Rezensionsessay: Eckhart Nickel, Joshua Groß, Konrad H. Roenne
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 118-122]
Carl, eine der Hauptfiguren aus »Spitzweg«, dem zweiten Roman von Ex-»Tristesse Royale« Eckhart Nickel, begegnet in der merkwürdigen Gestalt »eines umherwandelnden Orakels, das unentwegt Sinn in die Welt« trägt. Malerei habe ein handwerkliches Ethos, mit dem sie sich »in den Dienst des Sichtbaren« stelle, verkündet er (mit einem seiner Heroen, dem Maler Balthus); und das sei eine »Frage der Moral«, der »Weltanbetung«, der »Kunstreligion«. – »Rilke würde sagen: ›Mir zu Feier‹. Eine Tasse Tee gefällig?«
Ist das Ironie oder ist da tatsächlich der »BIG SINN« zurück im Pop? Der »Sausinn«, den Rainald Goetz einst mit aufgeschlitzter Stirn beim Klagenfurter Wettlesen »kurz und klein« zu schlagen forderte, »damit wir die notwendige Arbeit tun können«? Und jetzt dann vorwärts in eine leicht modal abgetönte Vormoderne? Auch in Joshua Großʼ neuem Roman »Prana Extrem« liest man den »altväterlichen Gedanken«, dass Kunst sich (diesmal mit van Gogh) »einer unsagbaren Vollkommenheit gegenüber finde« und deshalb auch »nur an sich selbst scheitern« könne, ja müsse, »weil diese Vollkommenheit unsagbar« sei. Der gute alte Romantik-Trick: erst die Kunst autonom setzen, dann zu einem Ausdruck des Absoluten erklären, dann merken, dass das rein logisch nur unter ironischer Dauerselbstdurchstreichung gelingen kann?
Nickels Roman singt aber tatsächlich das Loblied der »unerbittlichen Exerzitien«, der »Fingerübungen«, »dank ihrer Monotonie fast so nachhaltig wie das Memorieren von Vokabeln«. Porträt des Künstlers als disziplinierter junger Mann: »Genau das war es, wonach ich mich wie nichts sonst sehnte, weil Jugend schon an sich Zwielicht genug war, mit seiner Grauzone des Ungefähren, dieser unendlichen Dämmerstunde aus Andeutungen und lebensverachtender Ironie«. »Die vielen Tausend Sprünge, die man macht, sind fast nur ein einziger Sprung, aber jedes Mal wird es unmerklich intensiver«, weiß auch der sechzehnjährige Michael in »Prana Extrem«. Skispringen als Leistungssport – wohlgemerkt: im Sommer – könne zur »Transzendenzerfahrung« werden, sekundiert seine Schwester und Trainerin, ein Vorgang, für den man freilich »Pranamuskulatur« brauche, die Fähigkeit »jeden Muskel zu kontrollieren, jede Faser eigentlich«. »Arg« findet das Joshua, der autofiktionale Erzähler, und muss ob solchen »Geheimwissens« an »eine depperte Weisheit von Lil Wayne denken, die so geht: My picture should be in the dictionary / next to the definition of ›definition‹ / Because repetition is the father of learning.«
»Definition of ›definition‹« – das ist nicht etwa tautologisch, sondern schreibt den aus Großʼ Vorgängerroman »Flexen in Miami« bekannten Modus des Flexens fort, der dort ebenfalls prominent von einem (allerdings fiktiven) Rapper namens Jellyfish P vertreten wurde. »›Definition‹« bezieht sich hier zunächst auf Muskeln oder die Schärfe eines Bildes, auch eines sprachlichen. Und die durch die Anführungszeichen markierte Vorbehaltlichkeit dieses Konzepts ist komplexer als Ironie; sie entsteht – wie so oft im Pop – durch das Verfahren der Nebenordnung, das nicht nur ganz selbstverständlich Lil Wayne und van Gogh aufeinander bezieht, sondern auch deren Kunst mit dem Skispringen engführt – mit kanonischer Unterstützung durch Werner Herzogs Skispringer-Doku »Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner« (1974).
