Mehr als eine Frage der Perspektive
Mit German Pop Music (Schütte 2017) und Perspectives on German Popular Music (Ahlers/Jacke 2017) liegen gleich zwei aktuelle englischsprachige Publikationen vor, die sich deutschem Pop beziehungsweise deutscher populärer Musik widmen. Die in den jeweiligen Titeln verwendeten Begriffe mögen auf den ersten Blick als Synonyme erscheinen, und werden oft auch in diesem Sinne verwendet.
Allerdings versteht Herausgeber Uwe Schütte in Anlehnung an den Pop- und Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen (2014) Popmusik als ein ursprünglich vor allem subkulturell oder sogar dezidiert gegenkulturell verortetes Phänomen, das neben der Musik auf verschiedenen anderen Ebenen wie etwa der Performance oder dem Styling der Akteure für die jeweiligen Rezipienten lesbar und bedeutsam wird und sich im Gegensatz zur rein kommerziell ausgerichteten populären Musik durch Nonkonformismus, Dissidenz und politisch tendenziell politisch linke Verortung der Akteure auszeichnet (Schütte 2017: 5f.).
Während sich die in German Pop Music versammelten Beiträge dementsprechend nur am Rande mit allzu offensichtlich marktorientierter Musik beschäftigen und die chronologische Entwicklung der deutschen Popmusik vor dem Hintergrund sonstiger geschichtlicher, sozialer und kultureller Rahmenbedingungen nachzeichnen, wurden in dem thematisch geordneten Perspectives on German Popular Music bewusst auch Artikel zu Acts wie etwa den Scorpions oder Modern Talking in einem Kapitel aufgenommen, das sich dem ’Mainstream’ widmet.
Der weitere Vergleich beider Publikationen erfolgt in zwei Teilen (hier Teil 2) und geht einher mit Reflexionen zur historiographischen Darstellung und vor allem damit verbundenen Interpretationen populärer Musik aus Deutschland.
Die verschiedenen Perspektiven der besprochenen Analysen resultieren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugängen, den jeweiligen ideologischen Verortungen und Vorannahmen der Beteiligten und vielleicht teilweise wohl auch aus ihrer jeweiligen Herkunft. Denn interessanterweise beschäftigen sich in German Pop Music überwiegend britische oder in Großbritannien ansässige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit populärer Musik aus Deutschland, während Ahlers und Jacke im Sammelband Perspectives on German Popular Music deutsche Binnenperspektiven ins Englische übersetzen ließen und damit der anglo-amerikanischen und internationalen Forschung besser zugänglich machen sollen (Ahlers/Jacke 2017: 3).
Schüttes Publikation erschien im Rahmen der Serie Companions To Contemporary German Culture und richtet sich damit wohl vorwiegend an eine universitär basierte Leserschaft unterschiedlicher kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Mit dem Buch soll englischsprachigen Lesern die, nach Schüttes Meinung bisher nur unzureichend wahrgenommene, Popmusik aus Deutschland, in kompakter Form näher gebracht werden und damit ein vertieftes Verständnis deutscher Kultur ermöglicht werden (Schütte 2017a: 3f.).[1]
Darüber hinausgehend wird die German Pop Music insgesamt zugrunde liegende, theoretische Konzeption abschließend mittels eines Gespräches zwischen dem Wiener Kulturtheoretiker und Journalisten Heinrich Deisl und Diedrich Diederichsen näher umrissen (Deisl 2017). Während dieser Ansatz interessierten deutschen Leserinnen und Lesern durch Über Pop-Musik (Diederichsen 2014) bekannt sein dürfte, sind die in German Pop Music überwiegend versammelten Außenperspektiven auf Musik aus Deutschland sicherlich auch höchst interessant für hierzulande stattfindende musik- und kulturwissenschaftliche Diskurse (vgl. Jacke/ Ahlers 2017: 4) und werden nachfolgend vor diesem Hintergrund besprochen.
Deutsche Popmusik oder populäre Musik in Deutschland?
Zunächst erscheint es lohnenswert, darüber nachzudenken, welche Popmusik im oben genannten Sinn denn mit dem Begriff ‚German Pop‘, bzw. ‚deutsche Popmusik‘ eigentlich bezeichnet werden kann oder soll. Uwe Schütte gibt Platzgründe dafür an, dass er sich als Herausgeber im Rahmen seiner Publikation diesbezüglich auf Musik mit Texten in deutscher Sprache beschränkt (Schütte 2017a: 7). Dies macht jedoch vielleicht auch im Hinblick auf eine vorwiegend englischsprachige Leserschaft Sinn, für die sich gerade deutsche Songtexte vermutlich überwiegend schwieriger erschließen lassen.
Allerdings lässt sich diese Begrenzung nur bedingt durchhalten, da in den Genres Krautrock und Techno, denen jeweils ein Kapitel in German Pop Music gewidmet ist (Littlejohn 2017, Monroe 2017), relativ häufig auch instrumentale Stücke, englischsprachige Titel, Texte oder Textrudimente und Künstlernamen zu finden sind. Im Artikel Rap in Germany – Multicultural Narratives of the Berlin Republic (Munderloh 2017) wird darüber hinaus die eigentlich auf den gesamten Bereich deutscher Populärmusik auszuweitende Frage aufgeworfen, ob die verwendete Sprache, die deutsche Herkunft oder der gegenwärtige Aufenthaltsort der Protagonisten deutschen Rap als solchen qualifiziert (Munderloh 2017: 195).
