Kapitalistische Fiktionen / fiktionales Kapital
von Robin Curtis
09.12.2025

›Bullshit‹ und Kapitalismus erzählen

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 10-16]

In einem 1986 erstmals veröffentlichten Aufsatz bezeichnete der Philosoph Harry Frankfurter den ›Bullshit‹ als »one of the most salient features of our society« – eines der hervorstechendsten Merkmale unserer Gesellschaft. Seiner Ansicht nach unterscheidet sich ›Bullshit‹ von einer Lüge dadurch, dass die Person, die ›Bullshit‹ produziert, sich nicht um Tatsachen kümmert und sich stattdessen ausschließlich auf die Art und Weise konzentriert, wie sie von anderen gesehen wird. ›Bullshit‹ ist nicht mit der Sorge um die Wahrheit verbunden. Anstelle von Faktualität oder Fiktionalität als Maßsysteme hebt Frankfurter die Handwerkskunst hervor, welche die Herstellung von Bullshit mit sich bringt. Das erscheine insofern paradox, als die Produktion von Exkrementen, die durch das Wort ›shit‹ suggeriert wird, keine solche Aufmerksamkeit für Design oder Handwerk erfordere. Wie Frankfurter es ausdrückt: »The notion of carefully wrought bullshit involves, then, a certain inner strain«; aber mehr noch als eine »gewisse innere Anstrengung« beinhaltet der »Begriff des sorgfältig ausgearbeiteten Schwachsinns« die Kenntnis von Normen und Grenzen und darüber hinaus, was vielleicht am grundlegendsten und faszinierendsten ist, eine Form der Selbstvergessenheit, die durch das Spiel mit und die Übertretung solcher Normen und Grenzen entsteht.

Wenn dies tatsächlich eines der hervorstechendsten Merkmale ›unserer‹ Gesellschaft ist, welche Gesellschaft genau ist dann Gegenstand von Frankfurters Analyse? Die Veröffentlichung dieses Textes in seiner ersten Auflage fiel zeitlich mit der Umsetzung angebotsseitiger »trickledown«-Wirtschaftsstrategien zusammen, wie sie von den Ökonomen der Chicagoer Schule (insbesondere den Nobelpreisträgern F.A. Hayek oder Milton Friedman) in den USA und im Vereinigten Königreich vertreten wurden. Den Regierungen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher war gemeinsam, dass sie auf eine weitreichende Deregulierung, die Reprivatisierung von zuvor in staatlicher Hand befindlichen Wirtschaftszweigen (z.B. Verkehr und Versorgungsbetriebe), den Abbau von Sozialprogrammen und die zunehmende Betonung des Einzelnen als Herr und Sklave seines eigenen Schicksals drängten. Die erweiterte Veröffentlichung von Frankfurters Text durch die Princeton University Press im Jahr 2005 und seine anschließende Bekanntheit zeugen von der Präzision, mit der er auf einige grundlegende Eigenschaften des neoliberalen Kapitalismus angewandt werden kann, und von einer spürbaren zeitgenössischen Abneigung in einer Vielzahl von Bereichen, Faktizität, Wahrhaftigkeit, das Materielle, das Konkrete oder Beweise als Kriterien für die Entscheidungsfindung und die Beurteilung von Situationen zu betrachten.

›Bullshit‹ ist etwas anderes als Betrug. Betrug ist natürlich nichts Neues, weder im faktischen noch im fiktionalen Bereich. Erich von Stroheims »Foolish Wives« von 1922, der damals teuerste Film aller Zeiten, der die Universal Studios über 1.000.000 Dollar kostete (bevor die Produktion eingestellt und von Stroheim als Regisseur entlassen wurde), feiert dieses Jahr seinen 100. Geburtstag. Der Film etablierte die Figur des herrischen und moralisch gleichgültigen aristokratischen russischen Emigranten, der sich auf der Flucht vor der Revolution mit Leichtigkeit als fiktives Konstrukt ohne Identifikation oder Hintergrundgeschichte durch die Gesellschaft bewegt, ähnlich wie es der Regisseur des Films (ein herrischer und moralisch gleichgültiger Österreicher) in Hollywood tat. Der Film trug nicht unwesentlich zu der Besorgnis über die allgemeine moralische Verworfenheit Hollywoods in den 1920er Jahren bei, die schließlich zur Einführung der Zensur durch den Production Code im Jahr 1934 führen sollte. Aber »Foolish Wives« unterscheidet sich von den neueren Untersuchungen zu ›Bullshit‹, um die es hier geht, dadurch, dass von Stroheims Graf Karamzin zumindest in der erhaltenen Fassung des Films schwer bestraft wird, indem er getötet und in die Kanalisation geworfen wird. Die neoliberalen Verursacher von ›Bullshit‹ werden für ihre moralische Verwerflichkeit nicht hart bestraft. Stattdessen sind sie Objekte der Faszination, die in einer Vielzahl medialer Formen ausführlich untersucht werden, um die Mittel aufzuzeigen, mit denen digitales Kapital, Soziale Medien, Reality-TV, Überwachungskapitalismus und Unterhaltungswert zusammenwirken, um eine ›Bullshit‹-Erzählung zu unterstützen – bis hin zum Weißen Haus.

