Die gastronomische Mittellage
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 67-71]
Ottolenghi – damit verbindet man über den Kreis von Anhängern und Spezialisten hinaus schon seit einigen Jahren nicht nur den Nachnamen eines erfolgreichen Kochs, der für die Popularisierung der levantinischen Küche steht. Mittlerweile bildet ›Ottolenghi‹ eine gängige Referenz, die auf die Qualität eines besonderen gastronomischen Stils verweist. Im Film »Bridget Jonesʼ Baby« (2016) gibt es eine Szene, in der Jack Qwant (Patrick Dempsey) versucht, sein ›love interest‹ (Renée Zellweger) wieder von sich zu überzeugen und ein gescheitertes Date nachzuholen. Das entscheidende Requisit bei dieser Rettungsaktion im Zeichen der Liebe: eine große weiße Tüte, die von einer hochpreisigen Modemarke stammen könnte. Darin befindet sich jedoch das Take-Away-Abendessen der beiden, das den verpassten Restaurantbesuch ersetzen soll: »Wir hatten noch nicht mal ein vernünftiges zweites Date. Aber wenn wir eins gehabt hätten, wäre ich mit dir zu Ottolenghi gegangen. Du hättest den gegrillten Lachs genommen mit Pinienkern-Salsa. Unfassbar. Und gesund!« Der Satz verfehlt seine Wirkung nicht. Die Szene endet mit einem leidenschaftlichen Versöhnungskuss.
Was stark nach einer eingekauften Produktplatzierung aussieht, ist zum Zeitpunkt der Filmpremiere für den Koch Yotam Ottolenghi und sein Team eine Überraschung; der ›unfassbare und gesunde‹ Lachs stand in keinem seiner Londoner Restaurants auf der Speisekarte. Während der Rezeptentwicklung für das Kochbuch »Simple« (2018), welches die sonst aufwendigen Zutatenlisten auf maximal zehn Elemente reduziert, wird die Filmszene jedoch nachträglich mit Realitätswert ausgestattet. Im Buch findet sich nun das Rezept zum »Bridget Jonesʼs pan fried salmon with pine nut salsa«.
Yotam Ottolenghi hat bislang acht Beststeller-Kochbücher herausgebracht, zu denen er Lesereisen und Vorträge in Konzerthallen hält. Die Merch-Produkte werden im Online-Shop vertrieben: ›Tableware‹-Linien, Gewürzkollektionen, signierte Bücher und ›Meal-Kits‹, die das echte Ottolenghi-Shakshuka nach Hause liefern. Unter seinem Namen läuft ein Podcast, eine Food-Kolumne im »Guardian«, ein YouTube-Kanal und ein sympathischer Instagram-Feed. Vom Rapper Loyle Carner stammt der Track »Ottolenghi«, auf dem er von einer Zugfahrt erzählt, bei der er sich der Lektüre des berühmten »Jerusalem«-Kochbuchs widmet: »They ask about the bible I was reading. Told them that the title was misleading, labelled it Jerusalem but really itʼs for cooking Middle-Eastern«.
Längst werden die Rezepte nicht mehr als Geheimtipp gehandelt. Der »Ottolenghi-Flavour« kommt den Geschmacksbedürfnissen vieler entgegen, zu deren Ausbildung er selbst nicht unwesentlich beigetragen hat. Tatsächlich gibt es nach einer Recherche im privaten Freundes- und Bekanntenkreis kaum jemanden, der nicht schon nach einem Ottolenghi-Rezept gekocht hätte. Zugegeben, das befragte Umfeld setzt sich wohl mehrheitlich aus »diesen Menschen« zusammen, »die auf dem Markt Granatäpfel eindrücken, um die richtigen zu finden für den Hummus, den man heute Abend zusammen nachkochen möchte«, wie Sophie Passmann in »Komplett Gänsehaut« (2021) den typischen Ottolenghi-Fan aus dem bildungsbürgerlichen Milieu beschreibt, dem von ihr eine Lust am »pseudo-exquisiten Kochen« unterstellt wird.
Um es versöhnlicher auszudrücken: Die Ottolenghi-Küche scheint deswegen eine derart enorme Popularität zu genießen, weil sie eine von der omnivoren Kultur bevorzugte Mittellage zwischen dem Hohen und dem Niedrigen besetzt. Ähnlich wie das Konzept der »Momofuku«-Restaurants in New York, die Noodle-Bars in einfacher Diner-Ästhetik und (!) Filialen mit »Michelin«-Stern betreiben, begann Yotam Ottolenghi mit kleinen Delis, bevor das klassische ›Fine Dining‹-Restaurant »Nopi« öffnete. Unter demselben Banner hybrider Identität laufen die Kochbücher, die zwar »raffiniert« und reich an seltenen Zutaten, aber dennoch »simpel« und zugänglich sind. Auch in Haltungsfragen schaffen sie den Brückenschlag zu einer Foodie-Kultur, die sich einen gewissen Grad an kulinarischer Sophistication auf die Fahne schreibt, ohne jedoch die gewachsene Anspruchshaltung an das ›gute Essen‹ in der Attitüde des Snobs oder des distinktionsbewussten Gourmets vor sich herzutragen.