Gerade am Hip-Hop lässt sich die Problematik des Labels ‚deutsch‘ im Hinblick auf jedwede Form populärer Musik ablesen, da er sich durch seine Entstehungsgeschichte offensichtlich bestens als Identifikationsfolie für Heranwachsende mit Migrationshintergrund eignet, aber ebenso für politisch dissidente und multikulturalistisch inspirierte Distinktionspraktiken Deutschstämmiger mittelständischer Herkunft (Munderloh 2017: 193ff.).[2] Interessanterweise wiederholt sich denn auch in diesem Genre die Geschichte anderer, jugendkulturell relevanter Stile in der populären Musik Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dementsprechend wurde im Hip-Hop zunächst überwiegend der mehr oder weniger erfolgreiche Versuch unternommen, die diesbezüglich angesagten Originale aus den USA zu imitieren und erst nachfolgend die deutsche Sprache integriert. Die Rhythmik und sonstige Musik basiert allerdings auch im dann entstandenen Deutsch-Rap weiterhin weitgehend auf afro-amerikanischen Mustern; ein zitierter Interviewausschnitt mit Sammy Deluxe aus dem Jahr 2012 verweist auf eine hierzulande diesbezüglich lange und vermutlich noch immer fehlende musikalische Tradition, die dann vielleicht auch samplewürdig wäre (Sammy Deluxe in Munderloh 2017: 195).
Insofern ließe sich am Beispiel von Hip-Hop der dominierende angloamerikanische Einfluss auf die populäre Musik Westdeutschlands nach 1945 auch als eine Form musikalischer Entwicklungshilfe verstehen (vgl. Schneider 2015: 24ff.) und nicht etwa als Kulturimperialismus (Littlejohn 2017: 67f.) oder gar als eine Form von Gewaltausübung der ‚Besatzungsmächte‘ (Shahan 2017: 117f.).[3] Abgesehen davon, dass der Beitrag anglo-amerikanischer Musik bei der kulturellen Entnazifizierung wahrzunehmen und zu würdigen ist (Schneider 2015: 18 ff., Schütte 2017a: 9), boten bis weit in die 1970er-Jahre neben Radio Luxemburg fast ausschließlich die Soldatensender BFBS und AFN Gelegenheit, wirklich neue populäre Musik im Radio in Deutschland hören zu können.[4]
Erst das Bestreben, sich politisch gegen die Verhältnisse der Bundesrepublik zu artikulieren und dabei möglichst viele Zuhörer zu erreichen, führte ab den 1960er-Jahren überhaupt zur verstärkten Verwendung der deutschen Sprache jenseits des Schlagers. Dies zeigt David Robb in seinem Artikel The Protest Song of the Late 1960s and Early 1970s (Robb 2017) zunächst an Liedermachern wie etwa Franz Josef Degenhard auf, schlägt dann aber, trotz benannter musikalischer und ideologischer Unterschiede, eine äußerst plausibel erscheinende Brücke zu der Agit-Rock-Band Ton Steine Scherben.
Während hier die Fokussierung auf die textliche Botschaft eine gemeinsame Idee der Nutzung des Mediums Musik als Träger politischer Botschaften sichtbar werden lässt, erscheint sie hinsichtlich der Analyse der Erfolge von „Ein Jahr (Es geht voran)“ (Fehlfarben, 1982) und „Wir steigern das Bruttosozialprodukt“ (Geier Sturzflug, 1982) in Christian Jägers Artikel Ripples on a Bath of Steel. The Two Stages of Neue Deutsche Welle (NDW) als problematisch. Die Popularität dieser beiden NDW-Hits werden von Jäger lediglich auf Missverständnisse der jeweiligen ironisierenden Refrainzeilen zurückgeführt (Jäger 2017: 152).
Damit blendet er zunächst etwaig relevante musikalische Aspekte völlig aus, wie beispielsweise die eingängige Melodie und der ebensolche Rock’n’Roll-Rhythmus, den Geier Sturzflug verwendeten, oder das äußerst prägnante Funkgitarrenriff, die Handclaps und die seinerzeit angesagten Akzente eines elektronischen Drum-Pads sowie den potentiellen Appell zur aktiven Partizipation der Zuhörer durch das geschriene „Es geht voran!“ des Fehlfarbensongs. Auch wenn letzteres zur verkürzten Rezeption des Textes beigetragen haben könnte, beinhaltet es als solches schon Hitpotential. Bezüglich der hier lediglich skizzierten musikalischen Beobachtungen ergeben sich weitere Fragen nach den Umständen der Produktion beider Stücke und eventueller, ebenfalls für die Erfolge wichtiger Marketingstrategien der jeweils beteiligten Plattenlabels Ariola und Weltrekord, einer Tochter der EMI. Denn bekanntlich wird nicht nur Geschichte gemacht, sondern auch der eine oder andere Hit im Verlauf der Geschichte der populären Musik, und dies gilt wohl auch im Hinblick auf die beiden genannten Stücke.[5]
Alexei Monroe erläutert in seinem Artikel Sender Deutschland- The Development and Reception of Techno in Germany äußerst kenntnisreich die unterschiedlichen lokalen Technoszenen Deutschlands vor allem anhand dort ansässiger Plattenfirmen im subkulturellen Bereich. Dabei weist er auf die internationale Bedeutung des Labels ‚deutsch‘ für innovative Veröffentlichungen hin, welche die Kategorien ‚Kälte‘, ‚Präzision‘ und ‚Härte‘ erfüllen (Monroe 2017: 172). Dementsprechend werden von Connaisseuren auch bestimmte Varianten des weitgehend instrumentalen Genres Techno als ‚deutsch‘ wahrgenommen, wobei zugegeben wird, dass sich das ‚Deutsche‘ daran strikt musikwissenschaftlich nicht verifizieren ließe (Monroe 2017: 187).
Während sich dieses Phänomen durchaus mit der Kenntnis typischer Sounds von deutschen Labels und ‚deutsch‘ konnotierten musikalischen Stilmitteln erklären ließe, geht Alexander Carpenter in seinem Artikel Einstürzende Neubauten to Rammstein, Mapping the Industrial Continuum in German Pop Music noch weiter, indem er dem gesamten Genre Industrial eine ‚Germanness‘ attestiert. Diese soll, neben einer, Musikern und Fans organisch erscheinenden Verbindung zu deutscher Kultur und Geschichte, angeblich auch in den Spezifika der deutschen Sprache begründet sein (Carpenter 2017: 157f., vgl. Reed 2013: 88f.).[6] Verwunderlich erscheint dabei allerdings, dass die britische Band Throbbing Gristle bekanntermaßen wesentlich an der Entstehung des Genres Industrial beteiligt gewesen war und sich gerade deren frühe Veröffentlichungen vor allem durch ihren experimentellen musikalischen Sound auszeichnen (Reed 2013: 72ff.).
