Entscheidungen verschiedener Gerichte und der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien
Die Auseinandersetzung um den Verleih des „Echo“ an Kollegah und Farid Bang endete mit der Einstellung der Institution des „Echo“-Preises. Währenddessen lief ein weiteres Verfahren, nachdem gegen die Rapper Strafanzeige gestellt worden war. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf hat die Ermittlungen Mitte Juni 2018 jedoch eingestellt. Ihre Begründung (laut eines Berichts der Deutschen Presse-Agentur):
„Die Zeile ‚Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen‘ sei weder eine Billigung noch eine Verharmlosung der NS-Herrschaft und ihres Völkermordes, so die Staatsanwaltschaft. Der Vergleich von KZ-Insassen mit dem eigenen Körper möge geschmacklos sein. Doch er stelle auch keine Leugnung des Holocausts dar. Gleiches gelte für die Zeile ‚Mache mal wieder ʻnen Holocaust‘. Diese Ankündigung sei weder eine Aufforderung zur Gewalt noch eine Verharmlosung des Holocausts. Wesensmerkmal des ‚Gangsta-Rap‘ sei nun einmal die Glorifizierung von Kriminalität und Gewalt.“
Solche Gewaltverherrlichung ist in diesem Fall nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht strafbar, weil sie künstlerisch eingehegt ist: „Zwar seien die Liedtexte voller vulgärer, menschen- und frauenverachtender Gewalt- und Sexfantasien, heißt es in der Entscheidung, die den Beteiligten zuging. Weil sie aber damit dem Genre ‚Gangsta-Rap‘ gerecht werden, sei dies nicht strafbar. Denn auch für diese Musikrichtung gelte die in der Verfassung verankerte Kunstfreiheit.“ (dpa, zit. n. pnn.de, 17.6.2018)
Zeitungskommentatoren von „taz“ bis „Welt“ haben diese Entscheidung scharf angegriffen. Sie forderten, die Kunstfreiheit nicht derart stark zu gewähren, und wünschten sich zudem von der Staatsanwaltschaft eine ausführlichere Begründung, weshalb die ‚Kunst‘ hier derart ‚hoch‘ angesetzt sei, dass eine strafrechtliche Verfolgung der Songs ausgeschlossen werde.
Mit diesen Forderungen betreten die Kommentatoren keineswegs Neuland. Sie begeben sich mit ihrer Kritik auch nicht ins Abseits, schließlich geht es bei den Strafrechtskommentaren und in den Begründungen einschlägiger Urteile ständig darum, zwischen Kunstfreiheit und der strafbaren Veröffentlichung z.B. gewaltverherrlichender oder pornographischer Werke abzuwägen.
Im Laufe der Jahrzehnte sind die einzelnen Bestimmungen und Urteile dazu recht unterschiedlich ausgefallen, ein relativ großer ‚Spielraum‘ existiert offenbar, wenn auch nicht innerhalb kurzer Zeiträume (dazu ausführlich mein Buch „Gestalten des Eros. Die schöne Literatur und der sexuelle Akt“, Westdeutscher Verlag, 1997; für den jüngsten Stand vgl. aktuelle Kommentare zum Strafgesetzbuch, etwa den von Thomas Fischer 2017 im C.H. Beck Verlag). Es gibt darum kontinuierlich so etwas wie eine ‚juristische Ästhetik‘: Was Kunst ist und wie ihr Wert ausfällt, muss auch von Bundestagsausschüssen, Richtern, Staatsanwälten festgelegt werden.
Strafgesetz
Die angemahnten ausführlicheren Begründungen gibt es natürlich (erst), wenn ein Fall angenommen und vor Gericht verhandelt wird. Deshalb reicht ein kurzer Blick zurück, um solche Argumente im Falle von strafrechtlichen Ermittlungen gegen Raptexte in Erfahrung zu bringen. Das Beispiel, das zu diesem Zweck präsentiert werden soll, hat für eine genauso große mediale Aufmerksamkeit und politisch fast einhellige Ablehnung gesorgt wie der „Echo“-prämierte Beitrag Kollegahs und Farid Bangs: das Stück „Stress ohne Grund“ (Shindy feat. Bushido).
Besonders der Vers „Ich schieß auf Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz“ beherrschte im Sommer 2013 tagelang die nationalen Schlagzeilen. In diesem Fall kam es zu einer Anklage durch die Berliner Staatsanwaltschaft. Das Amtsgericht Tiergarten lehnte allerdings die Eröffnung eines Hauptverfahrens ab und setzte fest, dass u.a. M. Ferchichi (der unter dem Namen Bushido auftritt) für die Beschlagnahme der CD und für die Durchsuchung seiner Geschäftsräume zu entschädigen sei (nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft wurde das Urteil später durch das Landgericht Berlin bestätigt).
Zur Begründung fasste das Amtsgericht zuerst die juristisch momentan durchgesetzten Kriterien zusammen (hier und im Folgenden werden Passagen aus Gerichtsurteilen und amtlichen Beschlüssen in längeren Auszügen direkt zitiert, weil erfahrungsgemäß in kulturwissenschaftlichen Kreisen kein Vorwissen über Duktus und Begriffe der juristischen wie exekutiven Sphäre existiert, es darum wahrscheinlich von Interesse sein dürfte, diese Textgattungen einmal im Original zu lesen):
„Ein Verstoß gegen § 131 StGB durch filmische oder textliche Gewaltdarstellungen ist nur dann gegeben, wenn die Schilderung einer grausamen oder sonst unmenschlichen Gewalttätigkeit gegen Menschen in einer Art erfolgt, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder sie das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt. Im letzteren Sinne tatbestandsmäßig sind nur exzessive Gewaltschilderungen, die durch das Darstellen von Gewalttätigkeiten in allen Einzelheiten und unter Ausklammerung aller sonstigen menschlichen Bezüge die geschundene menschliche Kreatur in widerwärtiger Weise in den Vordergrund rücken und dies ausschließlich zu dem Zweck, dem Betrachter Nervenkitzel besonderer Art, genüsslichen Horror oder sadistisches Vergnügen zu bieten.“ (Amtsgericht Tiergarten, Beschl. v. 19.11.2013)
Anschließend führte das Amtsgericht die Anwendung dieser Kriterien auf den fraglichen Song (mitsamt Video) durch: „Diese Voraussetzungen erfüllen weder der Text, noch die bildliche Umsetzung von ‚Stress ohne Grund‘, weil weder die allgemein gehaltenen verbalisierten Gewaltphantasien, noch die schemenhaft in Szene gesetzte Verbringung einer Person in den Kofferraum eines Fahrzeuges, noch die angedeutete, im Ergebnis aber offen gelassene Entzündung eines Pkw, in dem sich eine (möglicherweise) noch lebende Person befindet, eine nach obigen Maßstäben hinreichend fokussierte Darstellung enthalten. Da insoweit durch die Form der Darstellung keine Verletzung der Menschenwürde auszumachen ist, kann es dahinstehen, ob die Formulierungen ‚Ich verkloppe blonde Opfer wie Oli Pocher‘ und ‚ich will, dass Serkan Tören jetzt ins Gras beißt‘ überhaupt tatbestandsmäßig sind und die Passagen ‚du wirst in Berlin in den Arsch gefickt‘ und ‚ich schieß Claudia Roth und sie kriegt Löcher wie ein Golfplatz‘ hinreichend verherrlichenden oder verharmlosenden Charakter haben, weil sich die Darstellung inhaltlich jedenfalls insgesamt noch im Rahmen der verfassungsrechtlich gewährten Kunstfreiheit bewegt.“ (Ebd.)
