Dividuum statt Individuum
Der griechische Anti-Held Narziss war stets über alle Avancen erhoben, bis er sich schließlich in sein Spiegelbild verliebte.[1] Sich nicht mehr von diesem lösen könnend, fand er erst Wahnsinn, dann Tod. Auf Ovids Erzählung gründet der Befund des „Narzissmus“, der als Krankheitsbild seit rund hundert Jahren existiert .[2]
In seiner popularisierten Form dient der Narzissmus als Instrument der Ferndiagnose, mit dem sich die Gesellschaft als Ganzes, einzelne Gruppen oder Personen vermeintlich abschließend charakterisieren lassen.[3] Just im Jahr 2013, als das „Selfie“ vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres gekürt wurde, entzündete sich eine Narzissmusdebatte um die zugehörige „Generation Me“.[4] Hierzu soll mit dem vorliegenden Text ein Gegenmodell entwickelt werden.
Neben einer Abhandlung über die Unwägbarkeiten der Liebe enthält Ovids Erzählung auch Elemente einer Medientheorie. Darin thematisiert der Autor die Faszination am eigenen Bild. Der Wunsch, dieses zu fixieren, kostet seinem Helden das Leben. Als bildgebendes Verfahren erzeugt die Wasseroberfläche protokinematografisch ein Abbild, kann dieses aber nicht aufzeichnen.[5]
Ähnlich reproduktiv, aber ebenso ohne Speicherkapazität funktioniert Echo, die Ovid dem Narziss als akustisches Pendant zur Seite gestellt hat. Auch die schöne Nymphe, dazu verdammt, Ausgesprochenes nur wiederholen zu können, gehört zur Schar der von ihm Verschmähten. Aus Gram über die Zurückweisung des Selbstverliebten versteinert sie und bleibt als reiner Schall zurück. Auf tragische Weise müssen wir miterleben, wie der Kommunikationsversuch zwischen den beiden scheitert.
Als Medienensemble gelesen, wird der Text zu einer Reflexion über die (Un)Möglichkeit audiovisueller Reproduktion. Aufgrund der jeweiligen Unzulänglichkeit der natürlichen „Medien“, die auf optische und akustische Reflexion beschränkt bleiben, nehmen die beiden Schicksale ihren unglücklichen Verlauf. Durch sie sind die beiden Akteure unmittelbar an ihre Gegenwart gekoppelt. Um ihn aufzurütteln, wendet sich der römische Dichter daher direkt an seinen Helden:
„Leichtgläubiger! Was greifst du vergeblich nach dem flüchtigen Bild! Was du erstrebst, ist nirgends; was du liebst, wirst du verlieren, sobald du dich abwendest. Was du siehst, ist nur Schatten, nur Spiegelbild. Es hat kein eigenes Wesen: mit dir kam es, mit dir bleibt es, mit dir wird es fortgehen – wenn du nur fortgehen könntest!“[6]
Stellen wir uns vor, wie glimpflich die Geschichte ausgegangen wäre, hätte Narziss ein Selfie von sich anfertigen können. Oder anders formuliert: Der Text offenbart eine Chance, die in den sonst gerne so stigmatisierten Aufzeichnungssystemen liegt. Dass das Selfie nun ausgerechnet zum Symptom des Narzissmus werden konnte, erscheint aus dieser Perspektive besehen schon fast zynisch. Ein Blick in die Kulturgeschichte verdeutlicht, wie es zu dieser Zuschreibung kam.
Moralisch relevant wird der Spiegel im Mittelalter. Als Attribut der Superbia kennzeichnet er die erste unter den Todsünden. In einem Gemälde von Hieronymus Bosch, das die kardinalen Laster in Figurenszenen thematisiert, ist der Hoffart eine exponierte Rolle eingeräumt (Abb. 1). Zentral als Rückenfigur bei der Anprobe ist sie in einer zeitgenössischen Wohnstube platziert. Hinter dem massiven Möbelstück fährt eine asthenische Ungeheuerlichkeit hervor, die ihr den Spiegel vorhält. In diesem erkennen wir das Profil der Dame, deren aufwändig hohlsaumverzierte Haube auf boshafte Weise von der Kopfbedeckung der Kreatur dupliziert wird.[7] In stark komprimierter und konzentrierter Form wird das Alltagsutensil somit zum Teufelswerkzeug umkodiert.