Überhaupt geht es bei Ottolenghi oft um Gefühle. Angst und Unsicherheit, die einem beim Restaurantbesuch im hochpreisigen Segment angesichts der elitären Codes überkommen könnten, sollen hier gar nicht erst aufkommen. Das Vorbild gibt das Essen in der häuslichen Gemeinschaft ab, das sich von der starren Etikette des gehobenen Restaurants deutlich absetzt. Statt kühler Distanz herrscht eine »gemütliche, verbindende, familiäre Atmosphäre«, so berichtet das erste Ottolenghi-Kochbuch 2008 über deren Küchen-»Philosophie«. Essen soll vor allem Genuss und Freude verschaffen und als inklusives Event zelebriert werden. Gemäß einer Ethik des Teilens wird gemeinschaftlich bestellt, man nimmt das Essen an einer langen Tafel zu sich und lässt sich gegenseitig probieren.
Dieser Zug in die gastronomische Demokratisierung wird auch hinter den Kulissen gepflegt. Hatte sich die Vorstellung vom harten Pflaster der Küche jahrzehntelang am Leben gehalten, stellt man sich die »Ottolenghi Test Kitchen«, in der die Rezepte im Geist des kollaborativen Arbeitens entwickelt werden, als angenehmen, arbeitsrechtlich unbedenklichen Ort vor. In den Kochbüchern, häufig Kooperationen mit anderen Küchenchefs, legt man großen Wert darauf, jeder beteiligten Person Tribut für ihren kreativen Input zu zollen (»Garrys pfannengerührter Spitzkohl«, »Calvins gegrillte Pfirsiche«). Kaum ein Pressebericht kommt ohne eine lobende Erwähnung von »Yotams« wohltemperiertem Charisma aus. Akademisch gebildet, trotzdem bescheiden und empathisch, humorvoll und charmant – das ist das charakterliche Gegenprogramm zu kernigen Typen wie Anthony Bourdain, der einst in »Kitchen Confidential« (2000) das Bild propagierte, man könne ohne Drogen und Testosteron in der Spitzengastronomie gar nicht überleben. Mit dem einsamen Wolf am Kochtopf scheint nun aber endlich Schluss zu sein: Ottolenghi reiht sich in die Riege der neuen »celebrity chefs« in Netflix-Kochshows wie »Salt, Fat, Acid, Heat« mit Samin Nosrat oder »Time to Eat« mit Nadiya Hussain ein, die unter Beweis stellen, dass auch freundliche Personen professionell kochen können.
Das Medium, das diesen Wohlfühlfaktor in die privaten Haushalte transportiert, ist das Ottolenghi-Kochbuch. Obwohl es ein Leichtes ist, sich nahezu jedes Rezept digital und kostenfrei zu beschaffen, hat das den enormen Verkaufszahlen der analogen Variante keinen Abbruch getan. In einem Gespräch im »Guardian« (22.8.2015) diskutieren Yotam Ottolenghi und Tim Hayward darüber, wie Kochbücher in der Praxis rezipiert werden. Schließlich handle es sich dabei um ein äußerst populäres Genre, das zwar nicht ganz mit den »great works of literature« auf einer Stufe stehe, allerdings weitaus mehr Funktionen als die des zweckgerichteten Nachkochens erfülle. Die Rede ist von einem »object that balances utility and entertainment«, das ästhetisch gefallen und affizieren soll, wo doch die meisten Rezepte – seien wir mal ehrlich – sowieso nie gekocht werden. Viel eher wird das Kochbuch im Modus des flüchtigen Durchblätterns rezipiert, um sich dabei von einem bestimmten kulinarischen Stil relativ folgenlos inspirieren zu lassen. Dass Ottolenghis Kochbücher, die der ›coffeetable‹-Optik eines Bildbands ähneln, auch einer bestimmten Formgebung entsprechen, liegt auf der Hand. Die Cover-Gestaltung von »Simple« (2018) ist minimalistisch und abstrakt gehalten (gelbe Zitrone auf weißem Grund), wirkt jedoch durch das Spiel mit farblichen Kontrasten nicht kühl. Es imitiert darin das Restaurant-Design von Alex Meitlis, der sich für weiße Wände und Oberflächen entschieden hat, um die bunten und intensiven Farben des Essens zur Geltung zu bringen.