Im nächsten Schritt muss folglich der Umfang solcher „Kunstfreiheit“ ausgemessen werden: „Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist bezüglich „Stress ohne Grund“ bereits nach dem formalen Kunstbegriff eröffnet, da die Darstellung in einer gängigen künstlerischen Ausdrucksform (Musik/Sprechgesang) erfolgt.“
Diese Rückführung der ‚Kunst‘ auf eine Aktivität, die einer Kunstgattung zugerechnet werden kann (Sprechgesang als gängiges Mittel innerhalb der Gattung Musik), müsse ausreichen. Der Grund für diese äußerst weite und nüchterne Kunstdefinition: Das Gericht möchte sich ausdrücklich einer Bewertung enthalten, ob es sich um guten oder schlechten Sprechgesang handele.
Dieses Vorgehen sei verfassungsrechtlich geboten, um die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Kunst nicht durch Auffassungen über die Qualität von Kunstwerken einzuschränken; auch schlechte Kunst – egal nach welchem Kriterium – ist Kunst: „Qualitative Bewertungen, die vorliegend bei gesellschaftsmehrheitlicher Betrachtung einer Einordnung als Kunst entgegenstehen könnten, haben als wertende Einengung des Kunstbegriffes grundsätzlich außer Betracht zu bleiben.“
Auch aus Profitgründen hergestellte Kunst bleibe Kunst: „Der einmal eröffnete Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG wird auch nicht dadurch wieder verschlossen, dass mit dem Werk kommerzielle Interessen verfolgt werden, weil gerade dies ein Charakteristikum künstlerischer Berufsausübung darstellt.“ Die Kunstfreiheit könne „ihre Grenzen nur unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung finden, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen“, allerdings müsse die Verletzung solcher Rechtsgüter mit Verfassungsrang „schwerwiegend“ ausfallen, damit die „Freiheit der Kunst“ beschnitten werden könne.
Dies sei im Falle von „Stress ohne Grund“ nicht der Fall; im Rahmen der geforderte „Werteabwägung“ ergebe sich, „dass angesichts der allenfalls im unteren Grenzbereich strafbarer Gewaltdarstellung liegenden Textpassagen und der Notwendigkeit des Adaptierens von Gangstergehabe innerhalb des Musikgenres die Grenzen eines schwerwiegenden Eingriffs in Rechtsgüter von Verfassungsrang nicht überschritten ist.“ (Ebd.)
Jugendschutzgesetz
In Deutschland bleibt aber ein weiteres staatliches Mittel übrig, die Produktion, Verbreitung und Wahrnehmung künstlerischer Werke zu behindern – der Jugendschutz. In seinem Namen können Werke aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Erwachsene dürfen diese Werke zwar vertreiben und erwerben, Jugendliche dürfen ihrer aber nicht habhaft werden, deshalb wird es auch für Erwachsene schwerer, von ihnen Kenntnis zu erlangen.
Solch eine Indizierung nimmt die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) vor. Auch bei „Stress ohne Grund“ wurde sie tätig und setzte den Titel auf den Index (Begründung der BPjM hier), mit der Konsequenz, dass der Song an Orten bzw. in Medien, die Personen unter 18 Jahren „zugänglich“ sind, eben nicht zugänglich gemacht werden durfte, wie es in § 15 des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) heißt. Er durfte also weder auf YouTube stehen noch in CD-Geschäften offen verkauft werden, noch öffentlich dargeboten werden.
Auch im Fall von Kollegahs und Farid Bangs „Jung Brutal Gutaussehend 3“ ist die Behörde inzwischen tätig geworden (nach Mitteilung des „Tagesspiegel“ auf Antrag der Staatschutz-Abteilung des Berliner Landeskriminalamts). Das Verfahren kommt für die Beteiligten sicher nicht vollkommen überraschend: Der Vorläufer „Jung Brutal Gutaussehend 2“ wurde 2014 bereits in die Liste der jugendgefährdenden Medien aufgenommen (Begründung der BPjM hier). Aber natürlich folgt daraus nicht zwangsläufig, dass „Jung Brutal Gutaussehend 3“ nun ebenfalls indizierungswürdig ist.
Die Überprüfungen der BPjM zu diesem aktuellen Album sind weiter im Gange, darum steht die Entscheidung, ob das Album auf den Index gesetzt wird oder nicht, noch aus. Wie bei „Stress ohne Grund“ könnte die Entscheidung der BPjM freilich anders ausfallen als die beim strafrechtlichen Verfahren, das eine nimmt das andere nicht vorweg. Das Jugendschutzgesetz bestimmt über die Verbote der Strafgesetze hinaus in § 18 (1):
„Träger- und Telemedien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, sind von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in eine Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen. Dazu zählen vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien sowie Medien, in denen 1. Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden oder 2. Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt wird.“
Als Ausnahmen sind in § 18 (3) vermerkt: „Ein Medium darf nicht in die Liste aufgenommen werden 1. allein wegen seines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts, 2. wenn es der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient, 3. wenn es im öffentlichen Interesse liegt, es sei denn, dass die Art der Darstellung zu beanstanden ist.“
Über die Listenaufnahme (sprich: die Indizierung) hat per Gesetz die BPjM zu entscheiden. Im Gesetz ist genau geregelt, wer ihr angehört, laut § 19 (1) setzt sie sich zusammen aus einem Vorsitz sowie Beisitzern, die von staatlichen Stellen (dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie den Landesregierungen) ernannt werden. § 19 (2) regelt dann genau, woher die Beisitzer zu kommen haben: aus den
„Kreisen 1. der Kunst, 2. der Literatur, 3. des Buchhandels und der Verlegerschaft, 4. der Anbieter von Bildträgern und von Telemedien, 5. der Träger der freien Jugendhilfe, 6. der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, 7. der Lehrerschaft und 8. der Kirchen, der jüdischen Kultusgemeinden und anderer Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind“.