Solche Nebenordnung ebnet nicht ein; sie ist kein Fall des bulimischen Zugleichs digital erinnerbarer Welten, das, wie Mark Fisher und Simon Reynolds beklagten, mit dem Verlust jenes unbekümmerten Zukunftsversprechens einhergeht, das Pop angeblich zu eigen war. Wiederholung schlägt hier vielmehr über das Technische um in einen ästhetischen Modus der Sensibilität, eine Form erhöhter Aufmerksamkeit, die selbstverständlich auch von dem nicht wegschaut, was durch unser geschärftes Krisenbewusstein deutlich markiert ist: dass wir »den Planeten geschreddert«, »Vernichtungszusammenhänge erschaffen« haben und das Ganze jetzt schlicht »wieder von Neuem aufbauen müssen« (so Joshuas Partnerin Lisa). Nur dass es, ästhetisch gesprochen noch »niemand« so recht »kapiert hatte, dass es, um beispielsweise mit Fler zu sprechen, immer auch um Entertainment geht«. Mit Roland Barthesʼ »S/Z« gefasst: Die Krise des Planeten verlangt eine Aufmerksamkeit, der nicht ausschließlich mit den Stereotypen der »politischen« oder »didaktischen Sprache« gedient ist. Deren schlechte Wiederholung des Immer-schon-Bekannten ist nämlich definitiv kein Fall von »repetition« als »father of learning«, sondern eher von ideologischer Selbstbestätigung. Dagegen geht es in Großʼ Denken in Bildern darum, die Kategorien und Paradigmen zu verschalten und zu kreuzen und dadurch offen und unkategorisch zu bleiben: »alles kann existenzielle Grenzerfahrungen auslösen, die Zukunft ist überall, nur nicht in der Unantastbarkeit. Es gibt Energie, entfesselte Energie, und es gibt Wachheit«.
Dem Ziel, »jeglicher Future-Flauheit abzuschwören«, kann man sich zum Glück nicht nur per Extremflexen nähern, sondern auch mal im Schlurchmodus, im Swerve, der bei Groß mit erstaunlicher Energetik Haken schlägt: »Endlich wieder zurück nach Kurbruck, dachte ich, monatelang swerven«. Und so kommen genauso häufig wie die Libellen, die sich im durch den Klimawandel tropisch aufgeheizten Kurbruck bis zu zwei Meter Riesengröße auswachsen, Automobile vor, die für ihre Spezies ähnliche Gigantomanie bedeuten: »Endlich wieder SUV«, seufzt der Erzähler hingerissen, und solche Abweichungen vom klimapolitisch Erwartbaren erhalten dieser Prosa das Moment des Rapmäßig-Krass-Entspannten. Mit Young M.As »Kold World« zu sprechen: »It’s a cold world, burr burr, buy a fur«, und weiter im Songtext: »N***s actinʼ like they in your lane, then they swerve.« Die wirklich coolen Texte tun nur so, als wären sie auf einer Linie mit dir, und dann machen sie einen Schlenker, der dich wach hält: Swerve als ästhetisches Prinzip. Schon Stephen Greenblatts Buch »The Swerve« hatte gezeigt, wie Lukrezʼ Denken eines energetischen »unexpected, unpredictable movement« von Kleinigkeiten der Materie die Moderne – verpackt in elegant ausdefinierte Hexameter – ins christliche Abendland schmuggelt und dessen doktrinäre Stabilität in nie mehr kontrollierbarer Weise in Bewegung bringt.
Die Romanfiguren spüren solche Energiequellen überall auf, in Chupa-Chups-Lollies wie im Arche-Fossil des Meteoriten, den sie aus dem Museum stehlen, im Sex wie im Kin-Making mit Oma, Hund Lu und der kleinen Tilde. Oder beim Turmspringen (»Wir brauchten danach mindestens eine halbe Stunde, um ein subatomares Zittern loszuwerden, das unsere Körper in Beschlag genommen hatte. Das taten wir beispielsweise, indem wir Pommes aßen.«). Und Großʼ energetische Prosa trainiert sich und uns dieses Gespür als ästhetisches ein, definiert es aus, bis sie selbst zittert, flext und swervt.
Formaler Ausweis für diese neue Allianz von Handwerk, Energie und narrativem Swerve ist die Ausdefinition der Dialoge in dieser Prosa (die alte Pop-Literatur kam ja eher monologisch daher). Im literarischen Gelingen eines Dialogs erweist sich, ob die andere Seite (die alte Frau, das Kind, der Hund) tatsächlich in ihrem Eigensinn Stimme bekommt und also, inwiefern wirklich ein neues Making Kin greift oder doch nur ein weiteres Mal die eigene Blase performiert wird. Die Dialoge mit der dement-hellsichtigen Mutter in Christian Krachts »Eurotrash« und die zwischen Girls, Zimmerpalme, Pony und Oktopus in Lisa (!) Krusches »Unsere anarchistischen Herzen« haben da neue Standards gesetzt – und Groß nimmt diese Herausforderung ebenso an wie Konrad H. Roennes Debutroman »Hoch Mittag«, der gleich die Insassen eines ganzen Pflegeheims gen Sonnenaufgang reiten lässt. Schließlich sind die Alten von den Plagen unserer Zeit, von der apokalyptischen Hitze bis zum neoliberalen Sozialabbau, ja am stärksten betroffen. Wenn Roennes Prosa deren – oft repetitive – Äußerungen auf einem schmalen Grat zwischen Karikatur und Eigenwert balanciert, bleibt in jeder Zeile klar, was auf dem Spiel steht: »Das Ende ist nah, das müssen Sie nun zugeben! / Na klar, Frau Mattuschka, das wussten wir doch schon. / Immerhin.«
Exkurse zur Heim-Ernährung, -Mobilität und -Kleidung erden den Komplex im Alltäglichen (»Sneakers gingen auch. Empfehlenswert nur für jene, die keine Angst vorm Auffallen haben; es droht die Frage: Was sind das für Schuhe, neu?«). Auch Hund Carola kommt in einem denkwürdigen lyrischen Intermezzo zu Wort, und Axt (eigentlich Zimmermann, aber niemand nennt ihn Dylan) »wusste plötzlich: ständig kommt es auf die Details und die Kleinigkeiten an«.
