassische Musik, das Klavier, im Hintergrund sieht man klassische Skulpturen und Zeichungen, auch die schöne Frau, eine Schauspielerin, bleibt im Hintergrund, und schließlich eignet sich der Stasi-Offizier die Humanität per kanonischer Literatur an. Bezeichnenderweise wählt der Film dazu ein eher kulinarisches, unpolitisches Gedicht Bertolt Brechts, so wie ja auch im Statement des Autors die humanisierende Wirkung großer Kunst explizit gegen eine politisch-revolutionäre Wirkabsicht ausgespielt wird.

Unser ausführlicher Blick auf die immanente Poetologie des Populären Realismus zeigt, dass er genau diese Art von Kunst, die er vorführt, eigentlich selbst sein möchte: realistisch zwar, aber dabei hochkulturell und bedeutsam, wesentlich und moralisch wirkmächtig. Es gibt keinen Funken Ironie in der Idee einer »Sonate vom guten Menschen“ (so wenig wie in Schlinks »große[m] bildungsbürgerliche[n] Urvertrauen«)! Allerdings kann das innerhalb der Diegese aufgeführte Stück Filmmusik dieses Namens den Anspruch nicht einlösen, den es im Titel trägt, sondern sozusagen nur als Platzhalter für ein solches Stück fungieren. Andernfalls hätte es nach Ausstrahlung von »Das Leben der Anderen« allein in Deutschland ca. 2,3 Millionen gute Menschen mehr gegeben. Statt dessen zeigt sich bei näherer Hinsicht, dass der Film selbst der in ihm performierten Kunst die Rolle, die sie in der Narration erfüllt, nicht zutraut: Der vermeintlich unwiderstehliche Kunstgenuss der Sonate wird durch Beifügung des Brecht-Gedichtes amplifiziert[13] und der erzieherische Anspruch auf Beethovens »Appassionata« verschoben (Warum wird nicht diese gespielt?). Die Lektüre des Brecht-Gedichts wird darüber hinaus mit Musik unterlegt, um jene Stimmung von Ergriffenheit zu erzeugen, die dem lyrischen Text selbst denn offenbar doch nicht abverlangt werden kann.

Auch hierbei handelt es sich keineswegs um einen Sonderfall, sondern geradezu um einen Topos des Populären Realismus: Immer wieder wird das Extraordinäre der Kunst und der Kunst-Rezeption im Narrativ beschworen, die Düfte im »Parfüm«, die extrem wirkungsvollen musikalischen Urmotive in Kraussers »Melodien«, die übersinnliche Hörbegabung in Robert Schneiders »Schlafes Bruder«, die durch Kunst bewirkten Bekehrungseffekte bei Nazi- bzw. Stasi-Schergen im »Vorleser« und im »Leben der Anderen«; in Kehlmanns Romanen spielen die vielen Genies eine ähnliche Rolle. Gesteigerte Aisthesis (»ich meine: wirklich gehört«), außerordentliche Begabung, quasi-magische Weltzugänge – diese Art von Hypebolik braucht der Populäre Realismus offenbar, um seinen eigenen gesteigerten Kunstanspruch, seinen Anspruch auf ›genauere‹ und wesentlichere Repräsentation von Wirklichkeit zu beglaubigen. Indem man vom Außerordentlichen erzählt, wird die eigene formale Normalität vergessen gemacht.

