Pop ist tot
von Ole Petras
23.12.2025

Das langsame Ende der Popmusik als Leitmedium der Massenkultur

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 37-41]

Das Wort ist auf der Straße: Die Popmusik hat ihren Status als Leitmedium der Massenkultur verloren. Dem letzten Kollaps in Gestalt wegbrechender Tonträgerverkäufe nur knapp entron­nen, macht die Pandemie nun auch das alternative Geschäftsmodell zunichte. Es ist fraglich, ob man sich in den nächsten Jahren bei Konzerten in Hallen und Sälen mit dem gleichen Enthusiasmus in eine drängelnde, schwitzende, Aerosole herausjubelnde Menschenmenge stellen und einen Moment zelebrieren wird, der zum Verweilen schön ist. »Iʼm like a broken record and Iʼm not playing right«, wie es die Diskursethiker von Coldplay ausdrücken. Und man muss sagen, dass es schon einmal hilfreicher war, der Wirklichkeit mit Klischees zu begegnen.

Der Anfang dieses Endes datiert früher. Wie lange ist es eigentlich her, dass von der Popmusik ästhetische Impulse in Richtung anderer Künste ausgingen? Dass sie gesellschaftliche Ent­wicklungen verhandelte, bevor diese sichtbar wurden? Dass ganze Generationen sich über Songs definierten und selbst die Politik die Nähe verdrogter Sänger suchte, angezogen von schier unglaublicher Diskursmacht? Heute hat die Popmusik in etwa den Status der schönen Literatur: Es gibt sie, man erfreut sich an ihr, nur die Erwartungen sind gedämpft. Hin und wieder zuckt das Feuilleton, wenn etwa Michel Houellebecq einen neuen Roman oder Tocotronic ein neues Album veröffent­lichen. Aber Herzklopfen?

In gewisser Weise ist Popmusik, mit DJ Khaled zu sprechen, »suffering from success«. Die Bildungsregeln liegen offen, das Prozedere ist bekannt. Weil niemand mehr seine Relevanz bestreitet, eignet kaum einem Genre noch Distinktionspotenzial. Oder wer ließe sich zum pauschalen Verriss eines bestimmten Musikstils hinreißen, nicht weil er die falschen Werte vertritt, sondern die falsche Ästhetik? Natürlich gibt es immer noch herausragende Singles, Alben und Performances, aber diese wirken aufgrund der weit fortgeschrittenen Ausdifferen­zierung nur innerhalb der eigenen Peergroup. »In this world, itʼs just us«, singt Harry Styles auf seiner sinnfällig »As It Was« betitelten Hitsingle, und auch den Rest des aktuellen Albums dominiert Nabelschau: »Late Night Talking« in »Harryʼs House«.

Gesamt­gesellschaftliche Anliegen, so der Eindruck, artikulieren sich nicht länger in Form von Songs. Es gibt keine Fridays-for-Future-Hymne, keinen Soundtrack des Fleischverzichts, #metoo ist ein Hashtag, kein Kehrvers. Die Pandemie bleibt ähnlich stumm wie das Entsetzen angesichts eines Krieges auf europäischem Boden. Und so ein schönes Zeichen der Einigkeit der ukrainische Gewinn des ESC war, zeigte er auch, wie arbiträr die Platzierungen letztlich sind und wie wenig Musik in dem Event noch steckt. 2021 erreichte die ukrainische Gruppe Go_A mit ihrem ästhetisch viel interessanteren, EBM und Folklore emergent verbindenden Song »Schum« nur Rang 5. Aber da war der Krieg auch noch nicht sichtbar und die Ukraine popkulturelles Niemandsland.

Ein Grund für den konstatierten Bedeutungsverlust mag eine so diskrete wie langjährige Entwicklung sein: die arbeitsteilige Optimierung des Schreibprozesses. Es ist heute die Regel, dass auch klassische Songwriter mehrere Komponistïnnen beschäftigen. Auf den letzten Alben von Taylor Swift oder Adele sind insgesamt je sechs, bei Harry Styles elf, bei The Weeknd schon fünfzehn, bei Ed Sheeran sechzehn, bei Alicia Keys neunzehn und bei Coldplay dann über zwanzig Autoren am Werk. Es liegt auf der Hand, dass ›hired guns‹ wie Max Martin, Thomas Hull oder Oscar Holter ihr Gespür für den Zeitgeist einbringen können und damit die Gewinnerwartung steigt. Auf der anderen Seite normiert sich das Produkt und mit ihm der Umgang. Es sind zu viele Leute im Zimmer; man fühlt sich angesprochen, aber nicht gemeint.