Die Charakterisierung des ovidschen Narziss als hochmütig erlaubte den Kurzschluss des antiken Stoffes mit der Superbia. Zunehmend popularisiert wurde das Motiv in Text und Bild vor allem ab dem 13. Jahrhundert: Die einschlägige Ikonografie zeigt den Narziss entweder an einem Brunnen oder – textgetreuer – an einer Quelle im Wald allein oder in Begleitung der Echo (Abb. 2).[8]
Während der Renaissance wurden Spiegelungen nicht nur in der Malerei selbst, sondern auch in der Kunsttheorie ein Thema. So erkennt Leon Battista Alberti im Narziss den Erfinder der Malkunst.[9] Während des Malprozesses dient der mechanische Spiegel zudem als praktisches Hilfsmittel. Ihm kommt die Rolle des „unbestechlichen Richters“[10] (Alberti) oder des „Lehrmeisters“ (Leonardo) zu.[11] Auf Konkurrenz mit der Wirklichkeit verpflichtet, gelingt es der Malerei, die Illusion zu erzeugen, sie könne das flüchtige Simulacrum endgültig fixieren. Wie Hans Belting für die altniederländische Malerei gezeigt hat, erweitern gemalte Spiegel den Bildraum und setzen Körper oder Objekte in verschiedenen Ansichten ins Bild.[12] Spiegelnde Oberflächen führen nicht nur die malerische Virtuosität vor Augen, sondern dienen als zusätzliche Reflexionsebene des Dargestellten.
Während vor allem die neuzeitliche Konzeption des Narziss neben der moralisierenden Belehrung auch eine positive Komponente, nämlich die Chance auf Selbsterkenntnis enthält, ist die pathologisierte Version des Mythos ein Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts. Zunächst in Bezug auf autoerotische Praktiken verwendet, knüpft der Topos in seiner biopolitischen Dimension an tief in der abendländischen Kultur verankerte Moralvorstellungen an.
Im Narzissmus-Vorwurf schwingt, wie André Gunthert bemerkt hat,[13] eine frauenfeindliche Komponente mit. Bereits die Queerness der mythologischen Figur entzieht sich eindeutigen Geschlechterrollen. In diesem Sinne wird insbesondere auch die Selfie-Praxis vorwiegend als weibliches Phänomen aufgefasst. Ihre emanzipatorische Kraft, als Ausstieg aus klassischen Subjekt-Objekt-Konstellationen der Malerei und Fotografie, wird damit entwertet.[14]
Beobachtet man Bildpraktiken in den sozialen Medien, so ist das Selfie hier zunächst nur eines unter vielen Internet-Phänomenen. Dennoch, denke ich ist es zentral: Durch die Frontkamera und das Display wird das eigene Spiegelbild fixierbar, die klassische Trennung von Fotograf_in und Modell wird somit aufgehoben. Das Trugbild verfestigt sich also zum Bild. Als Beglaubigung einer erlebten Situation wird es Teil von Kommunikationsakten – mit potenziell globaler Reichweite.
Die junge Frau in rotem Kleid, die ich im Chinesischen Nationalmuseum in Peking dabei fotografiert habe, wie sie ein Selfie von sich macht, illustriert die Internationalität dieses Phänomens (Abb. 3). Dieses #Artselfie entsteht vor einem Superlativ, dem größten chinesischen Gemälde, das 4,8 x 17 Meter misst. Es handelt sich um ein zeitgenössisches Historienbild von Tang Yongli, das den Gründungsakt der chinesischen Republik porträtiert. Seit 2015 ist es Teil der permanenten Ausstellung in Halle 1, die offizieller Propagandakunst vorbehalten ist, hier gelabelt als „traditionelle chinesische Malerei“. Zentrale Figur ist Mao Zedong, mit dem die Chinesin hier posiert. In unzähligen Abbildungen präsent, wird die politische Ikone – wie auf vielen anderen chinesischen Selfies auch – so mit ins Bild geholt.
Im Vergleich mit Thomas Struths Museumsbildern wird klar, dass wir es mit einem grundsätzlich anderen Dispositiv zu tun haben:[15] Überwiegen auf seinen Fotografien Rückenfiguren, dreht das Selfie-Subjekt dem Werk den Rücken zu, um sich selbst mit ins Bild zu setzen. Wenn Struth die anderen fotografiert, fotografiert sich das Selfie-Subjekt selbst.