Auch Carpenters Behauptung eines trotz eigener Einwände dann doch bestehenden ‚Industrial Continuum‘ in der populären Musik Deutschlands, das von Kraftwerks Album „Radio-Aktivität“ (1975) über die Band Einstürzende Neubauten bis zu Rammstein reichen soll, kann nicht überzeugen. Denn die damit verbundenen musikalischen und sonstigen ästhetischen Ansätze weisen bei genauerer Betrachtung viel zu deutliche Unterschiede auf. Überdies ist das, zurecht als postmodern charakterisierte, Konzept der Gruppe Rammstein recht deutlich am Vorbild der slowenischen Gruppe Laibach angelehnt (Carpenter 2017: 167).[7].
Die eigentlich interessante Fragestellung wäre hierbei allerdings nicht die, letztendlich leicht ins Essentialistische driftende, ob oder in wie weit das Genre Industrial ‚deutsch‘ geprägt ist, sondern die danach, warum Akteuren im Bereich Industrial ‚Germanness‘ zugesprochen wird, oder sie diese Zuschreibungen selbst vornehmen und inszenieren. Bei einem solchen Ansatz wird dann deutlich, dass Deutschlands erfolgreichster Pop-Export, die Band Rammstein, mit einem visuell äußerst wirksam unterstützten „Sound of Germany“ arbeitet, der gerade im Ausland virulente und auch durch die Popkultur verbreitete Klischees über das ‚Deutsche‘ und ‚die Deutschen‘ bedient (Wilhelms 2012).
An anderer Stelle wurde wiederum darauf hingewiesen, dass die ambivalente Rezeption der deutschen Band Kraftwerk in Großbritannien vor dem Hintergrund der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und der wirtschaftlichen Konkurrenz beider Staaten erfolgte (Witts 2011). Eine in diesem Falle zunächst lediglich zugeschriebene ‚kühle‘ Form der ‚Germanness‘, die dann aber durchaus auch von Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben im Rahmen ihrer komplexen künstlerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft aufgegriffen worden ist (Kaul 2016: 214 ff.), findet offensichtlich ihre Fortsetzung in der bereits erwähnten Wahrnehmung von ’deutschem’ Techno aus der Außenperspektive.
Anhand des sehr gelungenen Artikels Diskursrock and the ‚Hamburg School‘ (Jürgensen/Weixler 2017) wird dann in der Publikation German Pop Music deutlich, wie gerade die sprachlich komplexe Verwendung der deutschen Sprache geeignet ist, auch eigene Gefühle und Haltungen der Nicht-Zugehörigkeit zu jenem Kollektiv auszudrücken (Jürgensen/Weixler 2017), das vielfach in Anschluss an Gottfried Herder gerade aufgrund gemeinsamer Sprache, Kultur und Geschichte als Nation definiert wird.
Die schwierige Sache mit der Identität
Populäre Musik steht offensichtlich in engem Zusammenhang mit individuellen und kollektiven Identitäten (Frith 1996) und daher wird in German Pop Music auch von verschiedenen Autoren die „national identity“ thematisiert. Herausgeber Uwe Schütte spricht etwa in seinem Beitrag zur ‚Industriellen Volksmusik‘ (Schütte 2017b) der Band Kraftwerk von deren Bestreben, eine neue legitime nationale Identität angesichts der NS-Verbrechen der Vergangenheit zu schaffen (Schütte 2017b: 87).
John Littlejohn verweist in seinem Artikel Krautrock – The Development of a Movement (Littlejohn 2017) zunächst zurecht auf die gebrochene Identität der Nachkriegsgeneration. Anschließend wird moniert, dass der Kraftwerk-Vordenker Ralf Hütter trotz der nicht zu verleugnender ‚Germanness‘ seiner Gruppe offensichtlich eine zentraleuropäische Identität der deutschen vorzog und von diesem Standpunkt auch nach erfolgter Wiedervereinigung und Entstehen der Berliner Republik nicht abzurücken bereit war (Littlejohn 2017:69). Abgesehen von einem offensichtlichen Widerspruch zur Darstellung Schüttes, sieht Littlejohn die Verweigerung oder kritische Skepsis gegenüber nationaler, ‚deutscher‘ Identität, die ja durchaus verständliche Konsequenzen der Reflektion der Geschichte Deutschlands sein können, als Mangel an.[8]
Demgegenüber bleibt festzuhalten, dass populäre Musik mit den individuellen und kollektiven Identitäten ganz unterschiedlicher Gruppen und ihren Akteuren innerhalb einer ausdifferenzierten nachmodernen Gesellschaft in reziproken Zusammenhängen steht. Die auch dadurch mitgeschaffene gesamtgesellschaftliche Pluralität und teilweise individuelle Hybridität von Identitäten geht allerdings keinesfalls notwendigerweise in einer, wie auch immer gedachten, ‚nationalen Identität‘ auf (vgl. Hall 1996: 4). Dies belegt auch der Hinweis Alexei Monroes darauf, dass mit Techno in Deutschland regionale, nationale oder eben auch anti-nationale Identitäten zum Ausdruck gebracht worden sind (Monroe 2017: 174).
Mit Bezug auf den ebenfalls überwiegend strikt antinationalistisch ausgerichteten Punk, wird in German Pop Music darüber hinaus völlig zurecht der künstlerisch-performative Grundcharakter populärer Musik erwähnt, die zwar unter anderem auch politische und wirtschaftliche Krisensituationen und damit zusammenhängende Identitätsfragen künstlerisch zu indizieren vermag, aber eben nicht lösen kann ( Shahan 2017: 112).