Parallel zu dieser ästhetischen Industrialisierung vollzog sich in den letzten Jahrzehnten eine Art Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Software ersetzte teure Maschinen; mit den Möglichkeiten der Emulation aller denkbaren Sounds sanken gleichzeitig die Anforderungen der Aufnahmetechnik. Es stellt sich tat­sächlich die Frage, warum man viel Geld für ein Studio ausgeben sollte, wenn ein Grammy auch mit einem Album gewonnen werden kann, das im Kinderzimmer entstanden ist, wie es Billie Eilish und ihr Bruder Finneas 2019 vorgeführt haben. Manchmal scheint selbst die Beherrschung eines Instruments kein notwendiges Kriterium des Musizierens zu sein. Drake bewies unlängst mit »Champagne Poetry« eindrucksvoll, dass zwei Samples und eine Stimme genügen, um ein neues Lied zu kreieren. Aber wer kann das bezahlen? Und lässt sich dieses Lied erneut sampeln?

Nicht nur aufseiten der Produktion diversifizieren sich die Möglichkeiten, auch die Wahr­nehmung und der Erwerb von Musik sind seit langem nicht mehr an physische Tonträger gebunden. Damit verschwinden nicht nur sichtbare Zeichen der Beschäftigung wie Schall­platten, CDs, Kassetten, Hifi-Türme und Standboxen aus dem Blickfeld und Lebensraum. Der Wechsel in die Digitalität betrifft weit mehr als die Darreichungsform, er verändert die gesamte Kommunikationssituation. Je ätherischer und frequenter die Mitteilung wird, so ließe sich dieser Prozess beschreiben, desto unverbindlicher gestaltet sie sich.

Ein Schallplatten­cover, ein Radioapparat, ein Digipac beschränken die Informationsdichte und veranlassen die Hörer, die Leerstellen mit eigenen Vorstellungen zu füllen. Man richtet sich ganz wörtlich ein mit der Musik. Dichtere Informationskanäle wie beispielsweise Instagram machen uns hingegen zu Empfängern zunehmend intimer Details. So adressiert Halsey ihre Abonnenten noch aus dem Wochenbett: »Gratitude. For the most ›rare‹ and euphoric birth. Powered by love« (@iamhalsey, 14. Juli 2021). Geht mich das eigentlich an? Und lässt sich diese Information sinnvoll auf Halseys Musik beziehen? Leider ja, denn Halseys aktuelles Album heißt: »If I Can’t Have Love, I Want Power«. Es ist an alles gedacht.

Diese drei sehr unterschiedlichen Tendenzen haben paradoxerweise den gleichen Effekt: sie senken die Zugangsvoraussetzungen und mit ihnen den Wert der Kunst. Wenn Songs quasi industriell hergestellt werden, keine opaken Orte und genialischen Fertigkeiten mehr vonnöten sind, wenn jedes Lied jederzeit und überall verfügbar ist und lückenlos erklärt wird, sinkt die Bereitschaft, in Popmusik Zeit, Geld, Herzblut zu investieren. Diese Situation ruft wiederum Unternehmen auf den Plan, die sich auf die Abschöpfung von Kapital spezialisiert haben und Kunst wie jedes andere Business betreiben. Firmen wie Spotify profitieren dabei von einem Phänomen, das seinerseits älter ist als das Gespenst des kostenfreien Downloads, namentlich der Konzentration von Macht in den Chef-Etagen der Major-Labels. Diese sind, das zeigt die jüngste Vergangenheit, allein der Jahresbilanz verpflichtet. (Und ist es angesichts des hörer­optimierten Formatpops von Produzenten wie Denniz PoP, Max Martin, Rami Yacoub, Shellback oder Linus Wiklund eigentlich Zufall, dass Spotify eine schwedische Firma ist?)

In gewisser Weise rächt sich die seit Einführung der CD herrschende Mentalität. Damals hatte man aufgrund des Medienwechsels den gesamten Back-Katalog nochmals verkaufen können. Die gestiegenen Renditen professionalisierten und zentralisierten das Geschäft. Es ist nicht abwegig, anzunehmen, dass die in den 1980er Jahren etablierte Balance zwischen gut ausge­statteten, lokal wirkenden Indies und global agierenden Majors die Digitalisierung besser bewältigt hätte als die in den neunziger Jahren geschaffene Monokultur. Aber selbst diese ist noch potent genug, den eigenen Bedeutungsverlust mit immer ausgefalleneren Events (Jay-Z im Louvre!) und Netflix-Produktionen (»jeen-yuhs«!) zu kaschieren. Allein es hilft nicht. Wenn Taylor Swift ihre eigenen Alben aus Lizensierungsgründen noch einmal aufnimmt und damit erneut an die Spitze der Charts klettert, ist dies ein schöneres Zeichen des Stillstands als alle Klima-Gipfel dieser Welt.