Die von HBO produzierte Sitcom »Veep«, die zwischen 2012 und 2019 lief, folgte den Geschicken einer fiktiven amerikanischen Präsidentschaftskandidatin, die nach ihrer Niederlage bei der Nominierung als Kandidatin den weithin verspotteten Trostpreis der Vizepräsidentin erhält. Selina Meyers, gespielt von Julia Louis-Dreyfus, lässt Mitgefühl, Wissen, Moral oder Ernsthaftigkeit völlig vermissen, ist aber eine brillante Darstellerin auf der politischen Bühne, die gut und passend aussieht und über das nötige Netzwerk verfügt: Sie hat zu keinem Thema eine Position und versucht stets, in jeder Situation die politisch zweckmäßigste Aussage zu treffen. Bei der Erstellung dieser Inhalte verlässt sie sich ganz auf ihre Mitarbeiter. Sie sind genauso opportunistisch und unflätig wie Meyers, aber unermüdlich. Indem »Veep« die der Serie »The West Wing« (1999-2006) zugrunde liegende Fantasie des amerikanischen Präsidenten als hochgebildet (ein Wirtschaftsnobelpreisträger), fleißig und weise, unterstützt von einem ebenso hervorragenden Mitarbeiterstab, ins Lächerliche zog, zeigte es die Funktionsweise des Systems ›Bullshit‹ in einer fiktiven politischen Welt. Seine komödiantische Wirkung wurde jedoch durch den grenzenlosen Opportunismus des siegreichen Kandidaten der amerikanischen Wahlen von 2016 und die Präsidentschaft von Donald Trump gedämpft, der selbst außerhalb von New York City durch den propagierten Opportunismus des »Apprentice«-Franchise zu Ruhm gekommen war. Gleich ab der ersten Folge werden Bildung und Weisheit ins Lächerliche gezogen (der erste Kandidat, der aus der »Apprentice«-Show gedrängt wird, hat sowohl einen Abschluss in Medizin als auch einen MBA); stattdessen erhalten offenkundig betrügerische Verkaufstaktiken seitens eines anderen Kandidaten einen großen Teil der Sendezeit und stillschweigende Billigung.

Während die neoliberale Wirtschaftspolitik seit den 1980er Jahren weltweite Auswirkungen hat, üben die USA nach wie vor eine besondere Anziehungskraft auf die Verfechter des ›Bullshit‹ aus, da das Sprichwort ›vestis virum facit‹ (Kleider machen Leute) insbesondere in einer Gesellschaft gilt, die wenig Interesse an Geschichte und Bildung hat. Clark Rockefeller wurde in Mark Seals Buchfassung seines Berichts über Rockefellers Karriere, der 2008 in der »Vanity Fair« erschien, als Träger einer »booming, rich-boy’s lockjaw voice« charakterisiert. Gekleidet in ›well-worn‹ Chinos, Dockingschuhe ohne Socken, Lacoste-Poloshirts oder Button-down-Hemden mit Blazer, trug er die männliche Uniform des Privilegs. Er behauptete, ein wohlhabender Nachfahre des Gründers von Standard Oil, John D. Rockefeller, zu sein. Er speiste im Algonquin, er segelte in Cape Cod, er zahlte in bar (mit dem Geld seiner Frau). In Wirklichkeit wurde er in Deutschland als Christian Gerhartsreiter geboren, war unter einer Reihe von Namen bekannt (Christopher Kenneth Gerhart, Christopher Chichester, Chris C. Crowe und Charles Chip Smith) und hatte seit 1978 eine Reihe von Berufen ohne jegliche Qualifikation ausgeübt: Physiker, Wertpapierhändler, Filmproduzent, Kardiologe. Macht nichts, denn: »Die Tatsache, die der ›Bullshitter‹ über sich selbst verbirgt, ist, dass der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen für ihn nicht von zentralem Interesse ist.« Ein Clark-Rockefeller-Film, der auf Seals Buch basiert, ist zwar schon seit einigen Jahren in Arbeit, wurde aber 2022 von dem von Shonda Rhimes produzierten Film »Inventing Anna«, der lange auf der Liste der Top-Ten-Hits des Streamingdienstes stand, im Rennen um Netflix-Prominenz geschlagen.

