Die Suggestion von Sicherheit
von Hans J. Wulff
16.12.2025

Die Klänge der Spieluhr im Film

Um Spieldosen (und manchmal auch: Spieluhren oder sogar im Inneren von Puppen verborgen) zum Klingen zu bringen, muss man an einem Bändchen ziehen, um das Federwerk zu spannen – und schon beginnen sie zu spielen, weil man damit ein mechanisches Musikinstrument (meist ein Glockenspiel oder eine mit rotierenden Stahlstiften und klingenden Metallzungen operierende Apparatur) zu einem kurzen Spiel in Gang setzt. Manchmal sind Spieluhren in Taschenuhren integriert, die zu spielen beginnen, sobald man den Deckel der Uhr öffnet. Als sollten sie unterstreichen, dass nun Zeit ist, die Zeit zu nehmen. Und sie zentrieren die Aufmerksamkeit des Besitzers auf die Uhr selbst. Oft hängen solche Spieldosen über den Wiegen von Kleinkindern, als akustische und visuelle Faszinosa – und gerade sie nehmen fasziniert in Augenschein, woher der Klang kommt. Sei es, dass es gelernte Routine ist, sei es, dass die mechanische Folge der Töne einschläfernde Wirkungen hat: sie treten bald in einen Zustand beginnenden Schlafens ein. Beruhigung, die Suggestion von Sicherheit, die Präsenz tröstender Musik – da mag vieles zusammenkommen, das den Übergang vom Wachen zum Schlafen nahelegt. Zweifelsohne das meistgenutzte Spieluhr-Motiv ist das »Wiegenlied« von Johannes Brahms (1868), das, selbst der Volkstradition entstammend, in Dutzenden von Filmen erklingt. Das kurze Biopic »Guten Abend – gute Nacht« (Deutschland 1936, Jürgen von Alten) nutzt das Lied sogar zur Benennung des ganzen Films.

Gerade weil dieses szenische Vorstellungsbild der frühen Kindheit so weit verbreitet ist, sind Spieluhr und Spieldose Objekte, in denen sich gerade auch die andere Welt der Affekte spiegeln kann, die Welt der Angst, der Bedrohung, der Unsicherheit und des Realitätsverlustes. Es ist eine Handlungswirklichkeit, die der Spieluhrszene strikt gegenübersteht. Natürlich finden sie sich in vielen Filmen, in denen Väter oder Mütter für das Kind eine Szene des Friedens und der Sicherheit inszenieren. Und manchmal entdeckt man Szenen wie die nur einminütige Sequenz »Let Me Show You How to Dance« aus dem Film »Miss Potter« (»Die zauberhafte Welt der Beatrix Potter«, Großbritannien/USA/Isle of Man 2006, Chris Noonan, Musik: Nigel Westlake), die die spätere Beziehung der Titelheldin zu ihrer Lebensliebe begründet und die mit einer Spieluhr unterlegt ist, die unter der Hand die fraglose Intimität des Paares unterstreicht. Zur kommunikativen Bedeutung des Wiegenliedes gehört auch die Unterstellung der Schutzlosigkeit des Adressaten, ebenso wie die Versicherung, dass er sich aus der optionalen Skepsis der Realitätswahrnehmung zurückziehen kann, ein implizites Versprechen des Schutzes, gleichgültig, ob deren Quelle personalisiert (und sichtbar) ist oder nicht.

Der Schlaf- oder Wiegenlied-Effekt, den die meisten Spieldosenmusiken auslösen, verliert mit zunehmendem Alter der Kinder seine Wirkung; doch bleibt die kulturelles Stereotyp gewordene Vorstellung der unaufgeregten Nähe von Wiegenlied, Spieldose und Geborgenheit als Szenenhorizont der Musik erhalten. Und gibt eine Affektfärbung an die Erzählung ab, die nicht auf Kinder angewiesen ist, sondern die Enthobenheit und Eigenzeitlichkeit insbesondere von Liebesszenen unterstreichen kann; die amerikanische Westernkomödie »From Noon Till Three« (»Zwischen Zwölf und Drei«, USA 1975, Frank D. Gilroy, Musik: Elmer Bernstein) ist eigentlich eine semiotische Groteske über Legenden von Männern und Frauen, die an Geschichte und Mythos der amerikanischen Nation mitgewirkt haben. In der Kerngeschichte über einen Gangster und Outlaw (Charles Bronson), der bei einer Witwe (Jill Ireland) Unterschlupf sucht und die Frau zu einem dreifachen Schäferstündchen bewegen kann, tanzen die beiden zu den Klängen der Spieluhr der Frau.