Besonders vor dem Hintergrund von Instagram-Ästhetiken betrachtet, fällt auf, wie oft der Fotograf die Menschenmengen im Museum von einem erhöhten Standpunkt aus abgelichtet hat. Auf der Plattform hat sich längst ein eigenes Genre um die Museumsbesucher_innen herum ausgebildet. Dabei dominiert neben der Normalperspektive eher eine reduzierte Ästhetik, die gekennzeichnet ist durch einen bildparallelen Aufbau, Symmetrie, den Fokus auf einzelne Besucher_innen oder kleine Gruppen vor einem Werk. Auch hier wird geduldig abgewartet, bis eine fotogene Situation entsteht, aus der sich eine besondere Harmonie oder ein spezieller Kontrast zum Werk ergibt, die schlussendlich den Reiz des Fotos ausmacht.
Interessant wäre nun die Frage, ob Struth, der bereits 1989 mit seinem Werkzyklus begann, dies alles antizipiert hat. Ausschlaggebend für die Etablierung dieses Massenphänomens sind neben Struths künstlerischer Vorleistung aber auch andere Mechanismen, wie die wachsende Bereitschaft der Museen, das Fotografieren zu erlauben, das passende Equipment in Form von Smartphones in sowie das Vorhandensein entsprechender Sharing-Plattformen.
Vor rund drei Jahren fotografierte etwa Anika Meier in Pariser Museen #artwatchers im Rahmen eines von Instagram lancierten Weekend-Hashtag-Projekts.[16] Die zugehörige Arbeitsanweisung lautete:
„Head to a museum or sculpture park if you have one nearby, but don’t be afraid to explore unconventional art like neighborhood murals and statues.
Look for interesting colors and patterns, both in the art and in the clothing of the people in your shot.
Think about the way your art watchers move and pause—groups assembling, viewers sketching, or solitary people contemplating a piece.“[17]
Derartige Diffusionsmechanismen sind ungefähr so alt wie die Fotografie selbst. Stets wurde durch einschlägige Periodika technisches und ästhetisches Wissen an Amateure vermittelt. Die Dimension, in der uns diese digitale Bildproduktion sichtbar und konsumierbar entgegentritt, ist allerdings neu im Digitalen. Abseits instruktiver Eingriffe durch Moderator_innen, erleben wir, gestalterische Normen betreffend, Stabilisierungsphänomene in den sozialen Netzwerken. Es lässt sich beobachten und nachweisen, dass die Communities Konventionen etablieren: Kürzlich widmete sich eine Studie Restaurantkritiken, die auf dem französischen Online-Portal LaFourchette veröffentlicht werden.[18] Wie die Autoren zeigen konnten, sind es keineswegs die egozentrischen Selbstdarsteller_innen, die das Netzwerk dominieren, vielmehr wirkt hier eine moderat agierende Masse konventionsbestimmend.
Wie nun umgehen mit diesen Mechanismen? Die Analyse erfordert meines Erachtens ein neues Vokabular, das dazu in der Lage ist, das Spannungsverhältnis von Originalität und Nachahmung innerhalb dieser Produktionskaskaden zu fassen. Um sich einem Genre als zugehörig zu erweisen, müssen sich Texte wie Bilder Konventionen unterordnen. Gleichzeitig bilden sich durch Neuerungen, welche durch die Akteur_innen wiederum selbst eingebracht werden, Subgenres und neue Genres aus, die dadurch erfolgreich werden, dass sie eine kritische Masse erreichen und als solche wahrnehmbar und vorbildhaft werden.
Produktiv lässt sich an dieser Stelle das Konzept des Dividuellen einführen.[19] Gewissermaßen als Antipode zum übersteigerten Individualismus entfaltet sich das Dividuum innerhalb der Schnittstellen in den Datenströmen.[20] Aus den segmentierten Individuen formen sich Dividuen als durch Daten charakterisierbare Einheiten, die wiederum im Verhältnis zu einer Masse anderer Datenmengen stehen. Bespielt etwa eine Person oder Institution unterschiedliche Plattformen, so wird sie dort in jeweils modifizierter Form in Erscheinung treten, auf Instagram etwa primär durch Bilder, auf Twitter in erster Linie durch Text. Innerhalb der Plattformen empfängt das Dividuum algorithmisch auf die eigenen Interessen zugeschnittene Informationen, die es wiederum konsumiert und/oder verteilt. Sichtbar wird es durch Teilhabe, indem es Inhalte kuratiert und selbst produziert.
