Sonnenbrille als »politisches Instrument«
von Tom Holert
7.3.2025

Erinnerung an Joe Biden

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 46-51]

Am 6. September des letzten Jahres, dem »labor day« 2021, besuchte der amerikanische Präsident Joe Biden das Local 313 der International Brotherhood of Electrical Workers im Städtchen New Castle im Bundesstaat Delaware. Er servierte dort unter anderem Sandwichs. Für Biden handelte es sich um ein Heimspiel im mehrfachen Sinne. Zum einen befindet sich sein privater Wohnsitz gleich um die Ecke, und von 1973 bis 2009 saß er für Delaware im Senat der Vereinigten Staaten. Zum anderen hat er sich über die Jahrzehnte einen Ruf als Freund der Gewerkschaften erworben – auch an diesem Tag wiederholte er eine Lieblingssentenz seiner Wahlkampfkampagne vom Vorjahr: »Die Mittelschicht hat Amerika gebaut – und Gewerkschaften haben die Mittelschicht gebaut«.

Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Gewerkschaft der Elektriker vertritt heute noch 750.000 Mitglieder, ein Gutteil davon jenseits der Pensionsgrenze, manche von ihnen leben und arbeiten außerhalb des Territoriums der Vereinigten Staaten, daher das »International« im Namen. Der andere Namensteil, »Brotherhood«, dürfte wörtlich zu nehmen sein. Die Profession des Elektrikers scheint weiterhin ziemlich fest in Männerhand. Darauf lassen auch die Bilder schließen, die bei Bidens Visite entstanden sind.

Ein Foto des AFP-Bildreporters Jim Watson macht allerdings stutzig. Denn wüsste man nichts über den Anlass und die beteiligten Personen, könnte der Eindruck entstehen, der Präsident, in Hose und Hemd den sonnigen Verhältnissen gemäß leger, aber auch etwas wehrlos gekleidet, stecke in großen Schwierigkeiten. Umringt von schwergewichtigen, überwiegend glatzköpfigen, weißen Männern in T-Shirts, die sich breitbeinig vor POTUS aufgebaut haben, scheint der Best Ager mit den dünnen Beinen einer ungemütlichen Konfrontation ausgesetzt zu sein. Das ist schon deshalb merkwürdig, weil er diesen Arbeitern eigentlich nichts als gute Nachrichten überbringen konnte. Erst kurz zuvor hatte Biden das gigantische »Bipartisan Infrastructure Framework« durch den Senat gebracht, Kernstück seines ehrgeizigen »Build Back Better«-Programms. Es wäre also durchaus eine Gelegenheit für Dankesadressen und Schulterklopfen. Stattdessen diese grimmigen Mienen.

Dem Bild bin ich zufällig beim Blättern in der Zeitung begegnet. Ich fragte mich, warum es so im Widerspruch zu der Photo Op zu stehen scheint, die es visualisieren soll. Und nach einer Weile dämmerte mir, woran es liegen musste: an den Sonnenbrillen.

Jeder der etwa zehn Männer auf diesem Foto (bis auf eine Ausnahme, wenn ich richtig sehe), hat dunkle Gläser im Gesicht, die den Blick auf/in die Augen versperren. Da bei dieser Outdoor-Gelegenheit im Sommer 2021 offenbar niemand eine ›Mund-Nasenbedeckung‹ tragen musste, ist die in diesen Zeiten allgegenwärtige, wenn auch viel diskutierte Gesichtsmaske gewissermaßen eine Etage höher gerutscht.

Die Männer von der Elektrikergewerkschaft favorisieren offenbar Sonnenbrillen mit eher kleinen Gläsern, die sich insgesamt der Kopfform anpassen, ja bei einigen wirken, als wären sie fest mit dem betreffenden kahlrasierten Schädel verwachsen. Dass sie jemals abgenommen würden – abwegig. Noch viel weniger verwundert, dass sie zu einem alles in allem abweisenden Gesamteindruck beitragen. Man kennt diese und ähnliche Brillen aus eher unangenehmen Situationen. Von Begegnungen mit – zumeist männlichen – Repräsentanten irgendeiner realen oder angemaßten Autorität, mit Polizisten, Türstehern, Rockern, Truckern, Gerüstbauern, Soldaten usw. Es gibt sie in unscheinbaren, aber eben auch in durchaus martialisch anmutenden Varianten, die das menschliche Antlitz zuverlässig in eine Indifferenz, wenn nicht Gewalt vermittelnde Fassade transformieren. Mitunter sind diese Brillen nicht nur sehr, sehr dunkel, sondern auch noch verspiegelt.