Genau geregelt ist ebenfalls im Jugendschutzgesetz, wer zu diesen „Kreisen“ zählt – es sind Mitglieder von Verbänden. Entsprechende Verbände haben jeweils das „Vorschlagsrecht“ für einen Beisitzer. Die „Kunst“ repräsentieren etwa gemäß § 20 (1): „Deutscher Kulturrat, Bund Deutscher Kunsterzieher e. V., Künstlergilde e. V., Bund Deutscher Grafik-Designer“, die „Literatur“ wird vertreten durch „Verband deutscher Schriftsteller, Freier Deutscher Autorenverband, Deutscher Autorenverband e. V., PEN-Zentrum“.
Kunstfreiheit – Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts
Gegen die Entscheidungen der BPjM (das auch in kleinerer Besetzung Beschlüsse fassen kann, dann muss die Entscheidung aber einstimmig, nicht nur mit qualifizierter Mehrheit ausfallen) kann selbstverständlich geklagt werden, entschieden wird über die Klage bei Verwaltungsgerichten. Deren Urteile wiederum können, wenn der Rechtsweg bis zum Ende beschritten wird, vor das Bundesverfassungsgericht gelangen.
Nach wie vor grundlegend ist ein Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts v. 27. November 1990 (hier), mit dem ein Indizierungsbescheid der Bundesprüfstelle (es ging um den als pornographisch und jugendgefährdend eingestuften Roman „Josefine Mutzenbacher“) sowie bestätigende Urteile diverser Verwaltungsgerichte überprüft wurden. Das Verfassungsgericht kommt zu dem Beschluss, dass Pornographie und Kunst sich nicht wechselseitig ausschlössen und eine Abwägung zwischen Kunstfreiheit und (dem ebenfalls Verfassungsrang zugebilligten) Jugendschutz auch dann vorgenommen werden müsse, wenn das in Frage stehende Werk schwer jugendgefährdend sei (ausführlich dazu Hecken 1997).
Da es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch pornographisch-jugendgefährdende Kunst geben kann (die Eigenschaft des Pornographischen und/oder Jugendgefährdenden also nicht automatisch zum Verlust des Kunst-Titels führt), ist es natürlich wichtig zu wissen, was unter ‚Kunst‘ zu verstehen ist. Das Bundesverfassungsgericht verweist darum auf seine früheren Beschlüsse, sie werden nun mit Blick auf das vorliegende Romanwerk reformuliert:
Die „der Kunst eigenen Strukturmerkmale“ weise es auf, weil es das „Ergebnis freier schöpferischer Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Phantasien des Autors in der literarischen Form des Romans zum Ausdruck kommen“, sei. „Elemente schöpferischer Gestaltung können in der milieubezogenen Schilderung sowie in der Verwendung der wienerischen Vulgärsprache als Stilmittel gesehen werden. Der Roman läßt außerdem eine Reihe von Interpretationen zu, die auf eine künstlerische Absicht schließen lassen.“
Hier unterbleibt leider der Hinweis, ob die „Stilmittel“ – deren Verwendung bereits ausreicht, um von „Kunst“ zu sprechen – auch mit den „Erfahrungen“ des Autors in Verbindung stehen. Wäre es so, hätte das Bundesverfassungsgericht in der Absicht, einen weiten Kunstbegriff zugrunde zu legen, genau das Gegenteil vollbracht. Unter der Vorgabe einer Poetik der Expressivität („Eindrücke, Erfahrungen und Phantasien des Autors […] zum Ausdruck kommen“) könnte man nämlich bloß einen Teil aller vormodernen, modernen und postmodernen Werke aus den Gattungen der Musik, Literatur, Malerei etc. weiterhin als Kunst einstufen. Das dürfte nicht die Absicht des Bundesverfassungsgerichts gewesen sein, darum sind diese Ausführungen zum Künstler-Ausdruck wohl als Ungeschicklichkeit anzusehen.
Klarer, unmissverständlicher werden die liberalen Grundsätze beim nächsten Punkt formuliert: Die Kunst-Kriterien und die Überprüfung, ob sie anzutreffen seien, dürften nicht „nicht von einer staatlichen Stil-, Niveau- und Inhaltskontrolle oder von einer Beurteilung der Wirkungen des Kunstwerks abhängig gemacht werden“. Im Zusammenhang des Jugendschutzes Ganz sind die Wert- und Wirkungsfragen aber nicht ganz ausgeschlossen: „Solche Gesichtspunkte können allenfalls bei der Prüfung der Frage eine Rolle spielen, ob die Kunstfreiheit konkurrierenden Rechtsgütern von Verfassungsrang zu weichen hat.“ (BVerfGE 83, 130 [137f.])
Eine spätere, umfangreiche Stelle des Beschlusses scheint noch stärker zu betonen, dass Wertungsfragen sehr wohl eine wichtige Rolle spielen; dort heißt es: „Weiterhin kann für die Bestimmung des Gewichtes, das der Kunstfreiheit bei der Abwägung mit den Belangen des Jugendschutzes im Einzelfall beizumessen ist, auch dem Ansehen, das ein Werk beim Publikum genießt, indizielle Bedeutung zukommen. Echo und Wertschätzung, die es in Kritik und Wissenschaft gefunden hat, können Anhaltspunkte für die Beurteilung ergeben, ob der Kunstfreiheit Vorrang einzuräumen ist.“ (BVerfGE 83, 130 [147])
Widerspruchsfreiheit wird hier erneut nur durch die Verwendung eines Modalverbs erzielt: „kann“, „können“ – es muss also nicht so sein; dann bleibt aber die Frage, weshalb diese Möglichkeit so pointiert angesprochen wird. Noch rätselhafter mutet der Einsatz des Modalverbs in den unmittelbar vorangehenden Ausführungen an:
„Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann von Bedeutung sein, in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind. Die Kunstfreiheit umfaßt auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt und Sexualität thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der vom Künstler selbst gewählten Darstellungsart. Sie [sc. die Kunstfreiheit] wird um so eher Vorrang beanspruchen können, je mehr die den Jugendlichen gefährdenden Darstellungen künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind.“ (BVerfGE 83, 130 [147])
Hier verliert „können“ endgültig jeden Sinn: Da es doch – wie vom Bundesverfassungsgericht selbst festgestellt – immer auf „Abwägung“ zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz ankommt, muss ein (aufgrund eines niedrigen oder hohen Grads konzeptioneller Einbindung zustande kommendes) niedriges oder hohes Gewicht ‚künstlerischer Gestaltung‘ für die „Gewichtung der Kunstfreiheit“ folgerichtig bedeutsam sein.