Und doch bleibt der Effekt wirksam, wenn auch nur als Gegenentwurf der Geschichte, von der die Filmerzählung handelt. So unschuldig und lieblich das Spiel der Dosen und Uhren anmutet, um so naheliegender ist in den Genrekonventionen des Horrorfilms die latente Präsenz des Todes, des Bösen, des Unheimlichen. Und oft wird diese zunächst nur formale Annahme in der Vergangenheit des Spielgeräts, meist sogar in der Vergangenheit der Protagonistenfigur narrativ begründet. Etwa in »Die Zärtlichkeit der Wölfe« (BRD 1973, Ulli Lommel, Musik: Peeer Raben) über die Geschichte des Jungenmörders Fritz Haarmann, in dem der leise zu den Morden erklingende Spieluhrenklang wie ein Kontrapunkt der düsteren Geschichte wirkt. Noch deutlicher auf die Kindheit der Heldenfigur und eine fatale Mutterbindung verweist »Ensayo de un crimen« (»Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz«, Mexiko 1955, Luis Buñuel): Der von einer Spieluhr gespielte, von Émile Waldteufel komponierte Walzer »El principe rojo« motiviert de la Cruz (Ernesto Alonso) zu seinen Frauenmorden, in einer fast hypnotisch anmutenden Art und Weise. Auch die Verkehrung des Motivs funktioniert: Wenn in dem Edgar-Wallace-Film »Die Tür mit den sieben Schlüsseln« (BRD 1962, Alfred Vohrer) eine Spieluhr-Melodie ertönt, die das mordende Monster an die eigene Kindheit erinnert, gibt es seine Mordgelüste sofort auf.

Kindheits- und sogar Jugenderinnerungen sind Teil der Arbeit an der eigenen Biographie, auch wenn sie wie ein Trauma das ganze Leben überschatten. Das wohl bekannteste Beispiel der Filmgeschichte ist »Hush…Hush, Sweet Charlotte« (»Wiegenlied für eine Leiche«, USA 1964, Robert Aldrich, Musik: Frank De Vol). Der Titel referiert auf das Lied, das von einer alten Spieluhr ertönt, die auch das Medaillon des Vaters der Heldin enthält, den sie selbst für den Mörder gehalten hatte. Das Lied erinnert die Heldin (Bette Davis), die einst des Mordes an ihrem verheirateten Geliebten beschuldigt wurde, an eine Beziehung, die nie Erfüllung fand, durch den Tod des Mannes brutal abgebrochen wurde. Vierzig Jahre später steht sie immer noch im Bann des Liedes, belastet von der nie geklärten Schuld an ihrem Bewerber. Sie spielt es immer wieder auf dem Cembalo, singt es sogar in einer kompletten Fassung im Film. Eine wahre Kette unerklärbarer Phänomene beginnt, bis zur Halluzination der geköpften Gestalt des einst Geliebten – aber es ist eine späte Intrige, keine Folge der obsessiven Bindung der Heldin an den toten Geliebten; eigentlich geht es den Intriganten um das Vermögen der Heldin, sie inszenierten das verstörende Geschehen. Es gelingt ihr jedoch, die Intriganten umzubringen, das Ende bleibt aber offen.