Der Realismus in populären Büchern und Filmen hängt, wie gesagt, eng am Plotting, am Arbeiten mit hermeneutischen Codes, Spannungsbögen und Handlungspointen. Nun gibt es keine Handlung ohne Diegese, beide sind jedoch in verschiedenen Verhältnissen darstellbar: Die Handlung kann rein topisch bleiben und die ganze innovative Energie sich auf die Darstellung der erzählten Welt richten, wie derzeit in James Camerons »Avatar« mit seiner revolutionären 3D-Technik. Es kann aber durchaus auch Intelligenz in die spannende und pointenreiche Verwicklung der Handlung gesteckt werden, während die Diegese topisch bleibt, denken Sie an Filme wie »Ocean’s Eleven« oder an die häufig eingesetzte Short Cuts-Struktur virtuos verwobener kleiner Alltagsgeschichten, zuletzt etwa in Kehlmanns »Ruhm« oder Kraussers neuem Roman »Einsamkeit und Sex und Mitleid«.[14] Das ist alles so lange kein Problem, wie es um Spannung und Unterhaltung geht, die entsprechenden Mittel also im Sinne eines hedonistischen Realismus ihren Zweck in sich selbst tragen. Unserem Populären Realismus-mit-Anspruch jedoch reicht das bekanntlich nicht: Die Handlung soll hier Träger jener tieferen Bedeutung sein, die die Teilhabe am bildungsbürgerlichen Kanon rechtfertigt. Und dabei kommt es zu charakteristischen Komplikationen.

Im »Vorleser« ebenso wie im »Leben der Anderen« geht es um historische Bedeutung, um die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazi- und Stasi-Zeit. Die Handlungspointe in Schlinks »Vorleser« ist der Analphabetismus Hannas. Er macht sie in dem fiktiven Maidanek-Prozess des Buches zur offensichtlich unschuldig Angeklagten; erst die Aufklärung durch Realismus-Lektüre führt zur nachträglichen Aufarbeitung der wahren Schuld. Das funktioniert als hermeneutischer Code von Geheimnis und Auflösung (wir ›erkennen‹ die Geschichte) ebenso wie als sympathieleitende Strategie (wir ›mögen‹ Hanna). Aber sobald dieser Plot darüber hinaus zum Bedeutungsträger werden soll, wird es problematisch: Sollen wir verallgemeinern, dass es die Unaufgeklärtheit der Deutschen war, die sie zu Nazischergen werden ließ? Hätte eine solide humanistische Bildung die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindert? Hat die Justiz die privaten Zwänge der Täter nicht gebührend berücksichtigt? Das ist offensichtlich Unsinn; bekanntlich konnten die größten Schinder abends problemlos klassische Musik und gute Weine goutieren, nicht anders als Schätzings Johanson. Die Umdeutung der Täterin Hanna zum Opfer ermöglicht den originellen und erfolgreichen Plot, sobald sie aber darüber hinaus etwas bedeuten soll, wird es schief, ja peinlich und letztlich unappetitlich.[15] Es gelingt dem Plot gerade nicht, das Eigentümliche der Nazi-Verbrechen zu repräsentieren.

Ähnliches lässt sich in »Das Leben der Anderen« beobachten. Auch hier wird ja gerade nicht das Spezifische des Stasi-Systems zum handlungsbestimmenden Moment, sondern ein verbrecherischer Missbrauch der Macht: Der Stasi-Bonze zwingt eine Abhängige (hier: die schöne Schauspielerin) zum Sex – ein topisches Motiv, das in jeder beliebigen Machtstruktur vom Western-Dorf über das College bis hin zum Oval Office inszenierbar ist. Kurz gesagt: Der Plot sorgt jeweils für den hedonistischen Anteil am Populären Realismus, für Spannung, Identifikation mit den Personen, miterlebbare Konflikte und Katharsis. Er ist diegetisch einkleidbar in beliebige Gewänder – über eine liebevolle Ausstattung erfährt man dann, wie im alten Professorenroman, durchaus einiges über historische und kulturelle Umstände. Wo jedoch der Plot selbst Träger der historischen Bedeutung werden soll, da versagt der Populäre Realismus regelmäßig. Nähme man den »Vorleser« oder »Das Leben der Anderen« in diesem Anspruch beim Wort, müsste man eine groteske und politisch bedenkliche Verzerrung ihrer historischen Anliegen diagnostizieren. Die Opfer sind in den Werken des Populären Realismus immer Opfer der Erzählstrategie, des eigenen forcierten Plottings, und nicht, wie suggeriert wird, der historischen Umstände. Und seine privilegierten Weltzugänge über ›große Kunst‹ und erhöhte Aisthesis sind nur diegetisch behauptet, nicht im eigenen Verfahren realisiert. Dieses nämlich bleibt definitionsgemäß unauffällig, also konventionell. In seiner Bedeutungsbehauptung präsentiert der Populäre Realismus einen ungedeckten Scheck.