Und Biden? Tja, der Präsident ist seinerseits ein bekennender Sonnenbrillenfan. Und er trug auch an diesem Septembertag eine. Weshalb er mit den ihn Umringenden in Sachen Blickverbergung mithalten konnte. Aber er bevorzugt seit jeher einen anderen Typ, eine tropfenförmige Pilotenbrille, genauer: die Ray-Ban Aviator. Biden sagt von sich, er würde das gern »legendär« genannte Modell seit dem Sommer 1962 tragen. Damals war er 19, und er verbrachte seinen letzten Teenagersommer in Delaware, als Rettungsschwimmer im öffentlichen Prices Run-Schwimmbad, gelegen im Brown-Burton Winchester Park in Wilmington. Biden hat sich bewusst für diesen Ferienjob entschieden, weil er, der weiße Mittelschichtsjunge, die Nähe zur Schwarzen Bevölkerung suchte. In seiner Autobiografie »Promises to Keep« von 2007 erinnert er sich, am Becken der einzige Weiße weit und breit gewesen zu sein. Unter diesen Umständen, zu einer Zeit, als die Bürgerrechtsbewegung bereits seit Jahren darum kämpfte, das Bewusstsein von Rassismus und Segregation in den Vereinigten Staaten zu fördern (und abzuschaffen), begann also Bidens Beziehung zur Aviator.

Im April 2014 eröffnete er seinen Instagram-Account. Der erste Post war eine Nahaufnahme einer Ray-Ban, fotografiert auf dem Schreibtisch des Mannes, der nun als Vizepräsident der Regierung Obama im Weißen Haus residierte. So viel herrschaftliches ›product placement‹ war selten. Anfang November 2016 gab sich eine Autorin der Website Mashable ganz hingerissen, wie Biden bei einem Wahlkampfauftritt in Tampa, Florida, unter freiem Himmel, von Applaus begleitet, seine Aviator zückte, um die Sonne aufzuhalten, als wäre das schon eine superheldenhafte Tat (»Joe Biden outshines the sun by putting on Ray-Bans«); und Biden, dessen Amtszeit als »VP« auslief, war ganz er selbst, als er es sich nicht nehmen ließ, den Moment noch etwas auszukosten: »I’m doing this because maybe when I need a job, Ray-Ban will give me a sponsor.«

Mitte Juni 2021, Biden war inzwischen Präsident der Vereinigten Staaten, bemühte sich eine Autorin des Ostschweizer »Tagblatts« um Einordnung: »Die Brille, die einst für Kampfpiloten im Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, ist quasi zu Bidens Markenzeichen geworden, und seit dessen Wahlkampf und Gewinn der US-Wahl erlebt sie in seinem Sog ein Revival.« Beim Staatsbesuch in der Schweiz, wo ihn Bundespräsident Guy Parmelin auf dem Rollfeld in Genf empfing, wählte Biden »eine Brille mit schwarzem Rand und dunkel getönten Gläsern, was diesem Modell in den kommenden Tagen und Wochen reissenden Absatz bescheren könnte. Bis dato setzte er nämlich vorwiegend auf eine goldene Umrandung.« Die Modeexpertin war jedenfalls überzeugt: »Egal, für welches Modell der Amerikaner sich jeweils entscheidet: Die Sonnenbrille lässt ihn modern, lässig, ja fast schon jugendlich wirken. Derweil Parmelin mit seiner biederen Sehbrille den Part des grauen Mäuserichs mimt.« Ray-Ban, das sei erwähnt, wirbt inzwischen auf der Website für das Modell Aviator RB 3025 9196/48 Polarised mit dem Satz: »As seen on Joe Biden«.

Im Sommer 2017, da war Biden nicht mehr Vizepräsident und noch nicht neuer Präsident, wurde das Sommerbad in Wilmington umgetauft. Es heißt seither Joseph R. Biden Jr. Aquatic Center. Der Namensgeber kam persönlich vorbei, ließ sich mit Schwarzen Kindern und Jugendlichen fotografieren (ohne Sonnenbrille) und nahm für die anwesenden Pressevertreter auf dem Bademeisterhochsitz am Beckenrand Platz.

Mir fällt es nun schwer, mich von dem Bild zu trennen, das die Vorstellung vom jugendlichen Biden in Badehose, mit der Aviator im Gesicht, im Sommer 1962 hervorruft – in dieser Umgebung, in der er der einzige weiße Bademeister war. Die Bürgerrechtsbewegung hatte zu Beginn und zum Ende dieses Jahres einige Erfolge zu verzeichnen. Im Februar 1962 schlossen sich die Schwarzen Organisationen NAACP, SNCC und CORE zum Council of Federated Organizations zusammen, ebenfalls im Februar urteilte der Oberste Gerichtshof, dass die Segregation öffentlicher Verkehrsmittel verfassungswidrig sei; im April veranlasste das Pentagon die volle ›racial integration‹ aller militärischen Reserveeinheiten (ausgenommen die Nationalgarde); und im November unterzeichnete Präsident Kennedy eine Verfügung, die Segregation in mit Bundesmitteln gefördertem Wohnungsbau verbot.