Wenn folglich das Geld fehlt und die Perspektiven schwinden, weil sich Innovation nicht rückgängig machen lässt und Gewohnheiten Ansprüche erzeugen, schulen viele Stars um. In Deutschland scheint es ein probater Weg zu sein, ans Theater zu gehen oder Bücher zu schreiben, in Amerika dreht man Filme oder verkauft Unterwäsche oder bekommt den Literatur-Nobelpreis. Und es hat sicher nicht geholfen, dass Florian Silbereisen jetzt nicht nur das Traumschiff steuert, sondern auch Dieter Bohlen in der DSDS-Jury ersetzt. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Springsteen am Broadway und Alexander Klaws bei den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg. Aber welcher war das nochmal?

Nur hin und wieder verspürt man einen leisen Phantomschmerz. Etwa wenn man sich fragt, warum nur solche Künstler gegen den Markt aufbegehren, die lange vor dessen Radikalisierung sozialisiert wurden. (Oder warum protestieren Neil Young und Joni Mitchell gegen Spotifys Deal mit Joe Rogan und nicht Ed Sheeran oder Rihanna?) Und es kneift schon erheblich im Bauch, wenn die Partei Die Linke ihre feierliche Abwendung von Putins Russland mit Tocotronics neuer Single »Nie wieder Krieg« unterlegt, wie es kurz nach Beginn der Invasion im Deutschlandfunk zu hören war. Denn Tocotronic geht es ja gerade nicht um Weltpolitik, sondern immer nur um die eigenen Befindlichkeiten. Das ist manchmal nebensächlich, aber manchmal eben auch ärgerlich, wenn moralische Imperative zu Ich-Botschaften geschrumpft werden. Früher hätte die Popmusik derartige Schieflagen des Diskurses offengelegt, heute erzeugt sie diese selbst.

Das alte Versprechen des Pop, eine simple Kommunikations­situation zur Heimat zu machen, die jedem offensteht, ist durch die Mechanismen der Musealisierung und Monetarisierung als Lüge entlarvt. Peter Jacksons dreiteilige Revision des »Get Back«-Projekts der Beatles zeigte im letzten Jahr sehr schön, welch feierliche Ratlosigkeit die Anschauung nämlichen Diskurses in heutigen Kultur­schaffenden erzeugt – und wie dick die Samthandschuhe sind, die das mitunter interessante, manchmal komische, über weite Strecken aber eben auch gleichförmige Film­material zu einer nicht enden wollenden Dokumen­tation vergangenen Glanzes formen.

Dabei zeichnet die Protagonisten des Films das genaue Gegenteil seiner Machart aus: Sie nehmen die Kunst ernster als ihr zu diesem Zeitpunkt schon millionenschweres Personal. Und dies mit guten Gründen. Die nicht sinnvoll zu bestreitende Bedeutung der Beatles resultiert seit Beginn ihrer Laufbahn aus der Kombination von ästhetischer Komplexität und formaler Einfachheit. Der Geist der Avantgarde durchweht die Songs genauso wie der natürlich ökonomischen Zwängen und menschlichen Bedürfnissen folgende Alltag ihrer Hörerïnnen. Dieses alles umfassende, alles vermittelnde Gespräch ist heute verstummt, weil offenbar über allen Authentizitäts- und Credibility-Versprechen, allen Geburtsbildern und Aufstiegsphantasmen die Alterität und Spezifik der popmusikalischen Sendung aus dem Blick geriet.

Aber ›no worries‹. So wie man den bürgerlichen Realismus gemeinhin mit dem Tod Fontanes enden lässt, mag irgendwann David Bowies Exitus als Epochengrenze gelten. Die populäre Musik wird sich andere Kanäle suchen und andere Formen geben, wird als Sujet der Sozialen Netzwerke und audiovisuellen Medien eine Renaissance erfahren, deren Protagonisten heute schon geboren sind und zum Teil bereits produzieren. Nur die alte Tante Popmusik, deren Texte immer zugleich Botschaft und Poesie waren, die aus schnöden Handbewegungen Haltungen abzuleiten vermochte, den gesellschaftlichen Rändern eine Stimme gab und dem Establishment eine Möglichkeit, sich zu blamieren, die so unwichtig war, dass man ihr sein Leben schenkte – diese Popmusik ist, um The Smiths zu zitieren: »dead«.

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