Punk als politische und ästhetische Haltung
In seinem Artikel Fehlfarben and German Punk: The Making of ‚No Future‘ kritisiert Cyrus Shahan die Begrenzung der Kategorie Punk auf ein spezifisches musikalisches Genre und eine begrenzte musikgeschichtliche Epoche. In Anschluss an die Sichtweise der Cultural Studies versteht er Punk zunächst als soziale und politische Subkultur (Shahan 2017: 112, vgl. Hebdige 1979) und entwickelt nachfolgend die Theorie einer spezifisch deutschen Adaption von Punk in Form eines dezidiert politischen Verständnisses des Slogans ‚No Future‘ und des konzeptionellen Bezuges auf die künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. Diese popmusikalische Variante eines deutschen ‚Sonderweges‘ (Wehler) resultierte, laut Shahan, aus der nicht bewältigten deutschen NS-Vergangenheit und einer sich daraus ergebenden Kette von Gewalterfahrungen, die bis zum Terrorismus der RAF und dessen Scheitern gereicht habe (Shahan 2017: 117). Da Punk vor allem als politische und ästhetische Haltung verstanden wird, erscheint dann auch die Band Fehlfarben als ‚punkig‘, obwohl sie musikalisch der Neuen Deutschen Welle zuzurechnen ist (Shahan 2017: 112).
An dieser Stelle ließen sich durchaus Parallelen ziehen zu Christian Jägers Artikel Ripples on a Bath of Steel – The Two Stages of Neue Deutsche Welle (NDW) in German Pop Music und dem dort dargestellten, ebenso wichtigen wie kurzlebigen Phänomen der Neuen Deutschen Welle. In Anlehnung an das bereits skizzierte Verständnis von Popmusik geht der Autor dabei von einer subkulturell verorteten und dissidenten NDW I und einer kommerziellen und affirmativen NDW II aus (Jäger 2017: 144). Zweifelsohne lassen sich auch nicht nur hinsichtlich von der Band Fehlfarben personelle und sonstige Kontinuitäten zum vorangegangenen Punk feststellen (Shahan 2017: 112), aber gleichwohl sind NDW, oder auch der immer noch häufig unter diesem Label vermarktete Elektropunk der Band DAF, bereits als Fortentwicklungen des Punk angesichts von dessen zunehmendem musikalischen und anderweitigen Dogmatismus zu verstehen.
Neben einer zu unkritisch erscheinenden Übernahme linksradikaler Legitimationsmuster für den Terror der RAF (Shahan 2017: 117)[9], gerät bei Cyrus Shahan die Reflexion darüber recht kurz, dass der Punk sich musikästhetisch vor allem als Restitution des ‚wahren‘, d.h. rebellischem Rock’n’Roll und Rock verstand. Dementsprechend war man stilistisch zunächst einer‘’punkigen‘, d.h. einer bewusst rauen und Genrekonventionen ironisierenden Interpretation der entsprechenden anglo-amerikanischen Tradition verpflichtet gewesen, worauf auch in Deutschland die Namen früher Punkbands wie etwa Charley´s Girls oder Male hinweisen.
Angesichts seiner Klangästhetik und Thematiken, durchaus aber auch aufgrund der Modi seiner Präsentation und Rezeption bei Konzerten, kann man Punk zwar durchaus als „Ästhetik der Gewalt“ (vgl. Shahan 2017: 116) verstehen, und dabei liegt es auch nahe, diese zumindest auch auf die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse zu beziehen. Allerdings adaptierte und transformierte die deutsche Punkszene auch hierbei zunächst anglo-amerikanische Muster. Diese reichten bis teilweise bis zur Verwendung von Hakenkreuzen und anderen NS-Verweisen neben spezifisch deutschen Bezügen auf die RAF, die das von den Sex Pistols seinerzeit verwendete Anarchistenzeichen sicherlich an Radikalität übertrafen.[10]
Allerdings wies diese Radikalität deutscher Punks gerade dort inzwischen vielfach vergessene, politisch ambivalente Züge auf, wo sie zur inhaltlich eigentlich beliebigen und ideologisch indifferenten, aber unbedingt provokanten Pose verkam, wie etwa im Falle der Kölner Band Cotzbrocken (Büsser 2005: 26ff.). Gerade bei den Provokationen dieses antiintellektualistisch ausgerichteten Streetpunk (ebda.) erfolgten keinerlei erkennbare Bezüge auf die klassische Avantgarde, wie etwa teilweise bei Gabi Delgado oder, deutlich dezidierter, bei Blixa Bargeld (vgl. Shahan 2017: 115).[11] Deren Bands, die Deutsch Amerikanische Freundschaft und die Einstürzenden Neubauten, sind bei musikgeschichtlicher Betrachtung aber eben auch bereits dem vielfach ausdifferenzierten Postpunk zuzuordnen und die in diesem Kontext erfolgten historischen Rückgriffe dienten sicherlich der künstlerischen Inspiration und Selbstvergewisserung, aber eben auch immer der eigenen Positionierung im popkulturellen Feld. Bereits einige Jahre zuvor hatte die Band Kraftwerk den Ansatz des konzeptionell motivierten Rückgriffes in die Zeit der historischen Avantgarden so konsequent und erfolgreich wie keine andere umgesetzt.
Gesamtkunstwerk Kraftwerk
Angesichts der musikgeschichtlichen Bedeutung der deutschen Gruppe Kraftwerk für die Entstehung der elektronischen Populärmusik und ihrer daraus resultierenden internationalen Reputation, ist es wenig verwunderlich, dass eine Aufnahme der Band den Umschlag von German Pop ziert. Herausgeber Uwe Schütte hat sich persönlich dieses Themas angenommen und ihm ist in der Feststellung zuzustimmen, dass die Veröffentlichung des Albums „Autobahn“ im Jahre 1974 rückblickend als das wichtigste, weil auch international folgenreichste Ereignis der Geschichte deutscher populärer Musik gelten kann.