Die spezifische Medienökologie des zeitgenössischen Lebens steht im Mittelpunkt der Eröffnungsszene der Serie und legt die Forschungsfrage der Erzählung fest: Ist Anna Delvey ausreichend unterhaltsam? Der langsame Niedergang der Printmedien und die spezifische Form des investigativen Journalismus, der auf Charakterinterviews und Hintergrundgeschichten basiert und von Mark Seal für »Vanity Fair« und Jessica Pressler für das »New York«-Magazin durchgeführt wird, sind von zentraler Bedeutung für die Erzählung von »Inventing Anna«. Die traditionellen Printmedien befinden sich auf verlorenem Posten gegenüber den Influencern der Sozialen Medien und dem Infotainment der amerikanischen Medien. Eine Gruppe erfahrener Enthüllungsjournalisten agiert als Chor, während sie niedergeschlagen, nicht ausgelastet und ohne größere Anerkennung an ihren Schreibtischen beim fiktiven »Manhattan«-Magazin sitzen. Pressler selbst (hier Vivian Kent genannt) wird von Anna Chlumsky gespielt, die Selina Meyers Stabschefin in »Veep« verkörperte und der Figur der Reporterin ein Echo der verschwitzten Verzweiflung und moralischen Ambivalenz der früheren Rolle verleiht. Die Entfaltung der Geschichte von »Inventing Anna« wird von der Suche des Reporters nach der ›backstory‹ von Anna Delvey umrahmt; Mitarbeiter werden aufgespürt und befragt, und die Hintergrundgeschichte der Figur wird enthüllt. Die Serie wird jedoch ausschließlich von Anna Delveys Ich-Erzählerin in ihrer flachen und affektlosen, aber vage deutsch bzw. mitteleuropäisch akzentuierten Stimme erzählt. Diese Ich-Erzählerin prägt auch das Weltbild der Serie. Delveys universelle Verachtung ist spürbar, wenn sie sagt: »I work for my success. I earn my accomplishments. Pay attention: maybe you can learn to be smart like me. I doubt it.« Die Show schwelgt in ihrem Fleiß und ihrer grenzenlosen Liebe zum Detail bei teurer Kleidung, Verhalten, sozialer Rangordnung und sogar bei den Vernetzungsprozessen, die den kapitalistischen Investitionen selbst innewohnen. Man fragt sich schließlich, ob Anna Delvey weiterhin als betrügerische Investorin angesehen worden wäre, wenn sie tatsächlich den von ihr gewünschten Kredit von der Private-Equity-Firma Fortress Investment Group erhalten und den von ihr geplanten Soho-House-ähnlichen Club gegründet hätte. Ist das Kapital, um das es in »Inventing Anna« geht, nicht ebenso fiktiv wie Donald Trumps Geschäftssinn und sein Vermögen? Eine solche Investition, wie sie Delvey der Fortress Investment Group vorschlug – und die von ihr angenommen wurde –, basiert, auch wenn der immer versprochene, aber nie erbrachte Nachweis von Vermögenswerten (die in der Tat fiktiv waren) fehlt, auf Zukunftsprojektionen der Lebensfähigkeit der sozialen Verbindungen und dem Fleiß, den die Figur während der gesamten Serie demonstriert.

In seinem 2017 erschienenen Buch »Fictitious Capital: How Finance Is Appropriating Our Future« (2014 ursprünglich auf Französisch) argumentiert der Wirtschaftswissenschaftler Cédric Durand, dass fiktives Kapital die gegenwärtige, sich ausbreitende Finanzialisierung der globalen Volkswirtschaften vorantreibt, was für Durand ein Zeichen des Niedergangs ist. Der Begriff wurde erstmals 1805 verwendet, um den fiktiven Charakter des Kapitals zu beschreiben, der die Spekulation anheizt, wenn eine Diskrepanz zwischen den Goldreserven und dem umlaufenden Papiergeld besteht, und war durchweg abwertend. Von Marx in »Das Kapital«, Band III, popularisiert, wird mit dem Begriff heute die Spannung zwischen der dynamischen Spekulation und »ihrer losen, aber notwendigen Beziehung zum fundamentalen Wert« von Finanzanlagen bezeichnet. Diese Spannung – und in der Tat die fiktionale Qualität – entsteht, weil »die Liquidität, die die Finanzmärkte zu organisieren versuchen«, so Durand, »das Ziel hat, sicherzustellen, dass die Wetten, die Investoren auf den zukünftigen Valorisierungsprozess eingehen, ständig in sofort verfügbaren Wert umgewandelt werden können.« Dies sei ein hervorstechendes Merkmal des gegenwärtigen neoliberalen Kapitalismus. Die in »Inventing Anna« angebotene Erzählung kann als personifizierte Analogie für die Art und Weise betrachtet werden, in der fiktives Kapital in den heutigen Volks- und Betriebswirtschaften eine Rolle spielt.