Oder will das Bundesverfassungsgericht tatsächlich sagen, dass es andere Eigenschaften des Kunstwerks – etwa die Konzeptlosigkeit – gibt, die gleichfalls für die „Gewichtung der Kunstfreiheit“ bedeutsam sein können? Zweifellos wäre das ein sehr wichtiger Befund! Dann wären die angeführten Sätze des Beschlusses allerdings lediglich verwirrend, und man hätte sie besser nicht zu Papier gebracht. Oder soll die Passage besagen, dass die „Gewichtung der Kunstfreiheit“ willkürlich erfolgen darf oder gar muss, es darum keinerlei vorab festgelegter Kriterien bedarf? Auch dies hätte man dann einfach hinschreiben können, ja müssen.
Bei den Anforderungen an die Bundesprüfstelle kommt wieder das Modalverb zum Einsatz, wenn sie und die Verwaltungsgerichte aufgefordert werden, die möglichen (nicht die tatsächlichen) Wirkungen der zu begutachtenden Werke festzustellen bzw. prognostisch einzuschätzen: „Auf seiten des Kinder- und Jugendschutzes werden sich Bundesprüfstelle und Fachgerichte im Rahmen des verfahrensrechtlich Möglichen Gewißheit darüber zu verschaffen haben, welchen schädigenden Einfluß die konkrete Schrift ausüben kann.“ (BVerfGE 83, 130 [146])
Schwieriger, als solche Spekulationen anzustellen, dürfte es fallen, eine weitere Anforderung zu erfüllen: Für das pluralistisch zusammengesetzte Entscheidungsgremium der BPjM wird als Idealziel ausgegeben, „gerade im Interesse der Kunstfreiheit sicher[zu]stellen, daß alle für die Indizierungsentscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte gesammelt, die hierbei tragenden Werte ermittelt und zu einem Ausgleich gebracht werden“ (BVerfGE 83, 130 [149]).
Zwei aktuelle Indizierungsentscheidungen der BPjM
Natürlich hat die Bundesprüfstelle auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes reagiert. In Ihren Entscheidungen versucht sie stets, den genannten Anforderungen gerecht zu werden. Bei ihren Begründungen zur Indizierung von Gangsta-Rap-Stücken setzt sie erstens immer wieder Textstücke ein, die ihr Bemühen, formelhaft den Kriterien zu genügen, belegen; zum einen klärt sie dabei über ihr Verständnis des Jugendschutzgesetzes sowie des Kunst-Begriffs auf, zum anderen erläutert sie die Wahrscheinlichkeit der Jugendgefährdung durch eine bestimmte Ausprägung des Gangsta-Rap. Zweitens versucht sie, diese allgemeinen Punkte bei der Analyse des jeweiligen Artefaktes fruchtbar zu machen.
Im Folgenden sollen diese beiden Vorgehensweisen im Einzelnen vorgestellt und untersucht werden. Als Material dienen zwei jüngere Indizierungsentscheide der BPjM, der eine betrifft Haftbefehls CD „Blockplatin“, der andere Bushidos CD „Sonny Black“. Die Ausführungen hierzu sind in zwei Abschnitte gegliedert: Erstens sollen die allgemeinen Punkten der Indizierungsentscheidungen dargestellt und analysiert werden: 1.a) Jugendschutz, 1.b) Kunstverständnis, 1.c) Wirkungsforschung, zweitens die Anwendungen und Fallanalysen, unterteilt nach: 2.a) Wirkungshypothesen 2.b) Kunstbewertung, 2.c) Kunstkonzept.
1.a) Jugendschutz. Es gehört zur Begründungspraxis der BPjM, in jedem Indizierungsbescheid Ausführungen zur Gesetzesgrundlage zu machen. Neben einer Paraphrase des Jugendschutzgesetzes weist sie wiederholt auf eigenständige ‚Weiterentwicklungen‘ hin. Charakteristisch für eine staatliche Einrichtung, bringt sie immer mehr Gegenstände unter ihre Aufsicht, sieht sie bei immer mehr Fällen Eingriffsbedarf:
„Die Aufzählung in § 18 Abs. 1 Satz 2 JuSchG ist nicht abschließend. Die Bundesprüfstelle hat in ihrer Spruchpraxis weitere Fallgruppen der Jugendgefährdung entwickelt. Dazu zählen u.a. die Verletzung der Menschenwürde, die Diskriminierung von Menschengruppen, die Verherrlichung des Nationalsozialismus, die Verherrlichung von Drogenkonsum, die Verherrlichung exzessiven Alkoholkonsums und das Nahelegen von selbstschädigendem Verhalten.“ (BPjM 2015a: 11f. sowie BPjM 2015b: 16)
Und an späterer Stelle mit demselben Gestus: „Zu den von der Spruchpraxis der Bundesprüfstelle entwickelten Fallgruppen jugendgefährdender Medien zählen auch solche, die unterhalb der Schwelle des § 130 Abs. 1 StGB (Volksverhetzung) Menschen diskriminieren. […] Unter Diskriminierung wird die Benachteiligung von einzelnen Menschen oder Gruppen (zumeist Minderheiten) aufgrund von Merkmalen wie soziale Gewohnheit, sexuelle Neigung oder Orientierung, Sprache, Geschlecht, Behinderung oder äußerlichen Merkmalen verstanden. Sie steht dem Grundsatz der Gleichheit der Rechte aller Menschen entgegen.“ (BPjM 2015a: 18 sowie teilweise gleichlautend BPjM 2015b: 24)
1.b) Kunstverständnis. Die BPjM benutzt zur Verdeutlichung ihrer Kunstauffassung stets Formeln, die sie u.a. dem Mutzenbacher-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts entnimmt (2015a: 23 sowie 2015b: 31). Der einzige Unterschied zu den in diesem Aufsatz bereits dargestellten Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichts anlässlich der Indizierung des Romans „Josefine Mutzenbacher“ liegt darin, dass die BPjM auch eine Kunst-Definition aus einem älteren Bundesverfassungsgerichtsbeschluss anführt:
„Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zum Ausdruck gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Fantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellsten Persönlichkeit.“ (2015a: 23 sowie 2015b: 31)
Hinter dieser Passage wird von der BPjM korrekt auf das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sog. „Mephisto“-Urteil aus dem Jahr 1971, verwiesen. Eigentümlich ist aber, dass nichts in Anführungsstriche gesetzt wird, im Original heißt es nämlich fast wortgleich:
„Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.“ (BVerfGE 30, 173 [188f.])