In seinem Artikel geht Schütte detailliert und kenntnisreich auf die Veröffentlichungen der Band seit diesem Meilenstein in ihrer Karriere und die nachfolgende zusehends erkennbare Konzeptionalisierung ein, bei der das Album „Mensch Maschine“ aus dem Jahre 1978 von besonderer Bedeutung gewesen ist. In diesem Zusammenhang wird auf interessante Interpretationsambivalenzen zwischen dem deutschen Text des Titelstücks und der englischsprachigen Übersetzung hingewiesen, wobei in letzterer mit „super-human being“ die Konnotation des nietzscheanischen Übermenschen mitschwingt (Schütte 2017b: 98).
Die volle ideologische Ambivalenz dieser philologischen Beobachtung wäre allerdings erst deutlich geworden, wenn hier auch sowjetische Visionen des ‚Neuen Menschen‘ mit in die Überlegungen einbezogen worden wären, zumal dies, durch die an El Lissitzki angelehnte Ikonographie Cover und die Verwendung des Russischen im Eröffnungsstück des Albums „Die Roboter“, naheliegend ist. Darüber hinaus scheinen, neben dem Bauhaus der Weimarer Republik, gerade die sowjetische Avantgarde und El Lissitzki die Band Kraftwerk bei ihrer Schaffung einer zunehmend minimalistischen und elektrifizierten Variante populärer Musik konzeptionell entscheidend beeinflusst zu haben (Cunningham 2011, Kaul 2016: 212ff.). Dies könnte durchaus auch Rückwirkungen auf die Interpretation des von Band-Vordenker Ralf Hütter zur Charakterisierung der Musik von Kraftwerk gerne aufgegriffenen Begriff der ‚Industriellen Volksmusik‘ haben, zumal dieser überdies auch an den Grundgedanken des Bauhauses, die prinzipielle Vereinbarkeit von künstlerisch ansprechenden Produkten und Massenkompatibilität anzuknüpfen scheint (Kaul 2016: 222).
Allerdings gelingt es Schütte dann, das künstlerische Paradigma der Minimierung künstlerischer Mittel bei gleichzeitiger Maximierung der ästhetischen Aussage der Band Kraftwerk auch ausgehend von der kondensierten Textzeile „Minimum-Maximum“ des Songs „Elektro-Kardiogramm“ (Kraftwerk 2003) herauszuarbeiten (Schütte 2017b: 106) und damit die bereits kurz erwähnten Ergebnisse primär historisch-quellenbasierter und semiotischer Ansätze zu bestätigen.[12]
Etwas verwunderlich ist jedoch, dass sich Uwe Schütte bei seiner Darstellung und Reflexion der Entwicklung der Band Kraftwerk sich an deren offiziellen Kanon orientiert, der die ersten drei Alben der Gruppe durch die Nicht-Aufnahme in die Compilation „Der Katalog“ (2004) gezielt ausblendet. Auch wenn John Littlejohn mit seinem Artikel (Littlejohn 2017) unter anderem auch kurz auf die Veröffentlichungen der Band in ihrer ersten Phase eingeht, wären Überlegungen dazu, wie sich das musikgeschichtlich äußerst relevante Ereignis der Veröffentlichung von „Autobahn“ aus der Vorgeschichte der Band und sicherlich auch anderen popmusikalischen Entwicklungen erklären lässt, recht interessant gewesen, zumal die B-Seite des Albums aus dem Jahr 1974 noch ganz im Zeichen der vorherigen Phase von Kraftwerk steht (Littlejohn 2017: 75).
Darüber hinaus erscheint es nicht nur aus letztgenanntem Grund nicht wirklich zwingend, mit Bezug auf die Verbindung von Text und Musik des Titelstücks „Autobahn“ zur Covergestaltung des Albums bereits von einem „Gesamtkunstwerk“ zu sprechen (Schütte 2017 b: 87).[13] Generell kritischer wäre auch danach zu fragen, bis zu welchem Zeitpunkt in ihrer langen Karriere es der Band Kraftwerk wirklich gelungen war, künstlerisch innovative Akzente zu setzen, bzw. ab wann zweifelsohne zur Zeit ihrer Entstehung höchst avancierte und allein schon deshalb heutzutage noch immer ästhetisch äußerst ansprechende musikalische und visuelle Konzepte lediglich in neuen Gewändern präsentiert, aber eben nicht mehr wirklich weiter entwickelt worden sind.[14]
Pop und Kommerz
Die erwähnte immense künstlerische Bedeutung und der dementsprechende Einfluss auf nachfolgende Entwicklungen von Kraftwerk werden noch augenfälliger, wenn man die Düsseldorfer Band mit der kommerziell erfolgreicheren Gruppe Rammstein vergleicht. Dabei würde sich zunächst die Frage stellen, ob nicht zumindest Rammstein bei der favorisierten Unterscheidung von potentiell dissidenter Popmusik und kommerzieller populärer Musik dann nicht letzterer Kategorie zuzuordnen wäre oder zumindest ein Wechsel der Felder zu konstatieren wäre.[15]
Allerdings agieren Kraftwerk, Rammstein und alle anderen in German Pop Music aufgeführten Bands, zumindest bei nüchterner, ökonomisch basierter Betrachtung, im selben Feld, dem Musikmarkt, der allerdings vielfach ausdifferenziert ist. Diese wirtschaftliche Tatsache gilt auch für all die nicht erwähnten Bands und Musiker aus Deutschland, wie etwa Die Toten Hosen. Bekanntlich stammt diese Formation aus Düsseldorf, passt jedoch, aufgrund ihres immensen kommerziellen Erfolges mit recht simpel gestricktem Punkrock, nicht in das spätestens mit „Verschwende deine Jugend“ (Teipel 2001) etablierte und weiter fortgesetzte popmusikgeschichtliche Narrativ (Esch 2014: 215f.) der innovativen Szene rund um das „Epizentrum“ (Schütte 2017a: 16) des Ratinger Hofes, welches überdies der lokalen Vielfalt des musikalischen und subkulturellen Phänomens Punk in Deutschland nicht gerecht zu werden vermag ( Jäger 2017: 141).