Aber es gab auch Rückschläge. In Baton Rouge saßen protestierende Studentïnnen im Gefängnis, Martin Luther King wurde im Juli und August 1962 für über zwei Wochen eingesperrt, das FBI hörte bei führenden Schwarzen Aktivisten mit. In Georgia brannten zwei Schwarze Kirchen nieder, in denen Wahlregistrierungen vorgenommen wurden. Und an der University of Mississippi hinderte man James Meredith im September 1962 daran, sich als erster Schwarzer Student einzuschreiben; nach der Intervention eines Richters des Supreme Court zu seinen Gunsten brach ein ›white riot‹ aus.

Aus einem »Washington Post«-Artikel vom 16.09.2019 kann man erfahren, dass die Gegend um die Freizeitanlage in Wilmington 1962 mitten in einem demografischen Umbruch steckte. Schwarze Familien mussten wegen einer neuen Autobahn ihre Häuser verlassen und wurden in Sozialwohnungen umgesiedelt. Da die wenigsten dieser Unterkünfte über Klimaanlagen verfügten, wurde der Pool im Sommer zum Zentrum der Schwarzen Jugend, zu denen auch Nachbarschaftsgangs gehörten, die ihre Angelegenheiten mit Schlägereien oder Basketballspielen klärten.

Ein Mitglied dieser Gangs, ein gewisser Corn Pop, machte im Sommer 1962 durch jugendliche Überschusshandlungen auf den Sprungbrettern auf sich aufmerksam. Um Ordnung zu stiften, adressierte Biden ihn von seinem Hochsitz aus als »Esther Williams«. Corn Pop und seine Clique, die »Romans«, waren wenig erfreut über den Vergleich mit der weißen Hollywoodschauspielerin, die vor allem durch ihre Schwimmkünste bekannt war. Drohungen wurden laut, dass man mit ihm, dem Bademeister, schon noch abrechnen werde. Biden bewaffnete sich nach Dienstschluss mit einer Eisenkette, für alle Fälle. Aber statt sich zu prügeln, versöhnte man sich, denn Biden muss sich wohl entschuldigt haben.

In seiner Autobiografie, der diese Anekdote entstammt, berichtet Biden auch von den Geschichten, die ihm seine »Freunde am Pool« erzählt hätten: Jeden Tag, so erfuhr er, »black people got subtle and not-so-subtle reminders that they didn’t quite belong in America.« Aber diese Geschichten, so Biden verständnisvoll (und subtil entpolitisierend), seien immer mehr von Verwirrung als von Zorn gezeichnet gewesen. Und weil die meisten der Leute, die er kennengelernt habe, »had literally never talked to a white person«, seien die Menschen zu ihm gekommen, mit einer Menge Fragen.

Ob ihm auch solche zu seiner Sonnenbrille gestellt wurden? War es einem Schwarzen Jugendlichen überhaupt mit der gleichen Selbstverständlichkeit möglich, eine Sonnenbrille zu tragen, wie einem weißen? Gab es Rollenmodelle, Musikerïnnen, Schauspielerïnnen, Politikerïnnen oder Hipster aus dem Viertel, die sich mit Sonnenbrille zeigten? Es gab sie. Einige wenige jedenfalls. Miles Davis auf dem Cover von »Round About Midnight« (1956); natürlich Ray Charles; auch der flamboyante Esquerita. Für das Jahr 1962 aber fehlen solche Bilder, zumindest soweit es die flüchtige Internetrecherche betrifft. Dafür lassen sich welche aus dem Sommer 1963 finden: Sidney Poitier als Homer Smith in »Lilies of the Field« und James Baldwin beim Civil Rights March in Washington, wo der Schriftsteller mehrfach mit Pilotenbrille, vielleicht war es sogar eine Ray Ban, fotografiert wurde, unter anderem Arm in Arm mit Marlon Brando. Letzterer wiederum gilt seit »The Wild One« (1953) als der Schauspieler, der die Ray Ban Aviator aus der Welt der Pilotïnnen und des Militärs in die Popkultur entführt hat. Der jugendliche weiße Rocker mit der Pilotenbrille – ein heimliches Rollenmodell für Biden?