Neben der Anpassung an die neue Rechtschreibordnung besteht die einzige Änderung der BPjM in der Ablösung von „zu unmittelbarer Anschauung gebracht“ durch „zum Ausdruck gebracht“ und von „unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers“ durch „unmittelbarster Ausdruck der individuellsten Persönlichkeit“. So wird die Einengung künstlerischen Schaffens auf Vorgänge persönlicher Expression von der BPjM noch gesteigert – eine Anschauung, die man als völlig überholt kennzeichnen müsste, wenn man den Anspruch berücksichtigte, eine Kunst-Bestimmung zugrunde zu legen, die sich auf der Höhe der Kunstdebatten befindet und kein einseitiges staatliches Kunstverständnis etabliert.
1.c) Wirkungsforschung. Um die jugendgefährdende Wirkung bestimmter Gangsta-Rap-Stücke zu belegen, greift die BPjM wiederholt auf journalistische und wissenschaftliche Texte zurück. Aus den journalistischen Texten werden Einschätzungen der Journalisten sowie einzelner Kinder und Jugendlicher zitiert, die von diesen Journalisten befragt wurden. Diese Textstellen sollen belegen, dass bei den jeweils berichteten Einzelfällen (die nichts mit dem Einzelfall der indizierten CD zu tun haben) die Rezeption von Gangsta-Rap-Stücken zu gewalttätigem Verhalten führte (BPjM 2015a: 26f. sowie BPjM 2015b: 36f.)
Zudem wird wiederholt auf wissenschaftliche Studien verwiesen. Die BPjM stützt sich, um ihre „Befürchtung“ zu „erhärten“, dass „besonders gefährdungsgeneigte Kinder und Jugendliche frühzeitig das dargestellte Diskriminierungsgebaren übernehmen“ (BPjM 2015a: 20 sowie BPjM 2015b: 29), bei ihren Einschätzungen auf wissenschaftlicher Seite auf einen Aufsatz von Pöge (2011), der wiederum diverse andere Studien resümiert oder angibt, darunter all jene, auf die sich auch die BPjM beruft. Die Ergebnisse einer ganzen Reihe nordamerikanischer Studien werden von der BPjM (2015a: 21 sowie BPjM 2015b: 30) als Zitat aus dem Aufsatz Pöges angeführt. Erwähnenswert ist dabei, dass die BPjM äußerst selektiv zitiert. Unmittelbar nach der Zusammenfassung Pöges jener nordamerikanischen Befunde heißt es nämlich in diesem wissenschaftlichen Aufsatz:
„Es ist ersichtlich, dass die vorgestellten Ergebnisse generell unterschiedlich bis widersprüchlich sind. Daneben konnten kausale Erklärungszusammenhänge zwischen Musikgeschmack, -konsum und Delinquenz zum größten Teil bis heute nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Fraglich bleibt insgesamt auch die Übertragbarkeit auf Deutschland […]. Immerhin scheinen Anhaltspunkte dafür zu bestehen, dass manche neue Musikformen (Techno, Rave) mit Drogenkonsummustern korrespondieren und dass Rap-Musik auch mit deviantem und delinquentem Verhalten zusammenhängen kann. Für darüber hinausgehende kausale Erklärversuche scheint es keine hinreichenden empirischen Belege zu geben.“ (Pöge 2011: 284f.)
Dies zitiert die BPjM nicht nur nicht, sie lässt es auch unerwähnt. Genau dasselbe Vorgehen zeichnet ihre Zitations- und Paraphrasetätigkeit bei der Zusammenfassung der Ergebnisse der eigenen Studie Pöges aus (BPjM 2015a: 21f. sowie BPjM 2015b: 29f.). In einem langen Zitat aus besagtem Aufsatz wird Pöges Hinweis darauf dokumentiert, dass in der ersten Hälfte der Nullerjahre (also ein Jahrzehnt vor Erscheinen der CDs „Sonny Black“ und „Goldplatin“) in Münster und (vor allem) Duisburg in einer bestimmten Gruppe – die gekennzeichnet sei durch einen niedrigen Sozialstatus, einen erhöhten Anteil an HauptschülerInnen, einen erhöhten Anteil an Jugendlichen mit „(vorwiegend türkischem) Migrationshintergrund“ und dadurch, dass sie einzig den „Musikstil Black Music für gut befinde“ – sich der „vermutete Zusammenhang zwischen Rap-Musik und erhöhter Kriminalität […] ganz offenkundig“ zeige (Pöge 2011: 298). Die weiteren Ausführungen Pöges genau zu diesem Punkt, die einige Seiten später im „Fazit“ Pöges stehen, lässt die BPjM erneut unerwähnt. In diesem Fazit heißt es:
„Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass mit der ausgeführten Vorgehensweise keine Aussagen über Kausalzusammenhänge gemacht werden können. Die Musiktypologien können zwar als Indikatoren für Jugendszenen gelten, in denen abweichendes Verhalten häufiger oder seltener vorkommt als in anderen – um deviantes oder gar delinquentes Verhalten erklären zu können, müssen jedoch viele weitere Ursachen herangezogen werden.“ (Ebd.: 299f.)