Nun zum Inhalt: Der hohe Wiedererkennungswert der Speisen wird schon mit einem Blick auf die Zutatenliste deutlich. Dass sich mittlerweile eine eigene Geschmacksklasse herausgebildet hat, die wahlweise als »Ottolenghi-ness«, »Ottolenghi-Flavour« oder einfach der »Ottolenghi-Effekt« bezeichnet wird, verdankt sich dem regelmäßigen Auftritt bestimmter Gewürzsorten. Die Diversifizierung des Gewürzsortiments in großstädtischen Supermärkten führen viele direkt auf den Ottolenghi-Einfluss zurück, der seinem Publikum den Weg aus der Petersilie-Rosmarin-Thymian-Einöde in die Welt der aromatischen Experimente gewiesen habe. Zur neuen Garde gehören Zatar, Sumach, Berberitzen, schwarzer Knoblauch, Granatapfelsirup oder Rosenharissa, welche in den Registern des Herben, Scharfen und Sauren zu der berüchtigten Intensität beitragen, für die Ottolenghi schon im ersten Kochbuch wirbt: »kühne, würzige, intensive und kontrastierende Aromen«, »Farben, die Aufmerksamkeit fordern« und ein »Überfluss an überwältigenden Sinneseindrücken«. Speisen wie der »Currywürzige Eiersalat mit Blumenkohl«, »Knoblauchsuppe mit Harissa« oder der »Apfelkuchen mit Olivenöl« werden selbstbewusst in Szene gesetzt – das Gegenteil von kulinarischer Zurückhaltung also.
Hier ist eine der wesentlichen Abgrenzungslinien zu anderen Zubereitungsmethoden auszumachen. Gleichermaßen wird Frontstellung gegen das industriell gefertigte ›Convenience Food‹ wie die ›Haute Cuisine‹ bezogen. Beide Sparten müssen sich den Vorwurf der Künstlichkeit gefallen lassen. Entweder weil die Essenz der Nahrungsmittel wegen artifizieller Aromen und Zusatzstoffe verblasse oder aber hinter komplexen Garmethoden und aufwendigen Garnituren versteckt würde. Bei Ottolenghi regiert hingegen das Gebot des Echten und Unverfälschten, das zielsicher und unmittelbar an die Sinne appelliert. Eine Rhetorik der Plötzlichkeit zeichnet den Sound der Kochbuch-Texte aus (»Geschmacksexplosion«, »Geschmacksbombe«, »Drama in the mouth«). Während die gemüsezentrierten Mahlzeiten nach gängigen Maßstäben durchaus als ›gesund‹ durchgehen – das lehrte uns ja schon Patrick Dempsey –, soll der Genuss keinesfalls auf der Strecke der unsympathischen Körperoptimierung bleiben. Nach dieser Einstellung geht es beim Essen nicht um Kalorienzählen oder Bekömmlichkeit – also das, was vor oder nach dem Geschmackserlebnis kommt –, sondern ganz und gar um die Unmittelbarkeit des sinnlichen Augenblicks.
Um Gemüse eine Hauptrolle im Kraftzentrum dieser Küche einzuräumen, kommt häufig die Technik der Kontrastierung zum Einsatz. Hatte man früher noch an die delikate Natur des Spargels geglaubt und diesen bloß mit ein wenig Öl und Butter in Berührung gebracht, so könne sich dieser – nach einer Erkenntnis aus dem Kochbuch »Flavour« (2020) – durchaus gegen die Ausdrucksstärke von Limette, Essig und Tamarinde behaupten. Neben wilden Geschmackskonfrontationen wird die neue Direktheit über Farb- oder Temperaturkontraste erzielt (z.B. »heiße Tomaten auf kaltem Joghurt«). Von der »gekühlten Avocadosuppe mit Knoblauchöl« heißt es da weiter: »eine gekühlte Suppe, aufgeschreckt aus ihrem sommerlichen Nickerchen vom Punch eines würzigen Öls, das von einer körnigen Mischung aus Knoblauch, Kreuzkümmel und Korianderkörnern infiziert wurde«.
Die Rückkehr der Vorliebe für starke Geschmacksnoten, die sich in der Ottolenghi-Küche manifestiert, schließt an die Frage nach dem richtigen Grad sinnlicher Reizung oder Mäßigung des Essens an – eine Frage mit langer Tradition. Timothy Morton untersucht in seiner Studie »Poetics of Spice« (2000) die Zeit nach den Gewürz-Exzessen des Mittelalters und weist darauf hin, dass Zimt, Anis oder Pfeffer zu den affektiven Triebkräften des Konsumkapitalismus zählten. Zwar setzt sich mit der Dominanz der französischen Küche eine dezentere Ökonomie des Würzens durch, doch überdauert der Gewürzappetit der Vergangenheit in der romantischen Literatur. Als Stilmittel erzielen Gewürze den Effekt des Üppigen und Verführerischen, der Sehnsüchte nach einer anderen, orientalischen Welt weckt und damit die handzahme Speiseordnung der bürgerlichen Gesellschaft auf der Ebene des Begehrens überschreitet. Sie peppen die sensorische Armut des Alltags mit ein wenig Fremdheit auf und geben ein Versprechen auf den Reiz des Exotischen in der heimischen Küche. Darin offenbart sich die geheime Zutat jedes gastronomischen Erfolgs: Speisen müssen eine Weile in der Brühe der Einbildungskraft schmoren.