1952 entstand eine Fotografie von Gordon Parks, aufgenommen im nächtlichen Harlem, die einen Schwarzen im Anzug, mit weißem Hut, Zigarette im Mundwinkel und dunkler Brille zeigt, der den Blick in die Kamera richtet. Das Bild stammt aus einer Serie von Fotografien, mit denen Parks Szenen aus »Invisible Man«, dem gerade veröffentlichten Roman seines Freundes Ralph Ellison, fotografisch nachempfunden hat. Parks‘ Fotoessay erschien unter dem Titel »A Man Becomes Invisible« im »LIFE Magazine« vom 25.08.1952.

Das Bild mit der Sonnenbrille fehlte hier allerdings. Dabei gilt die Sequenz in Ellisons »Invisible Man«, in der sich die Hauptfigur aus ihrer Kellerbehausung an die Oberfläche der Stadt begibt, nachdem sie sich mit einem weißen Hut und einer Sonnenbrille mit dunkelgrünen Gläsern ausgerüstet hat, als besonders wichtig. Der Ich-Erzähler berichtet, wie er das Paar in einer Kiste zwischen Haarnetzen, Gummihandschuhen und künstlichen Wimpern entdeckte: »They were of a green glass so dark that it appeared black, and I put them on immediately, plunging into blackness and moving outside.«

Die Brille und die mir ihr einhergehende Wahrnehmungsveränderung versetzen den Ich-Erzähler in Erregung. Er stellt fest, dass er von den Menschen, denen er begegnet, für einen anderen gehalten wird, für einen gewissen Rinehart oder »Rine, the rascal«, der wiederum eine Vielzahl von Identitäten auf sich zu vereinen scheint. Die epistemologische Schlussfolgerung: »It was unbelievable, but perhaps only the unbelievable could be believed. Perhaps the truth was always a lie.«

Ellisons Erzähler verstand: Was er eigentlich für eine Maskierung verwenden wollte, funktionierte ganz anders. Die Brille »had become a political instrument instead«. In ihrem Aufsatz »Sight Imagery in ›Invisible Man‹« argumentiert die Autorin Alice Bloch 1966, dass das Tragen der Sonnenbrille der Erzählerfigur, die sich zuvor in der Welt einer kommunistischen Sekte verloren hatte, zum ersten Mal ihre Identität als Schwarzer bewusst gemacht habe. Weil man ihn für Rinehart hält, dessen multiple Persönlichkeit – er ist zugleich Hipster und Priester – sich zum Stereotyp des »›universal‹ Negro« verdichte. Auf diese Weise, so Bloch, komme der Ich-Erzähler in Berührung mit allen Phasen des Schwarzen Lebens, die ihm bis dahin nur als Plattitüden bekannt waren. Die Sonnenbrille öffnet ihm die Augen für die Realität seiner Identität – und macht ihn damit erst recht »unsichtbar«.

Ob der junge Biden zehn Jahre nach Erscheinen von »Invisible Man« und dem Foto von Gordon Parks eine Ahnung davon hatte, welche Möglichkeiten und Risiken das Tragen einer Sonnenbrille für ihn, und noch viel mehr für seine Schwarzen »Freunde am Pool«, barg? Dass Bidens vermeintliche Coolness als präsidialer Dressman und Aviator-Werbefigur für andere, nicht-weiße Menschen auch ein Problem darstellen könnte, deutete sich zur Zeit des Wahlkampfs um das Präsidentenamt an. Weil der Name des Kandidaten in der American Sign Language (ASL) immer noch umständlich buchstabiert werden musste (B-I-D-E-N), begann man in der ›deaf community‹, ein bis dahin nicht existierendes Namenszeichen zu suchen – so wie es auch eines für Obama (eine zum »O« geformte Hand und nachfolgend ein zweites, bewegtes Handzeichen, das die wehende amerikanische Flagge hinter Obama repräsentiert) oder Trump (»Use your hand to emulate what might happen if a stiff wind came in contact with Trump’s hair«) gibt. Unter den Vorschlägen für die gebärdensprachliche Abkürzung favorisierten Gehörlose zunächst ein C-förmiges Handzeichen, das unmittelbar auf die Ray-Ban Aviator anspielen soll, so sehr wurde Biden mit diesem Accessoire identifiziert. Allerdings rührte sich Widerstand, weil manchen die betreffende Gebärde zu sehr dem Zeichen für die Crips, der berüchtigten Westcoast-Gang, ähnelte. So teilte die TikTok-Influencerin Nakia Smith Anfang November 2020 (per Video und in ASL) mit: »Wir BIPOC sind überhaupt nicht einverstanden mit dem Zeichen […] es fühlt sich für uns unsicher an.«

Hatte Biden nicht schon einmal Probleme mit einer Gang?

 

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