Wobei hier noch angemerkt werden muss, dass „viele weitere Ursachen“ ein offenkundig falscher Ausdruck ist, denn zuvor schrieb Pöge selbst ja nur von „Indikatoren“ und eben nicht von einer oder mehreren Ursachen. Folgt man also Pöge, dessen Aufsatz die BPjM auf wissenschaftlicher Seite zur ‚Erhärtung‘ ihrer Argumentation besonders herausstellt, ist eine Korrelation zwischen dem in einer bestimmten Gruppe zu einer bestimmten Zeit erhöhten Maß begangener Straftaten (und dem mitunter auch relativ hohen Maß an „Devianz“) und der zustimmenden Rezeption von „Black Music“ bzw. „Rap-Musik“ nachgewiesen, keineswegs aber ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis, nicht einmal ein Teilursache-Wirkungs-Verhältnis.
2.a) Wirkungshypothesen. Auf wissenschaftliche Studien zu den Wirkungen der vorliegenden CDs kann die BPjM nicht zurückgreifen; offenbar sind solche auch nicht in Auftrag gegeben worden. Sie belässt es bei folgendem Verfahren: Sie gibt bestimmte Worte und Aussagen der CDs in Zitatform oder zusammenfassend wieder (ihr musikalischer Charakter wird außer Acht gelassen) und behauptet teilweise bereits, diese Worte und Aussagen seien potenziell jugendgefährdend. Zwei Beispiele von vielen dutzend möglichen:
„Die Verherrlichung exzessiven Alkoholkonsums und das Suggerieren, dass dieser als einziger zum Lebensglück führen werde, kann vorhandene Hemmschwellen, die durch Erziehung und Aufklärung seitens der Eltern oder anderer Erziehungsberechtigter aufgebaut wurden, überwinden helfen oder diese zumindest herabsetzen, was im Sinne des Jugendmedienschutzes verhindert werden muss.“ (BPjM 2015b: 21)
„Gewalt wird in den Liedtexten des Albums durchgängig als adäquates Mittel der Auseinandersetzung propagiert, in diesem Zusammenhang werden missliebige Personen(gruppen) mit beleidigenden Ausdrücken tituliert. Die Texte schildern und verherrlichen einen auf Gewalt und Kriminalität basierenden Lebensstil.“ (BPjM 2015a: 12)
Im Zusammenhang der jeweiligen Stücke und der CD untersucht die BPjM dann, ob diese Textstücke ironisch, satirisch oder spielerisch eingesetzt werden. Falls das von der BPjM verneint wird, geht sie von der Gefährdung zumindest eines Teils der Jugendlichen aus:
„Dass Gangster- und Battle-Rap auch, wenn nicht sogar besonders bevorzugt, von Kindern und Jugendlichen gehört wird, deren sozialen [sic] und familiären [sic] Voraussetzungen sowie Bildungserwerbschancen tendenziell problematisch bis prekär bezeichnet werden können (soziale Brennpunkte), steigert die Gefahr, dass in diesem Sinne besonders gefährdungsgeneigte Kinder und Jugendliche frühzeitig das dargestellte Diskriminierungsgebaren übernehmen und das konsequent inszenierte Auftreten der Interpreten als tatsächlich vorbildhaft annehmen.“ (Ebd.: 20)
2.b) Kunst-Bewertung. Mit der Feststellung der Jugendgefährdung steht die Indizierung aber noch nicht fest. Abgewogen werden muss noch, ob die Kunstfreiheit dem entgegensteht. In ihren speziellen Betrachtungen zu den CDs von Bushido und Haftbefehl wendet die BPjM folglich einige ihrer (selbst ‚entwickelten‘ oder von Gerichten oder Wissenschaftlern übernommenen) allgemeinen Kategorien und Richtlinien an. Hier fällt das Urteil leicht: Gemäß der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts werden die CDs von Bushido und Haftbefehl umstandslos als Kunstwerke eingestuft – sie fielen „zweifelsohne nach allen aufgeführten Kunstbegriffen unter den Schutzbereich der Kunst“ (BPjM 2015a: 23 sowie BPjM 2015b: 32). Der zuvor aufgestellte Maßstab („unmittelbarster Ausdruck der individuellsten Persönlichkeit“), der von beiden CDs keineswegs erfüllt wird, spielt bei der Subsumierung offenkundig keine Rolle mehr.
Nach dieser Feststellung, dass es sich bei „Blockplatin“ und „Sonny Black“ um Kunstwerke handelt (denn es wird auf ihnen musiziert, gedichtet etc.), muss also die Abwägung vorgenommen werden. Die vom Bundesverfassungsgericht als Möglichkeit offerierten Vorgehensweisen zur „Gewichtung der Kunstfreiheit“ (BVerfGE 83, 130 [147]) werden von der BPjM dabei teilweise genutzt. Erstens werden Stimmen aus Journalismus und Wissenschaft dokumentiert, die Bewertungen des Kunstranges der jeweiligen Werke enthalten. Besonders im Falle Haftbefehls fallen diese Einschätzungen (zum Teil im überregionalen Feuilleton) sehr positiv aus (BPjM 2015b: 32ff.).
Zweitens stellt die BPjM eigene Überlegungen zum Kunst-Status an. Mit diesen setzt sie sich über die zuvor zitierten journalistischen Einschätzungen zum Teil einfach hinweg, so dass bei der Indizierungsentscheidung eine „Gewichtung der Kunstfreiheit“, die im hohen Bereich läge, nicht berücksichtigt werden muss – die BPjM stellt eben fest, dass diese ‚Höhe‘ nicht gegeben sei. Bei Haftbefehl werden die „zum Teil kreative[n] Wortspiele, die originelle Kombination verschiedener Sprachen“ und der „sog. Rap-Flow“ als Grund für die Einschätzung benannt, der „Kunstgehalt“ der CD sei „überdurchschnittlich“. Ein „hoher Kunstgehalt“ wird hingegen bestritten, dies verhindere „die klischeehafte Inszenierung der dargebotenen kriminellen, gewaltbereiten und sexistischen Figuren“ (ebd.: 35).