Die in German Pop Music in Anschluss an Diedrich Diederichsen zugrunde gelegte Unterscheidung von Pop und populärer Musik, restituiert vor allem mithilfe der Kriterien subkultureller Verortung und dissidenter Haltung der jeweiligen Akteure gerade in der, reichlich pathetisch, „heroisch“ benannten ersten Phase der Popmusik (Diederichsen 2014: XIIff.) letztendlich nur hinlänglich bekannte Dichotomien, wie etwa die von Underground und Mainstream, Kunst und Kommerz oder gar eine transformierte Variante der Unterscheidung von elitärer Hochkultur und dumpfer Massenkultur.
Bei Verwendung der analytisch schwer eingrenzbaren Kategorie Popmusik, wird Musik, anders als in der traditionellen Musikwissenschaft, nicht mehr scheinbar rein nach ihren musikalischen Qualitäten, sondern fast nur noch ausschließlich aufgrund ihrer sozialen und politischen Relevanzen bewertet.[16] In diesem Zusammenhang ist es dann auch notwendig, Adornos Kulturindustriethese und seine damit einhergehende Verdammung populärer Musik zumindest im Hinblick auf Popmusik, oder auch die analoge ‚NDW I‘, zu revidieren. Allerdings geschieht auch dies ohne nähere Bezugnahme auf das musikalische Material (Jäger 2017), das generell bei der Betrachtung von Popmusik, zumindest im skizzierten spezifischen Verständnis, zu sehr aus dem analytischen Blick zu geraten scheint.
Mit dem Schlager wird im ersten Artikel des Sammelbandes German Pop Music allerdings eingangs doch ein Genre aufgegriffen, das völlig unstrittig dem Populären zuzurechnen ist und somit die Kontrastfolie für die nachfolgenden Beiträge bietet. Der Autor Julio Mendívil zeichnet in seinem Beitrag Schlager and Musical Conservatism in the Post-War Era (Mendívil 2017) zunächst die Geschichte dieser Stilistik nach. Über eine kurze, wiederum vor allem textlich angelegte Analyse von „Fiesta Mexikana“ (Rex Gildo, 1972) kommt er dann jedoch zu der etwas abstrus anmutenden These, dass Schlagersongs mit gelegentlichen musikalischen Exotismen und entsprechenden Thematiken den Deutschen nicht etwa ein kulturelles Fenster öffnen, sondern den Expansionsdrang des deutschen Nationalismus bändigen sollten, indem das deutsche Konzept von ‚Heimat‘ auf ferne Länder übertragen worden sei (Mendívil 2017: 38).
Im Gegensatz zu diesen beiden falsch erscheinenden Interpretationsansätzen wurde die eigentlich wesentlich nahe liegendere Alternative eines kulturindustriell kalkulierten Appells an Sehnsüchte nach Ferne und Sonnenschein der hart für Wohlstand und Wachstumssteigerung arbeitenden Rezipienten an dieser Stelle wohl nicht mitbedacht. Auch die Bezeichnung des Schlagers als Ausdruck einer konservativen Revolte gegen die zunehmend dominierende englischsprachige Musik (Mendívil 2017: 39) vermag nicht wirklich zu überzeugen, zumal sich der Schlager, angesichts des ihm zugrunde liegenden Profitstrebens, als höchst flexibel hinsichtlich der Integration neuer Musikstile, Thematiken und Interpreten nichtdeutscher Herkunft zeigte, und es auch immer wieder deutsche Coverversionen englischsprachiger oder auch sonstiger ausländischer Hits gab.[17]
Insofern erschient der deutsche Schlager auch heutzutage nur bedingt als musikalisch konservativ. Vielmehr handelt es sich um einen primär kommerziell ausgerichteten Stil, der sich vor allem mithilfe des mehr oder weniger bewussten Zitierens musikalischer und sonstiger Klischees, die allerdings weitaus flexibler als etwa in der Volkstümlichen Populärmusik gehandhabt werden, an ein möglichst großes Publikum richtet. Dieses ist dann, zugegebenermaßen, nach wie vor, oder auch schon wieder, politisch mehrheitlich eher konservativ orientiert.
Der eigentliche „Klang der Revolte“ (Wagner 2013) war in den ausgehenden 1960er-Jahren und frühen 70ern der Krautrock, und German Pop Music zeichnet unter dem einmal gewählten Label der Popmusik in komprimierter Form die höchst spannende, wechselvolle und dadurch auch höchst lesenswerte und bedenkenswerte Geschichte der Musik all derjenigen nach, die in Deutschland ab den 1960er-Jahren gegen die gegebenen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Zustände sowie die lange Zeit dominierende bourgeoise Kultur, die neben der sogenannten Hochkultur auch mit dem Genre Schlager verbunden war, opponierten.
Spätestens seit den 1990er-Jahren scheint allerdings die ‚heroische‘ und erste gegenkulturell basierte Phase der Popmusik beendet gewesen zu sein (Diederichsen 2014: 390ff.) und das in jeder Hinsicht neoliberale Zeitalter des „Mainstream der Minderheiten“ (Holert/Terkessidis 1996) angebrochen. Dieses führte zum Ende der „Pop-Relevanz“, aber auch zu „blühenden Nischen“( Büsser 2010),[18]die es weiterhin zugleich in lokalen Zusammenhängen als auch den globalen Weiten des Netzes zu entdecken oder auch nur wiederzuentdecken gilt.
