No politics? No sports
von Nicolas Pethes
29.7.2025

Über den Zusammenhang von Sport und Politik

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 113-117]

2022 ist kein leichtes Jahr für alle, die an dem Glauben festhalten möchten, Sport sei nicht politisch. Es begann mit Winterspielen in Peking, für die das Internationale Olympische Komitee eine ideologiefreie Blase zu schaffen versuchte, die umgehend platzte, als die Uigurin Dinigeer Yilamujiang die olympische Flamme entzündete, IOC-Präsident Thomas Bach spekulative Zusicherungen zum Wohlbefinden der nach einem kritischen Tweet wochenlang spurlos verschwundenen Tennisspielerin Peng Shuai abgab und die 15 Jahre alte russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa trotz eines positiven Dopingtests starten durfte – und das nur wenige Wochen vor Russlands Einmarsch in die Ukraine, um dessen Verschiebung auf einen Termin nach Abschluss der Spiele Peking Putin angeblich gebeten hatte. In der Folge dieses Einmarschs kam es dann nicht nur zum Ausschluss russischer Mannschaften und Athleten aus internationalen Wettbewerben, sondern auch zu europaweiten Solidaritätsbekundungen – so etwa in Gestalt gelb-blauer Kapitänsbinden oder der Erweiterung des Mittelkreises zu einem Peace-Zeichen in der Fußball-Bundesliga. Vor dem Champions-League-Endspiel am 28. Mai verkündete Liverpool-Trainer Jürgen Klopp sogar: »Wir spielen dieses Finale auch für die Menschen in der Ukraine.« Woraufhin sich allerdings die ukrainische Nationalmannschaft bei einem Play-Off-Spiel für die (auch nicht wirklich unpolitisch zustande gekommene) WM in Qatar wenige Tage darauf doch lieber selbst in ihre Landesfahnen gehüllt zum Abspielen der Nationalhymne präsentierte.

Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, Sport sei unpolitisch? In den Hinterköpfen geistert vermutlich immer noch die »olympische Idee« eines Baron Coubertin herum, der die Tradition der antiken Wettkämpfe 1896 ausdrücklich im Namen von Fairness, Toleranz und Gleichbehandlung aller Nationen wiederbeleben wollte – und als Bedingung dafür die strikte Trennung von Sport und Politik ansah. Der Hinweis, dass keine 20 Jahre später ein Weltkrieg diese Ideale zerschoss, mag unfair sein, aber weder der Verweis auf die Kategorie der Nation noch das Projekt der Völkerverständigung waren ja in irgendeiner Weise außerpolitisch gewesen. Dass die Vorstellung des sportinduzierten Weltfriedens eine Utopie war, hat Coubertin in seinem erst vor wenigen Jahren wiederentdeckten Manifest von 1892 dabei selbst gewusst und gesagt. Bis heute geben Sportfunktionäre (man würde gerne gendern, doch die sportpolitische Realität ist eine andere) aber nur ungern zu, dass die Vorstellung eines politikfernen und gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen autonomen Sports nicht minder utopisch ist.

Wenn sie heute weiter eingeklagt wird, dann allerdings meist mit dem Ziel einer Beschränkung propagandistischer Vereinnahmungen von Sportveranstaltungen. So richtet sich die sogenannte »Rechtspflegeordnung« der UEFA gegen die »Verbreitung provokativer, einer Sportveranstaltung unangemessener Botschaften aller Art, insbesondere solcher politischen, ideologischen, religiösen oder beleidigenden Inhalts, durch Geste, Bild, Wort oder andere Mittel.« Mit dieser Begründung wurde beispielsweise der Stadt München bei der 2021 ausgetragenen Fußall-Europameisterschaft 2020 untersagt, die Allianz-Arena in Regenbogenfarben auszuleuchten – sehr zum Gefallen der, wiederum nur beispielsweise, ungarischen Regierung und Fußballfans, welche die unzulässige Politisierung des Sports angesichts von Solidaritätsdemonstrationen gegen rassistische oder sexuelle Ausgrenzungen wie dem Niederknien der Spieler vor Anpfiff oder dem Schwenken von »gay pride«-Flaggen im Publikum im Vorfeld heftig kritisiert bzw. regelmäßig niedergepfiffen, damit aber ja ihrerseits keineswegs unpolitisch (und schon gar nicht besonders sportlich) agiert hatten.