Bei ihrer Einschätzung der CD Bushidos äußert sich die BPjM ausführlicher zu ihren speziellen Kunstvorstellungen: „Hinsichtlich der Würdigung des Kunstgehaltes im Verhältnis zur Jugendgefährdung ist dem Gremium der Inszenierungscharakter des Werkes durchaus bewusst. Der Interpret sieht sein Werk offenbar als Teil der gegenwärtigen Unterhaltung und so wird es auch von vielen Medien aufgenommen und verarbeitet. Einen gesteigerten Kunstgehalt, der über diesen reinen Unterhaltungsaspekt hinausginge, vermag das Gremium nicht zu erkennen. Inhaltlich erschöpfen sich die Beschimpfungen in Gewaltandrohungen, homophoben Äußerungen, sexuellen Demütigungen, diskriminierenden Formulierungen und der Propagierung eines kriminellen Lebensstils. Inhaltliche Aussagen hingegen, die in irgendeiner Form als tiefgründig oder (gesellschafts-) kritisch angesehen werden könnten, sind nicht im Ansatz vorhanden. Eine künstlerisch-reflektierte Auseinandersetzung mit dem Leben im ‚Ghetto‘, den Lebenswirklichkeiten junger Menschen und der Auseinandersetzung mit Perspektiven findet nicht im Geringsten statt.“ (BPjM 2015a: 25).
Die BPjM verengt damit den „Kunstgehalt“ auf eine sowohl realistische als auch pädagogisch-politisch-reflektierte Ausrichtung. Somit werden die Spezifika von „Sonny Black“ innerhalb des Gangsta-Rap-Genres ignoriert, keinerlei Besonderheiten der sprachlichen Form berücksichtigt und Darstellungsweisen, die sich einer irrealen Perspektive und Rollensprache verdanken, de facto aus dem Bereich der ‚gesteigerten‘ Kunst ausgeschlossen. Zudem werden die (wenn auch nicht zentralen und zahlreichen, so doch innerhalb der Songtexte vorhandenen) Reflexionen zur medialen Stellung ‚Bushidos‘ sowie zur sozialen Frage konsequent übergangen.
Nicht klar wird, was die BPjM unter „reine[m] Unterhaltungsaspekt“ versteht. Im betreffenden Absatz ist zuvor vom „künstlerischen Stilmittel der Übertreibung und Verfremdung“ die Rede, das „Sonny Black“ auszeichne, ebenso der „Inszenierungscharakter des Werks“. Danach wird besagte ‚reine Unterhaltung‘ ohne „gesteigerten Kunstgehalt“ diagnostiziert (ebd.). Die Verbindung zwischen den Aussagen bleibt äußerst undeutlich. Wird der Einsatz der „künstlerischen Stilmittel der Übertreibung und Verfremdung“ mit ‚reiner Unterhaltung‘ gleichgesetzt? Abgesehen davon, dass die Differenzierung von „reine[m] Unterhaltungsaspekt“ und „gesteigerte[m] Kunstgehalt“ sich mit vielen zeitgenössischen Kunst-Bestimmungen nicht verträgt, wäre es unhaltbar, „Inszenierungscharakter“, „Übertreibung und Verfremdung“ von „gesteigerte[m] Kunstgehalt“ zu trennen. Sollte dies nicht die Absicht der BPjM gewesen sein, müsste der Begriff „reine[r] Unterhaltungsaspekt“ sowie sein Verhältnis zu „gesteigerte[m] Kunstgehalt“ besser bzw. überhaupt einmal expliziert werden.
Sehr klar ist hingegen die Auffassung der BPjM, einen „gesteigerten Kunstgehalt“ in inhaltlicher Hinsicht an Aussagen zu binden, die „in irgendeiner Form als tiefgründig oder (gesellschafts-) kritisch angesehen werden können“ (ebd.). Wiederum abgesehen davon, dass dies im Falle von „Sonny Black“ sehr wohl möglich ist, führt die sehr weitgehende Bindung eines „gesteigerten Kunstgehalt[s]“ an ‚Tiefgründigkeit‘ ins 19. Jahrhundert zurück und zeigt, dass die BPjM von wichtigen Strömungen der modernen Kunst (vom Dadaismus bis zur Pop-Art), deren Vertreter sehr oft aufs äußerste bemüht sind, Prätentionen der Tiefe und eine symbolische Aufladung des Kunstwerks zu verhindern, keine Kenntnis besitzt oder diese willentlich ignoriert. Das Verlangen nach ‚Tiefgründigkeit‘ ist als Privatmeinung oder als Haltung eines Rezensenten selbstverständlich legitim, bei einer Behörde, die verfassungsgerichtlich aufgerufen ist, einen weiten, zeitgemäßen Kunstbegriff anzulegen, jedoch deplatziert.
2.c) Kunstkonzept. Die Feststellung des künstlerischen Konzepts fällt entsprechend einseitig aus. Zu „Blockplatin“ führt die BPjM aus: „Auf textlicher Ebene beschränkt sich das künstlerische Konzept im Wesentlichen auf die klischeehafte Inszenierung der dargebotenen kriminellen, gewaltbereiten und sexistischen Figuren, die sowohl in der Rap-Szene als auch im ‚Ghetto-Lifestyle‘ wie in der kriminellen Szene tonangebend sind.“ (BPjM 2015b: 35)
Wieso nicht die (heutzutage in vielen Bereichen der Kunst sowie in den Kulturwissenschaften als enorm wichtige angesehene) stilistisch-sprachliche Hybridisierung und Kreolisierung, die „Blockplatin“ kennzeichnet, mindestens gleichfalls als ‚künstlerisches Konzept‘ eingestuft wird, bleibt vollkommen unerfindlich. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Zusammenhang der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz festgestellt: „Für die Gewichtung der Kunstfreiheit kann von Bedeutung sein, in welchem Maße gefährdende Schilderungen in ein künstlerisches Konzept eingebunden sind.“ (BVerfGE 83, 130 [147]) Das Bundesverfassungsgericht hatte also (selbstverständlich) nicht davon gesprochen, nur bei der Figurendarstellung sei ein ‚künstlerischen Konzept‘ zu ermitteln.
Bei „Sonny Black“ werden ähnliche Möglichkeiten, die Kombination verschiedener Sprachfelder – Umgangssprache, Boulevardzeitungsprache und -zitate, Gangsta-Rap-Schlagworte und -Metaphern, Verbalinjurien, eigenwillige Vergleiche und Komposita, autoritäre Anweisungen, Anglizismen – als ‚künstlerisches Konzept‘ auszugeben, nicht genutzt, obwohl dieses popliterarische Konzept leicht ersichtlich ist: In den Stücken der CD wird nichts naturalistisch ausgemalt, es gibt keine Szenen, die sich entfalten und durch ihren Aufbau und ihre Vermittlung um Plausibilität nachsuchen bzw. diese suggerieren, hier bleibt es bei der raschen Abfolge von Markennamen, ‚dirty speech‘, Binnenreimen, Lautmalereien, Phrasen, Alliterationen, Signalworten.