Es ist durchaus eine dramaturgische Herausforderung, eine Geschichte über das Finden und Verlieren von Kapital zu erzählen. Es ist viel einfacher, sich auf betrügerische oder fiktive Identitäten zu konzentrieren, wenn man auf der Grundlage solcher Geschichten die ›wahren‹ Identitäten von Personen wie Anna Delvey oder Clark Rockefeller untersucht. Dieser Fokus verdeckt allerdings die systemischen Qualitäten der fraglichen Fiktion. Komplexe Darstellungen der Funktionsweise des zeitgenössischen Kapitalismus finden sich jedoch z.B. in »The Good Fight«. Die Serie läuft seit 2017 und wird von Michelle und Robert King und Phil Alden Robinson als Spin-off von »The Good Wife« für den CBS-Streamingdienst CBS All Access/Paramount+ produziert. Dieser Produktionskontext ist zwar international weniger leicht zugänglich, bietet der Serie aber ungewöhnliche Freiheiten. Sie bezieht sich in abfälliger Weise auf aktuelle Ereignisse und Figuren (obwohl die Hauptfiguren fiktiv sind), indem sie die Erlebnisse einer Gruppe von Anwälten verfolgt, die in der bekanntesten historischen afroamerikanischen Anwaltskanzlei in Chicago arbeiten. Während ihrer fünf Staffeln (eine sechste und letzte wird für Ende 2022 erwartet) hat die Serie die Zusammenhänge zwischen juristischer, finanzieller und politischer Korruption untersucht und sich dabei inhaltlich auf hochaktuelle ›blind items‹ bezogen. Auf diese Weise bietet sie höchst plausible Erklärungen für die Art und Weise, in der Macht in allen drei Bereichen schleichend ausgeübt wird. So wird über die Erscheinungsformen und Auswirkungen von ›Bullshit‹ in seinen zeitgenössischen, spezifisch amerikanischen Erscheinungsformen berichtet, angefangen bei den Folgen von Bernie Madoffs Pyramidensystem und der zunehmenden Präsenz von eklatantem ›Bullshit‹ in amerikanischen Gerichten bis hin zum Aufstieg eines eingefleischten ›Bullshitters‹ zum amerikanischen Präsidenten und den Auswirkungen der Verbreitung von ›Bullshit‹ als Taktik auf jeder einzelnen Regierungsebene. In der letzten Staffel ging es um Korruption und Drohungen innerhalb der Justiz und am anderen Ende des Spektrums um die rasante Ausbreitung von Selbstjustiz, etwas, das während der gesamten Präsidentschaft Trumps in Tweets und bei Reden auf Kundgebungen immer wieder propagiert wurde (von »lock her up« 2016 bis ›string him up‹ am 6.1.2021). Kürzlich verrieten die Macher in einem Interview, dass die letzte Staffel in einem Bürgerkrieg in Amerika gipfeln wird. Die Serie bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen Faktizität und Phantasmagorie und erforscht zunehmend die psychologischen Auswirkungen von ›Bullshit‹ als »one of the most salient features of our society«: Wie können wir überhaupt das Absurde oder sogar eine drogeninduzierte Halluzination erkennen, wenn nichts unmöglich oder sogar unwahrscheinlich ist?

Die Verflechtung von fiktionalen und zeitgenössischen faktischen Diskursen, die durch die hier angeführten Beispiele demonstriert wird, bietet einen Einblick in die verschiedenen Kräfte der Überredungskunst, Überwachung und Disziplinierung, die gegenwärtig am Werk sind. Sie verfremden und überhöhen aktuelle Ereignisse bis ins Absurde, während sie gleichzeitig zeigen, wie derartige Entwicklungen möglich werden und sich dann scheinbar reibungslos vollziehen.

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