Auch für letztere Ambition bietet German Pop Music einige sicherlich wertvolle Surftipps für das Internet. Denn trotz der an dieser Stelle vorgetragenen Kritik an der theoretischen Begründung und Anwendung des Konzeptes der Popmusik, bleibt festzuhalten, dass die von Uwe Schütte und seinen Autoren unter diesem Label aufgeführte populäre Musik aus Deutschland überwiegend die ästhetisch ansprechendere und damit auch interessantere darstellt.
Anmerkungen
[1] Dieser Ansatz könnte sich in Zukunft eventuell auch zukünftig in der Einrichtung eines Studienganges German Popular Music Studies niederschlagen, was sehr zu begrüßen wäre.
[2] Neben Deutsch-Rap verschiedenster Ausrichtung ist überdies auch das Genre Oriental Hip Hop zu verzeichnen. Der deutschtürkische Act Cartel war mit seiner Mischung aus überwiegend türkischen Texten, Samples aus dem Reservoir türkischer Stilistiken und afro-amerikanischen Hip-Hop-Beats in Deutschland und der Türkei erfolgreich (Munderloh 2017: 199 f.).
[3] Shahan Ausführungen ähneln an dieser Stelle, sicherlich unbeabsichtigt, identitären Narrativen, die sich gerade auch am rechten Rand des politischen Spektrums in Deutschland finden lassen.
[4] Auch wenn sich etwa Ralf Hütter von der Band Kraftwerk im Sinne einer US-amerikanischen Besatzung Westdeutschlands (an dieser Stelle bei Schütte 2017a: 12 wiedergegeben) und damit einhergehendem Kulturimperialismus geäußert hatte, erscheint es angeraten, dass Forschende die historischen Hintergründe für einen seit den ausgehenden 1960ern verstärkt festzustellenden Antiamerikanismus der damaligen jüngeren Generation ebenso kritisch bedenken wie die eigenen diesbezüglichen Einstellungen. Denn auch Popmusikgeschichte bleibt notwendigerweise Rekonstruktion der Vergangenheit (vgl. Rösing 2014) aus einer bestimmten Perspektive, die es zu reflektieren gilt. Darüber hinaus sei angemerkt, dass Ralf Hütter, trotz seiner Kritik am dominierenden kulturellen Einfluss der USA, an anderer Stelle die Beach Boys als wichtigen Einfluss für die Musik von Kraftwerk angibt (Hütter in Bussy 2005: 23 ) und dies sich auch im Refrain von dem Titel Autobahn (Kraftwerk 1974) widerspiegelt, der deutlich an „Fun, Fun, Fun“ (The Beach Boys, 1964) angelehnt ist.
[5] Geier Sturzflug hatte seine Debut-LP beim linken Independent-Label Trikont veröffentlicht. Die spätere Hitsingle „Wir steigern das Bruttosozialprodukt“ war erstmals dort bereits 1978 in einer akustischen Fassung von den späteren Geier-Sturzflug-Mitgliedern Friedel Geratsch und Reinhard Baierle veröffentlicht worden. Die Ariola brachte die neue eingängige Version der von ihr kurz zuvor unter Vertrag genommen Band 1982 unmittelbar nach dem Wahlsieg Helmut Kohls auf den Markt. Zur ebenfalls ökonomisch geschickten Veröffentlichungspolitik des Plattenkonzerns EMI im Falle von „Ein Jahr (Es geht voran)“ (Fehlfarben 1982) siehe: Hornberger 2014: 89 f..
[6] Bei Alexander Carpenter wird diesbezüglich wiederum Ralf Hütter als Kronzeuge genannt. Eine von diesem behauptete Analogie zwischen der deutschen Sprache und der Basisstruktur der Musik Kraftwerks ließe sich allerdings wohl kaum analytisch bestätigen. Dies wird auch aus den Ausführungen des australischen Musikwissenschaftlers Joseph Toltz deutlich, von dem Carpenter das Zitat als scheinbaren Beweis übernommen hatte, ohne jedoch darauf einzugehen, dass dieser es wohl völlig zurecht als satirische Äußerung Hütters zur angenommenen ’Germanness’ von Kraftwerk interpretiert hatte (Toltz 2011: 187).
[7]Auch im Falle der slowenischen Band Laibach ist eine ‚Germanness‘ unübersehbar. Diese resultiert allerdings aus ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit der wechselvollen Geschichte Sloweniens und wird in ideologiekritischer Absicht mit anderen politischen und religiösen Versatzstücken kombiniert (Monroe 2014). Rammstein zeichnet sich demgegenüber konzeptionell, aber auch musikalisch durch erheblich Komplexitätsreduzierungen und eine Reintegration von Rock-Gitarren in den Bereich Industrial aus, die wiederum an die Bands Die Krupps und Ministry anknüpfte. Beides dürfte mit dazu beigetragen haben, dass die Band Rammstein kommerziell erfolgreicher als Laibach wurde.
[8] Es ist eher zu vermuten, dass gerade die Musik Kraftwerks und der via Großbritannien wiederentdeckte Krautrock bei den Versuchen, nach erfolgter Wiedervereinigung eine neue, legitim erscheinende deutsche Identität zu schaffen, als Mittel und Argument diente (vgl. Schneider 2015: 45 ff.). Die diesbezüglichen, zumeist kritischen Einstellungen der betreffenden Protagonisten, die Littlejohn hier am Beispiel Hütters belegt, spielten dabei offensichtlich keine Rolle.
[9] Die an dieser Stelle wiedergegebene und auch von Shahan vertretene These einer ungebrochenen faschistischen Kontinuität vom Dritten Reich zur BRD der 1970er-Jahre und damit einhergehende Verschwörungsszenarios bezüglich der Selbstmorde der Führungsriege der RAF gibt zwar sicherlich die Sichtweise vieler damaliger Akteure der Punkszene wieder. Im Rahmen einer aktuellen akademischen Analyse erscheint sie allerdings in der vorliegenden unreflektierten Form aus geschichtswissenschaftlicher und politischer Sicht als recht bedenklich.