Dass dies die ‚Jugendgefährdung‘ nicht ausschließt, steht auf einem anderen Blatt. Eine Indizierung wäre nach Maßgabe des Jugendschutzgesetzes und der gängigen Rechtsprechung sicherlich auch bei der Anerkennung eines solchen Konzepts möglich. Auch ein Kunstwerk mit großem ‚konzeptuellen Gewicht‘ kann rechtmäßig auf den Index gesetzt werden. Um die geforderte Abwägung seriös durchzuführen, ist aber eine Kenntnis zeitgenössischer Kunst und der Wertungspraxis künstlerischer und feuilletonistischer Kreise nötig.
In einer jüngsten Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Münster (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen) ist genau dies wieder betont worden: Zum einen seien die ‚Werkschöpfer‘ von der BPjM anzuhören, die BPjM müsse es also auf sich nehmen, die unterschiedlichen Texter, Komponisten etc. anzuschreiben und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (Urt. v. 16.05.2018: eine kurze Zusammenfassung der Urteilsbegründung hier [Link erloschen]); da die BPjM das unterlassen hatte, war mit diesem Argument bereits die Indizierung von „Stress ohne Grund“ vom Oberverwaltungsgericht in Münster aufgehoben worden (Beschl. v. 03.06.2015). Zum anderen seien auch die Rezensionen in Hip-Hop-Fachpublikationen wie z.B. „Juice“ heranzuziehen, wenn es um die Frage nach dem künstlerischen Stellenwert des jeweiligen Werkes gehe; da dies wiederum versäumt worden sei, wird die Indizierung von „Sonny Black“ aufgehoben (OVG NRW, Urt. v. 16.05.2018).
Schluss
Die BPjM hat eine anspruchsvolle Aufgabe zu erfüllen. Sie muss nicht nur (was recht einfach anzustellen ist) Spekulationen über jugendgefährdende Wirkungen medialer Werke äußern, sondern auch den Kunststatus dieser Werke bestimmen. Nicht genug, ist ihr vom Bundesverfassungsgericht zudem aufgetragen, bei der Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz in ihre Überlegungen einzubeziehen, in welchem Maße die strittigen Partien „künstlerisch gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind“ (BVerfGE 83, 130 [147]). Dass es schwierig ist, all diese Aufgaben zufriedenstellend zu erfüllen, liegt auf der Hand.
Leichter wird diese Aufgabe jedoch dadurch, dass im Sinne der Kunstfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht vorgegeben ist, die zeitgenössische, plurale Sphäre der Kunst gerade nicht zu beschneiden, sondern zum Ausgangs- wie Zielpunkt der Einschätzungen zur Kunst zu machen. Hier kommt es also nicht darauf an, eine ganz bestimmte Kunstdoktrin in den Mittelpunkt zu stellen, sondern zu erkennen und anzuerkennen, dass heutzutage unterschiedliche künstlerische Verfahren von teils unterschiedlichen Akteuren des Feuilletons, der Museen, der Akademien etc. eine große Wertschätzung erfahren und als Konzepte begriffen werden (zu schweigen, wie es wäre, wenn auch noch die Einschätzungen nicht institutionalisierter Kunstbetrachter und -teilnehmer Geltung zugesprochen bekämen).
Es ist also überhaupt kein Problem, wenn z.B. innerhalb verschiedener renommierter Feuilletons und Akademien unterschiedliche, evtl. sogar gegensätzliche Auffassungen festzustellen sind. Es reicht ja schon im Sinne einer pluralen Kunstauffassung, wenn man erkennt, dass offensichtlich in solchen Institutionen genau diese eine oder andere (aber nicht diese weitere) Kunstauffassung verfochten und hochgehalten wird – beide (und evtl. auch noch eine dritte und vierte, aber eben nicht beliebig viele) zählen dann zu den durchgesetzten, anerkannten Konzepten von einigem Wert, deren Kunstfreiheit hoch zu veranschlagen ist.
Dadurch, dass die BPjM sich mitunter darüber hinwegsetzt – indem sie z.B. entsprechende feuilletonistische Einschätzungen verwirft – und meint, zu eigenen, besonderen Auffassungen „gesteigerten Kunstgehalts“ kommen zu müssen, macht sie sich ihre Aufgabe aber wieder selbst unnötig schwer
Dieser schweren Aufgabe ist sie gegenwärtig offenkundig nicht gewachsen, wie man an ihren Ausführungen zum Kunststatus der beiden CDs erkennen kann. Über eine breite Kenntnis heutiger, in Kunst-Institutionen teilweise durchgesetzter ästhetischer Wertungsgründe und künstlerischer Konzepte verfügt sie nicht. Das wäre aber, folgt man dem Bundesverfassungsgericht, die Voraussetzung, über die Kunstfreiheit zu befinden. – Vielleicht sollte noch hinzugefügt werden, obwohl es sich um eine Selbstverständlichkeit handelt: Die Richtigkeit oder zumindest Angemessenheit der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts kann natürlich bezweifelt werden, sofern man über begründete divergierende Auffassungen zu Fragen der Kunst und ihrer Freiheit verfügt. Solche Auffassungen wären dann bei Diskussionen über Gesetze und/oder vor Gerichten geltend zu machen.
Literatur
BPjM (2015a): Entscheidung Nr. 6055 vom 09.04.2015 bekannt gemacht im Bundesanzeiger AT vom 30.04.2015 [zur CD „Sonny Black“], Bonn (Ms.).
BPjM (2015b): Entscheidung Nr. 6084 vom 01.10.2015 bekannt gemacht im Bundesanzeiger AT vom 30.10.2015 [zur CD „Blockplatin“], Bonn (Ms.).
Hecken, Thomas (1997): Gestalten des Eros. Die schöne Literatur und der sexuelle Akt, Opladen.
Pöge, Andreas (2011): Musiktypologien und Delinquenz im Jugendalter. In: Soziale Welt, Jg, 62, S. 279-304.
Weite Teile dieses Beitrags gehen zurück auf meinen Aufsatz „Die Kunstfreiheit im Falle Bushidos und Haftbefehls. Zu jüngsten Indizierungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“, in: Martin Seeliger/Marc Dietrich (Hg.): Deutscher Gangsta-Rap II. Popkultur als Kampf um Anerkennung und Integration, Bielefeld 2017, transcript Verlag, S. 155-172.