Während die Narzissmusdebatte – auf das Selfie gemünzt – den Blick für andere Netzphänomene, wie Meme, verstellt, eröffnet das Konzept des Dividuellen die Möglichkeit, die aktuelle Vielfalt von permanenter Varianz zu begreifen. Dividuelle Autorschaft bedeutet kollektive Teilhabe an der Produktion von Inhalten verschiedenster Art. Ihren Sinn entfaltet sie erst im medialen Echoraum innerhalb der digitalen Öffentlichkeit. Auch Narziss und Echo lassen sich als dividuell konzipierte Erscheinungsformen lesen. Als einzelne Segmente operieren sie mit einem Fokus auf der Sprache bzw. dem Bild. Ihr Scheitern führt uns letztlich auch die Möglichkeiten vor Augen, die audiovisuelle Kommunikationsformen bereithalten.
Anmerkungen
[1] Ovid, Metamorphosen, Stuttgart 2010, V. 339 ff.
[2] Siehe: Sylvia Zwettler-Otte, Narzissmus im Spiegel antiker Mythologie, in: Ausst.-Kat. Galerie im Taxispalayis, Innsbruck, Der Spiegel des Narziss. Vom mythologischen Halbgott zum Massenphänomen, Köln 2012, S. 36–50.
[3] So etwa: Christopher Lasch, The Culture of Narcissism, New York 1979.
[4] Joel Stein, The Me Me Me Generation, in: TIME, Mai 2013, http://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,2143001,00.html.
[5] Eine Re-Lektüre mit Fokus auf den Spiegel als Medium bei: Thomas Macho, Narziß und der Spiegel. Selbstrepräsentation in der Geschichte der Optik, in: Almut-Barbara Renger (Hrsg.): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace, Stuttgart/Weimar 2002, S. 13–25
[6] Ovid, Metamorphosen, V. 432–437.
[7] Gundula Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel. Modekritik in Wort und Bild 1150–1620, Marburg 2002, S. 61 ff. Hinweis von Sabine de Günther.
[8] Beispiele bei: Johann Reidemeister, Superbia und Narziß. Personifikation und Allegorie in Miniaturen mittelalterlicher Handschriften, 2006 Tournhols.
[9] Hier heißt es u. a.: „Würdest du vom Malen sagen, es sei etwas anderes als ein ähnliches Umarmen jener Wasserfläche durch Kunst?“, siehe: Leon Battista Alberti, Della Pittura. Über die Malkunst, hrsg. von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, S. 102.
[10] Ebd., S.143.
[11] Zit. n.: Hans Belting, Die Erfindung des Gemäldes, in: ders., Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrundert der niederländischen Malerei, München, 1994, S. 76.
[12] Siehe: Ebd., bes. S. 74 –79.
[13] André Gunthert, The consecration of the selfie. A cultural history, in: études photographiques, Nr. 32, 2015, https://etudesphotographiques.revues.org/3537?lang=fr.
[14] Anika Meier, Selfies Can Be Feminist – In Conversation With Charlotte Jansen, in: widewalls, 2017, http://www.widewalls.ch/charlotte-jansen-interview/.
[15] Thomas Struth, Museum Photographs, 2. Aufl., München 2005.
[16] Anika Meier, #artwatchers oder Museumsbilder aus Paris, in: artefakt. Blog für Kunst und Kritik, 5.2.2014, http://www.artefakt-sz.net/portraet/artwatchers-oder-museumsbilder-aus-paris-3 [Website erloschen].
[17] Quelle: http://blog.instagram.com/post/59133009487/whp-85 [Link erloschen].
[18] Jean-Samuel Beuscart und Kevin Mellet, Die Online-Stimmen von Verbrauchern in Form bringen. Algorithmischer Apparat oder Bewertungskultur?, in: Jonathan Roberge und Robert Seyfert, Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit, Bielefeld 2017, S. 107–130.
[19] Hierzu ausführlicher: Maria Männig, Instagram als Hyperimage, in: Sabine Bartelsheim (Hg.), Hyperimages in zeitgenössischer Kunst und Gestaltung 2, kunsttexte.de, Sektion Kunst, Design, Alltag, Nr. 1, 2017, http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2017-1/maennig-maria-3/PDF/maennig.pdf.
[20] Gerald Raunig, Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Wien 2015.
Maria Männig ist Dozentin für Kunstgeschichte an der Merz Akademie in Stuttgart.