[10] Zum Transfer von NS-Symbolen und Themen, der von New York über London nach Deutschland führte, und damit einhergehenden Bedeutungsverschiebungen siehe: Schneider 2012.
[11] Stichhaltiger erscheint es, sowohl die klassischen Avantgarden als auch Punk und andere potentiell dissidente Subkulturen als Formen jener antibürgerlichen Rebellionen zu verstehen, die aus den Logiken und Ideologien der bürgerlichen Kultur der Moderne selbst resultieren und von dieser auch jeweils wieder in vermarktbaren Versionen vereinnahmt werden. Punk zeichnete sich dabei durch das „Osszilieren zwischen Schmutz und Protest, Geschäft und Kritik, Krach und Kunst, Ironie und ‚bitterem‘ Ernst, Identitätszeichen und zugleich als Medium und Ausdruck der Identitätszerstörung zu sein.“ (Nell 2012: 38). Insofern können Punk und Teile des Postpunk durchaus in der Tradition der künstlerischen Avantgarden gesehen werden, ohne die gegebenen spezifischen Unterschiede zwischen den jeweiligen kulturellen Phänomenen und auch innerhalb dieser zu nivellieren; Dada war sicherlich kein Punk (und konnte dies auch noch gar nicht sein), hatte seinerzeit aber eine durchaus vergleichbare Position und damit auch Funktion innerhalb der bürgerlichen Kultur eingenommen (vgl. Nell 2012: 31ff.). Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass Verbindungen zur Bildenden Kunst auch im Falle von US-amerikanischem und britischem Punk durchaus gegeben waren (Hornberger 2014: 87).
[12] Der konzeptionelle Bezug der Formel ‚Minimum-Maximum‘ wurde von der Band Kraftwerk zusätzlich dadurch bestätigt, dass deren Tour des Jahres 2015 diese als Titel trug (Schütte 2017b: 106).
[13] Der Begriff des Gesamtkunstwerkes ist durch seinen engen Bezug zu Richard Wagner hochkulturell aber zweifelsohne auch spezifisch ‚deutsch‘ konnotiert. Gerade vor dem Hintergrund der differenzierten künstlerischen Auseinandersetzung der Band Kraftwerk mit ihrer deutschen Herkunft und der bereits erwähnten vermeintlich fehlenden ‚deutschen‘ Identität Ralf Hütters, erscheint dies nicht ganz unproblematisch. Aus den genannten Gründen könnte der Begriff der Gesamtästhetik (Kaul 2016: 201 ff.) geeigneter sein, um die konzeptionell äußerst stringente Verbindung verschiedener Ebenen der Bedeutungsproduktion durch Kraftwerk ab dem Album „Mensch Maschine“ von 1978 zu charakterisieren.
[14] So fanden etwa die relevanteren, aber zweifelsohne an Kraftwerks Pionierarbeit anknüpfenden Entwicklungen der elektronischen Populärmusik spätestens ab den 1990er-Jahren dann doch wohl eher in den von Alexei Monroe beschriebenen lokalen Techno-Szenen Deutschlands (Monroe 2017) sowie in Detroit, New York, Bristol, South London und anderen Orten statt.
[15] John Littlejohn hatte an anderer Stelle auch der Gruppe Kraftwerk den Vorwurf gemacht, sich nach „Autobahn“ (1974) kommerziell angebiedert (Littlejohn 2009), also nicht mehr Popmusik, sondern populäre Musik produziert zu haben.
[16] Diese Kriterien wären jedoch bei der Gruppe Die Toten Hosen oder auch dem Hit „Wind of Change“ (The Scorpions, 1987) durchaus gegeben. Die eigentlich logische, aber reichlich paradox erscheinende Schlussfolgerung aus dem skizzierten Verständnis von Popmusik wäre die, dass das, was sich gut verkauft, zumindest überwiegend nicht mehr sozial, politisch oder auch ganz einfach nur popkulturell relevant erscheint und daher keiner näheren kulturwissenschaftlichen Betrachtung bedarf. Diese kritischen Anmerkungen, die längst nicht nur der Veröffentlichung German Pop Music gelten können, bedeuten jedoch keinesfalls, dass Fragen nach der jeweiligen Qualität von populärer Musik ausgeblendet werden sollten. Allerdings sind diese auch ästhetisch mit Bezug auf die verschiedenen Ebenen popmusikalischer Bedeutungsproduktion (vgl. Petras 2013) zu beantworten. Dies koinzidiert jedoch nur bedingt mit den genannten anderweitigen Relevanzen, die gleichwohl auch von analytischem Interesse bleiben.
[17] Die Sichtweise Mendívils, dass die Verwendung nicht-deutscher Künstlernamen und das vermehrte Auftreten von Künstlern ausländischer Herkunft vor allem der Domestizierung des Fremden gedient haben soll (Mendívil 2017:40) erscheint bedenkenswert, müsste aber wohl eingehender vor dem Hintergrund von kulturellen Transformationsprozessen der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den 1970er-Jahren und der einsetzenden Integrationsdebatte reflektiert werden.
[18] Diese Entwicklungen gingen wiederum mit weniger deutlich akzentuierten innergesellschaftlichen Frontstellungen in der Berliner Republik einher, was sich allerdings angesichts der gegenwärtig allenthalben zu beobachtenden Wiederkehr nationalistischer und rassistischer Ideologien ändern könnte.
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Bibliographischer Nachweis:
Uwe Schütte
German Pop Music. A Companion
Berlin/Boston 2017
[= Companions to Contemporary German Culture, Band 6]
De Gruyter Verlag
ISBN 978-3-11-042571-0
270 Seiten
Timor Kaul promoviert mit seinem Vorhaben „Lebenswelt House / Techno: DJs und ihre Musik“ am Institut für Europäische Musikethnologie der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Darüber hinaus betätigt er sich als freier Autor und Referent vor allem zu Themen der elektronischen Populärmusik.