Ganz im Gegenteil – und genau darin liegt die Krux des Traums von politikfreien Wettkampfräumen. Er definiert als ›politisch‹ stets nur die Sicht der Gegenseite und eskamotiert dabei die eigene Position als einen irgendwie moralischen oder humanistischen Universalwert. Das Problem ist nur, dass mit dieser Argumentationsfigur beide Seiten einer Kontroverse operieren können – im gegebenen Beispiel also sowohl Befürworter als auch Gegner der Akzeptanz sexueller Diversität oder kultureller Toleranz: Aus Münchener Sicht ist das Eintreten für LGBTQ+-Rechte keine politische Aktion, sondern eine im Geiste des Toleranzideals des Sports selbst; in Budapest hingegen beobachtet man genau diese Haltung als politisch, während das Festhalten an traditionellen Familienwerten und die Feier der eigenen Nationalmannschaft als ›natürlich‹ und ›patriotisch‹ gelten. In Wahrheit sind aber offensichtlich beide Positionen politisch, und das zuzugeben fällt nur deswegen so schwer, weil über diesen und weiteren Debatten weiter das Postulat der Trennung von Sport und Politik schwebt. Im Namen dieses Außerpolitischen wird deshalb ein Konsens beschworen, der – sei er inhaltlich liberal oder konservativ – gerade in seiner Konstruktion als Konsens (»Respect!«, »christliches Abendland!«) die Kennzeichen des Politischen – die Trennlinie zwischen Freund und Feind und den Modus der Kontroverse – zu überspielen versucht.

Tatsächlich markiert aber – vor allen ideologisch konkreten Füllungen der widerstreitenden Positionen und auch ganz unabhängig davon, dass sportliche Wettkämpfe ja unverkennbar eine symbolische Transformation politisch-militärischer Auseinandersetzungen (»minus the shooting«, wie Georg Orwell bemerkt hat) sind – die schiere Existenz divergierender Positionen das Feld des Politischen. Da der Sport zur Artikulation solcher Meinungsunterschiede Anlass gibt, ist er immer schon politisch – was anzuerkennen weit redlicher wäre als das simultane Festhalten an einem Ideal des Außerpolitischen des Sports einerseits und der dadurch nur schlecht verborgenen Nutzung von Sportveranstaltungen für wie immer gut gemeinte und wünschenswerte gesellschaftliche Botschaften andererseits.

Es bedarf mit anderen Worten gar nicht der Hinweise auf eine ideologische Vereinnahmung des Sports, für die die Olympischen Sommerspiele 1936, die sozialistischen Spartakiaden zwischen 1928 und 1952, der ›Fußballkrieg‹ zwischen Honduras und El Salvador 1969, die Fußball-WM während der argentinischen Militärdiktatur 1978 oder die Olympia-Boykotte 1980 und 1984 einstehen können. Es sind auch nicht erst explizite Demonstrationen (wie die in den Himmel von Mexico City gereckten Fäuste von Tommy Smith und John Carlos nach dem olympischen 200-Meter-Finale 1968 oder die zum kosovarischen Doppeladler geformten Finger der Schweizer Nationalspieler Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri bei ihrem Torjubel im WM-Spiel gegen Serbien 2018), die Anwesenheit von Politikerinnen und Politikern auf Zuschauertribünen (bzw., im Fall von Angela Merkel, in der Umkleidekabine neben Mesut Özil, der wenige Jahre darauf auch mit Recep Tayyip Erdogan posieren wird) oder Karrieren wie diejenigen von Georges Weah oder Vitali Klitschko vom Fußballplatz bzw. Boxring ins Präsidenten- bzw. Bürgermeisteramt, die die politischen Implikationen des Sports offenlegen. Vielmehr ist es gerade die Festlegung des Sports auf das Unpolitische, die seine Politisierung am effektivsten, weil auf kaum kontrollierbare Weise, betreibt.