 VI

Wie kann Literaturwissenschaft sinnvoll mit solchen Befunden umgehen? Mit einer Abwertung des Populären Realismus aus Highbrow-Perspektive, selbst wenn sie analytisch gestützt ist, ist es offenkundig nicht getan. Man wird dieser Literatur vielmehr zunächst gerade das zugutehalten müssen, was in ihrer eigenen Selbstbeschreibung wohlweislich nicht vorkommt: ihren Erfolg bei den Protagonisten des Literaturbetriebs und beim bürgerlichen Lesepublikum, ihre absolute Marktförmigkeit. Wir haben es hier mit den Bestsellern der letzten Jahrzehnte zu tun, die von weiten Bevölkerungsschichten rezipiert wurden und überdies zahlreiche Preise und Kritikerlob geerntet haben. »Die Vermessung der Welt« habe ich in Regalen stehen sehen, auf denen sonst nur Golfbücher und Ernährungs-Ratgeber zu finden waren. »Der Vorleser« ist zur Schullektüre geworden und wurde in Hollywood verfilmt, »Das Leben der Anderen« spielte weltweit über 78 Millionen Dollar ein und bekam unter anderem den Deutschen und den Europäischen Filmpreis sowie 2007 den Oskar als Bester fremdsprachiger Film. Er prägt seither weltweit das DDR-Bild von Millionen Zuschauern. Da kann der Literaturwissenschaftler noch so gründlich nachweisen, dass diese Werke ihrem eigenen Anspruch nicht standhalten – die Rezeption straft ihn Lügen. Zu beschreiben wäre die Ware, die sich so gut verkauft: innen hedonistischer Realismus, außen in bildungsbürgerlichen Anspruch verpackt, handwerklich sehr gut gemacht – und dass hier, wie auch immer popularisiert, stets auch ein Stück Weltwissen mitgeliefert wird, kann nicht geleugnet werden.

Der Populäre Realismus ist die erfolgreiche narrative Norm unserer globalen, demokratischen, über Märkte gesteuerten Kultur. Er bedient unsere Nachfrage nach Unterhaltung und Bedeutung (prodesse et delectare). Umberto Eco fasst diese Art von Kunst unter dem Begriff des ›Midcult‹[16] und erklärt ihren Erfolg so: Wie der Normalbürger es in unserer ausdifferenzierten Kultur nicht mehr schaffen kann, echte Naturwissenschaften zu verfolgen und zu beurteilen, und daher auf populärwissenschaftliche Vermittlung angewiesen ist, so ist auch die moderne Kunst derart spezifisch und voraussetzungsreich geworden, dass der Normalbürger nicht mehr die Zeit, das Interesse und die intellektuelle Kapazität aufbringen kann oder will, die nötig wäre, sie auf der Höhe ihrer Komplexität nachzuvollziehen. Weil Kunst und Literatur aber immer noch zu den bürgerlichen Werten gehören und wichtige Elemente im Selbstverständnis und Distinktionsverhalten unserer mittleren und höheren Schichten sind, besteht eine Nachfrage nach leicht und vergnüglich konsumierbaren Formen, die dem Rezipienten dennoch die Teilhabe an der Hochkultur suggerieren. Midcult »stellt den Konsumenten zufrieden, indem er ihn davon überzeugt, das Herz der Kultur schlagen gehört zu haben.« – »Der mittlere Konsument konsumiert seine Lüge […] als strukturelle Lüge[17]