»Jede Linie mit Verstand, alles durchdacht, das Uninteressante interessant«. Wie dieses schöne Spitzweg-Motto über Nickels Roman in Form einer »analytischen Kunstbetrachtung« umzusetzen ist, lernt der Erzähler anhand der Rubrik »Original und Fälschung« in einer »Programmzeitschrift« seines »Elternhauses« und verfeinert sie im Folgenden zur allgemeinen »Gedankenübung«; quasi der moderne Kulturbegriff aus der »HörZu«. »Es geht um die scheinbar ganz harmlose intellektuelle Geste, irgend etwas für ›interessant‹ zu halten und sich mithilfe des Vergleichswissens, das man sich angelesen hat, Gedanken über dieses Interessante zu machen« (so der Systemtheoretiker Dirk Baecker 2000 in »Wozu Kultur?«).
Zum Beispiel die Pfefferminztäfelchen After Eight, die der Erzähler und Carl in dessen zwischen des Esseintesʼ Landhaus und Etage 7 ½ aus »Being John Malkovich« schimmerndem Retreat als profaniertes »Naschisch« zu sich nehmen. Carl liebt sie »eigentlich fast nur für die schwarz glänzenden Tütchen«: »›Es geht um das herrlich knisternde Geräusch: Hör mal hin!‹« Doch stellt sich sofort der Vergleich ein; denn After Eight hat »in der Kekswelt einen fast ebenso wohlschmeckenden Doppelgänger« namens »Afrika«, den Carl nicht zuletzt »wegen des verheißungsvoll klingenden Namens« liebt – Aisthesis des Profanen, die aber stets auch eine spezifische Anwesenheit von Diskurs bedeutet. Just die Afrika-Täfelchen brachten der Firma Bahlsen auf Instagram 2021 nämlich ein »Shitstörmchen« (Bettina Gaus) ein. Anlass genug für Bahlsen, die Täfelchen in »Perpetuum« umzubenennen (»Das Unendliche umgibt uns nahezu unentwegt«, sinniert Carl angesichts einer Schachtel Sweet Afton-Zigaretten), eine vermeintlich »große Geste gegen Rassismus«, bei der die Produktionsbedingungen und Marktpreise von Kakao weiterhin elegant im Hintergrund bleiben.
Ist es nicht interessanter, die Fingerübungen in »Spitzweg« mit kulturpoetischen Fingerspitzen zu lesen (also mit Greenblatts Swerve), als wie die durchweg begeisterte Kritikerschar von »so viel gespreizter Finger war selten in der deutschen Gegenwartsliteratur« zu schwärmen (Ijoma Mangold)? Balthus ist mit seinen Bildern sehr junger Mädchen in »sexuell aufreizenden« Posen erst 2018 vor dem Hintergrund von MeToo zum »Streitfall« geworden, was Wolfgang Ullrich sehr begrüßt: »Statt pauschal Absolution zu genießen, sollte Kunst von Fall zu Fall neu beweisen, ob für sie eigene Kriterien gelten dürfen« (»SZ«, 7.9.2018). »Was darf Kunst?«, fragt auch die »HörZu« im Frühjahr (22.4.2022) neben ihrer Kolumne »Original und Fälschung«, in der François Bouchers Aktgemälde der 14-jährigen Louise O’Murphy von 1751 zu sehen ist. »Man muss sich mit dem, was ist und gewesen ist, auseinandersetzen«. »HörZu«. Wieder und wieder. Because repetition is the father of learning.
Literatur
Joshua Groß: Flexen in Miami. Berlin 2020.
Joshua Groß: Prana Extrem. Berlin 2022.
Christian Kracht: Eurotrash. Köln 2021.
Lisa Krusche: Unsere anarchistischen Herzen. Frankfurt am Main 2021.
Eckhart Nickel: Spitzweg. München 2022.
Konrad H. Roenne: Hoch Mittag. Berlin 2022.