Andere Verwendungen der Spieluhr im Film lösen sich aus der Wiegenlied-Allusion, interpretieren sie als Dingsymbol, das narrative Kernfunktionen erfüllen kann. Vor allem in Kriminalhandlungen sind Spieluhren manchmal Beweisstücke, die Bösewichte als (niedliche oder wertvolle) Beutestücke haben mitgehen lassen. In dem Miss-Marple-Film »Murder She Said« (»16 Uhr 50 ab Paddington«, Großbritannien 1961, George Pollock) ist ein Puderdöschen mit Spieluhr (sie spielt »Frère Jacques«) das Beweisstück, das einen Mehrfachmörder seiner Taten überführt. Eine ganze Reihe von Kriminalfilmen haben nicht so sehr die kommunikative, sondern vor allem die dingliche Seite der Objekte angenommen. Eher zufällig stößt die Verteidigerin (Jessica Lange) in »Music Box« (»Music Box – Die ganze Wahrheit«, USA 1989, [Konstantin] Costa-Gavras, Musik: Philippe Sarde) auf eine Spieluhr, in der Photos versteckt sind, die beweisen, dass Mike Laszlo (Armin Mueller-Stahl), der Vater der Anwältin, der schwerster Kriegsverbrechen während der Nazi-Zeit angeklagt ist, tatsächlich schuldig ist – und übergibt die Beweisbilder auch nach dem bereits erteilten Freispruch der Staatsanwaltschaft.

Vor allem die Italowestern der 1960er und 1970er haben diese Spur aufgenommen. Ein sehr bekanntes Beispiel ist »Per qualche dollaro in più« (»Für ein paar Dollar mehr«, Italien 1966, Sergio Leone, Musik: Ennio Morricone): Der Filmböse (Gian Maria Volonté) hat der Frau, die er vergewaltigt und umgebracht hat, eine Taschen-Spieluhr gestohlen. Ihr Spiel ist wie eine Erinnerung an die Vergewaltigung. In der Geschichte des Films ist die Uhr bzw. die Melodie, die sie spielt, der Beweis des Todes der Frau, des Diebstahls der Uhr, der Täterschaft des Diebs. Und sie signalisiert die Motivation der Rache des Bruders der Toten (Colonel Mortimer, gespielt von Lee van Cleef). Der Klang der Uhr durchzieht den Film wie eine Drohung. Und sie eröffnet das Finale, signalisiert so bis zum Finale die Unschuld und Schönheit der jungen Frau und die Schändlichkeit des Verbrechens, dem sie zum Opfer fiel. Als würde an ihre Jugend, ja ihre Kindlichkeit erinnert. Auch andere Italowestern nutzten Spieluhren als Signalement von guten wie bösen Figuren; ein höchst ambivalenter Fremder mit Spieluhr und schwarzen Gewand, der sich Sartana (Gianni Garko) nennt, taucht etwa in »Se incontri Sartana prega per la tua morte« (»Sartana – Bete um deinen Tod«, Frankreich/BRD/Italien 1968, Gianfranco Parolini, Musik: Piero Piccioni) auf, tötet diverse Konkurrenten, die in den Besitz eines Goldtransporters gelangen wollen. Selbst in einem C-Western wie »La vendetta è il mio perdono« (»Django – sein letzter Gruß«, Italien 1967, Roberto Mauri, Musik: Giancarlo Bizzi) taucht eine Spieluhr am Ende auf, die die Mörder einer ganzen Familie entlarvt, die vorher von ihnen umgebracht worden war.

Im Horrorfilm erlangen Spieluhren gar ein Eigenleben als Akteure des Bösen. Ein bekanntes neueres Beispiel ist »Wish Upon« (USA 2017, John R. Leonetti), in dem ein junges Mädchen (Joey King) von seinem Vater eine chinesische Spieluhr geschenkt bekommt, deren Beschriftung behauptet, dass sie alle Wünsche erfüllen könne. Doch ist sie wohl vor allem für diverse Tode und Morde verantwortlich. Ähnlich angelegt ist »Jeux d’enfants« (»Liebe mich, wenn du dich traust«, Frankreich 2003, Yann Samuell), in dem sich eine Spieluhr als magisches Zaubermittel erweist, das mit den gewohnten Bedeutungen der Spieluhr kaum noch etwas zu tun hat.

Schreibe einen Kommentar