Das zeigt besonders deutlich ein weiterer Skandalfall des Sportjahres 2022, der Versuch des serbischen Tennisspielers Novak Djokovic, ohne Impfung gegen das Corona-Virus an den Australian Open teilzunehmen. Er hatte dazu eine medizinische Ausnahmegenehmigung beantragt, was in australischen Medien umgehend als unangemessene Sonderbehandlung eines Prominenten kritisiert wurde. Auch der australische Ministerpräsident Scott Morrison zweifelte an, dass Djokovic die Bedingungen für die Genehmigung tatsächlich erfüllt habe und sicherte zu, dass in seinem Land gleiches Recht und gleiche Regeln für alle gälten. Tatsächlich wurde dem Weltranglistenersten daraufhin bei seiner Einreise am 5. Januar am Flughafen in Melbourne das Visum entzogen und bis zu seiner Ausweisung die Isolation in einem Hotel für Immigranten angewiesen. Neben den von Djokovics Vater angeführten Fan-Protesten vor diesem Quarantäne-Hotel meldete sich auch der serbische Staatspräsident Aleksandar Vucic zu Wort, warf seinem australischen Amtskollegen eine »politische Hexenjagd« vor und sicherte Djokovic die Solidarität seines Landes zu: »Unsere Behörden werden alle Maßnahmen ergreifen, um die Belästigung des besten Tennisspielers der Welt in kürzester Zeit zu stoppen. In Übereinstimmung mit allen Normen des internationalen Rechts wird Serbien für Novak Djokovic, für Gerechtigkeit und Wahrheit kämpfen.« Als die Anhörung vor einem Melbourner Gericht aufgeschoben wurde und die Situation festgefahren schien, teilten Djokovics Anwälte mit, ihr Mandant habe Ende des Vorjahres einen positiven Corona-Test gehabt und sei mithin als genesen anzusehen. Dieser Vorstoß ging allerdings nach hinten los, weil Djokovic im fraglichen Zeitraum einen öffentlichen Termin wahrgenommen hatte und somit weiter als verantwortungslos dastand. Nachdem ein Gericht entschied, die Quarantäne dennoch aufzuheben und Djokovic für das Turnier in Australien trainieren zu lassen, teilte sich das Feld seiner Kollegen in Kritiker, die den Vorbildcharakter von Sportlern in Zeiten einer globalen Pandemie betonten, und Stimmen, die auf den sportlichen Stellenwert der Teilnahme des Serben am Grand Slam Turnier verwiesen. Schließlich annullierte der australische Innenminister Alex Hawke Djokovics Visum wegen weiterer Unstimmigkeiten in dessen Angaben zu seiner Infektion, seinen Auslandsreisen und seinem Ausnahmeantrag am 14. Januar erneut, und das Turnier begann ohne seinen großen Favoriten.

Ähnlich wie derjenige des impfskeptischen deutschen Fußball-Nationalspielers Joshua Kimmich im Herbst 2021 zeigt der Fall Djokovic, wie wenig sich Sport und Politik trennen lassen: Zum einen, weil das Kriterium für die Teilnahme an den Australian Open eben nicht die reine sportliche Leistung und Qualifikation darstellt, sondern auch die Einreisebestimmungen des Gastgeberlandes, und dieser Vorrang des Rechts vor dem Sport in der Folge bis hin zu diplomatischen Verstimmungen zwischen höchsten Regierungsebenen zu führen vermag. Zum anderen und vor allem aber auch, weil der Frage des Impfstatus eines Tennisspielers neben ihrer juristischen Relevanz sowohl auf Seiten der Kritiker wie auf Seiten der Befürworter von Novak Djokovic eine symbolische Dimension zugesprochen wird, deren politische Relevanz einerseits im Postulat eines vorbildlichen Verhaltens und andererseits im Anspruch auf liberale Selbstbestimmung besteht. Wer in Zeiten der Pandemie Tennis (oder Fußball) spielt, hat nicht nur ohnehin angesichts der ansonsten geltenden Regeln einen Sonderstatus inne, sondern bezieht mit seinem Verhalten und seinen Entscheidungen zugleich Stellung innerhalb der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung über Berechtigung oder Illegitimität der Einschränkung von Freiheitsrechten angesichts einer kollektiven Gesundheitsbedrohung. Gerade weil Sportlerinnen und Sportler öffentliche Personen sind, ist ihr Versuch, sich innerhalb dieser Gemengelage auf Privatansichten einerseits und den Primat ihrer sportlichen Tätigkeit andererseits zu beziehen, zum Scheitern verurteilt. Vielmehr illustriert der Fall Djokovic, wie sehr der Sport eines derjenigen Medien ist, anhand derer eine Gesellschaft ihre politischen Grenzziehungen zwischen Freund und Feind – zwar in symbolischer Stellvertretung, aber deswegen nicht minder erbarmungslos – vermisst.

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