Das kommt unseren Befunden nahe. Allerdings verwenden MacDonald und Eco der Begriff des ›Midcult‹ vor allem für eine Kunst, die »Anleihen bei Verfahrensweisen der Avantgarde«[18] macht, während der von uns beobachtete Populäre Realismus sich ausdrücklich vom ›Irrweg‹ der experimentellen Avantgarden distanziert. Auch affirmiert der Begriff das Modell einer traditionellen Stratifizierung der Kultur (Masscult – Midcult – High Art) und setzt damit die Existenz einer klar definierbaren avantgardistischen Hochkultur voraus. Es scheint jedoch zunehmend ein Konsens darüber zu fehlen, was unter den Bedingungen der ausdifferenzierten Markt- und Mediengesellschaft der letzten Jahrzehnte überhaupt noch unter einer solchen Hochkultur zu fassen wäre.

Vorläufig müssen wir uns mit der Feststellung begnügen, dass der Populäre Realismus jedenfalls seine Behauptung, Teil und Fortsetzung der alten bildungsbürgerliche Hochkultur zu sein, nicht bzw. nur im Modus des Als ob einlösen kann – genau darin besteht ja seine »strukturelle Lüge«. Celibidace hatte sich bekanntlich geweigert, der aufkommenden Markt- und Medienkultur durch LP- und CD-Einspielungen Tribut zu zollen. Hätte er auch posthum damit Erfolg gehabt, würden wir ihn jetzt nicht mehr kennen, geschweige denn in populären Öko-Thrillern über ihn lesen. Nein, die Regel des Spiels, dessen Top Player derzeit die Populären Realisten sind, lautet längst anders: sich als ›High Culture‹ im neuen Dispositiv des globalen Markt- und Medienverbundes zu verkaufen. Wir werden gut daran tun, unsere analytischen und kritischen Begriffe auf diese neuen Bedingungen einzustellen.

[Falls Sie den Aufsatz im wissenschaftlichen Zusammenhang zitieren wollen, benutzen Sie bitte die Buchfassung.]


[1] In: Bernhard Schlink: Der Vorleser. Zürich 1997, [S. 208].

[2] Frank Schätzing: Der Schwarm. Frankfurt 2005, S. 383.

[3] Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt am Main 71992, S. 19.

[4] Daniel Kehlmann/Helmut Gollner: Erzählen ist im Idealfall ich-los. In: Die Wahrheit lügen. Die Renaissance des Erzählens in der jungen österreichischen Literatur. Hg. v. H.G. Innsbruck 2005, S. 29-38; S. 31.

[5] Schätzing: Der Schwarm, S. 26.

[6] Ebd., S. 27.

[7] Mit dem Dirigenten Sergiu Celibidace ist dabei eine Figur aufgerufen, die sich explizit gegen die Kommerzialisierung ihrer Kunst z.B. über LP- oder CD-Einspielungen gewehrt hat.

[8] Schätzing: Der Schwarm, S. 665.

[9] Schlink: Der Vorleser, S. 175f.

[10] Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen 2007, Zitate S. 14f.

[11] Kehlmann/Gollner: Erzählen ist im Idealfall ich-los, S. 30.

[12] Die Szene ist abrufbar unter: www.youtube.com/watch?v=LhTQn2dbMaY (1.11.2010).

[13] Auch im ›guten Menschen‹ wird ja auf ein Brecht-Drama angespielt.

[14] Die Kritik argwöhnte bei Kraussers Roman, dass »die Buchform gar nicht mehr sein adäqater Aggregatzustand [sei], als warte dieser Stoff nur auf seine eigentliche Bestimmung die Verfilmung.« (Frank Schäfer: Berliner Short Cuts. In: die tageszeitung, 2./3. Januar 2010, S. 24).

[15] Vgl. dazu ausführlich: Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 69-78.

[16] Der Begriff stammt von Dwight MacDonald. Vgl. Umberto Eco: Die Struktur des schlechten Geschmacks. In: U.E.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main 1984, S. 59-115; bes. S. 67-73.

[17] Eco: Die Struktur des schlechten Geschmacks, S. 71 und 90.

[18] Eco: Die Struktur des schlechten Geschmacks, S. 71. Ecos Beispiel ist die Malerei Giovanni Boldinis.