Schrecken und Sicherheit zugleich
Was mag jemanden dazu bewegen, das bunte Treiben eines Jahrmarktes zu verlassen, den Geruch gebrannter Mandeln, die Verlockungen der Wurstbuden und Getränkestände, die Welt der Schwerelosigkeit im Kettenkarussell und des erfolgreichen Schießens um einer Papierrose willen? Und statt all dessen eine geschlossene Welt einer Geisterbahn aufzusuchen, einer Welt mit garantierten Momenten des Schreckens? Und dafür auch noch Geld zu bezahlen?
Die Verwirrung entsteht natürlich auf Grund der scharfen Kontraste zwischen der ganz dem Vergnügen, der Lust an Bewegung, Körper, Gaumengenuss und Begegnung mit anderen gewidmeten Umgebung der Glitzerwelt des Jahrmarkts und den Gefühlsanwandlungen des Schreckens, der Angst und des Entsetzlichen, die in der Geisterbahn zugemutet werden. Offensichtlich ist das Versprechen, dass der Besucher sich in Sicherheit wägen kann, trotz der Momente des Schocks, die ihm das Etablissement verspricht. Schrecken und Sicherheit zugleich: Beides ist Teil des Rezeptionsvergnügens, Geisterbahn und Besucher sind geeint durch einen stillschweigend geschlossenen Vertrag. Ich betrete das geschlossene Gelände der Bahn und darf sicher sein, es unbeschadet auch wieder verlassen zu können.
„Wir brauchen […] die Sicherheit der Distanz, die, wenn sie unterschritten wird, den Genuss in Frage stellt“, schreibt Hans D. Baumann in seinem Buch zur „Lust am Grauen“ völlig zu Recht. Weiter heißt es: „Die Darstellung des Entsetzlichen ist für uns […] nur dann zu genießen, wenn wir wissen, dass es sich nicht um Realität handelt, wenn wir uns darauf vorbereiten können und uns ihr willentlich aussetzen“.[1]
Dabei sind die Ingredienzien der Geisterbahn durchaus dazu geeignet, den Besucher zu passivieren. Dadurch, dass er die Bahn nicht selbst bestimmen kann, sondern auf die Bewegung der Bahn angewiesen ist; dadurch, dass es sich um ein geschlossenes, im Ganzen verdunkeltes Gelände handelt; dass er nicht nur lichtlose Welt betritt, sondern auch einen eigenen Tonraum, der zwischen Stille und lautem Geräusch immer wieder pendelt; dass der Besucher die eigene Wahrnehmungssensibilität auf die Abwesenheit visueller Orientierung einstellen muss; und dass er gewiss sein darf, dass die partielle Blindheit, die er auf sich nimmt, oft nur äußerst kurz unterbrochen werden wird, sodass er Moment-Wahrnehmungen ausgesetzt wird, die ihn mit hochproblematischen Szenarien konfrontieren werden – und die mit Sicherheit physiologische Schreck-Erregungen auslösen werden. Zur Inszenierung gehören auch Gebilde, die von der Decke auf die Gondeln auszugreifen scheinen – alte Spinnennetze (und sogar ganze große Spinnenwesen), algenartige Gewächse und ähnliches, die wie ein Beiwerk der Schreckinszenarien und -gestalten wirken, auch wenn sie wohl meist nur vom Fahrtwind bewegt werden.
All diese Elemente konfigurieren die Geisterbahn als eine ästhetische Installation, auch in einem kunsttheoretischen Sinne, wie sie von Avantgardisten seit den 1920ern, vermehrt dann in den 1950ern und 1960ern konzipiert worden war: Es ging dabei um den gezielten Zusammenbruch der Trennung von Kunst und Betrachter, indem normale Alltagswahrnehmung und Kunsterfahrung zu einer eigenen ästhetischen Erfahrung miteinander verschmolzen werden sollten. Das Gegenüber von Kunst- und Betrachter-Raum wurde aufgegeben, beide bildeten im Konzept einen zusammenhängenden Raum aus; auch die Zeit der Kunsterfahrung war durch das Eintreten des Betrachters in den situativen Kontext der Installation ebenso begrenzt wie durch den Zeitpunkt, wenn er ihn wieder verließ. Zum Installativen der Inszenierung gehört die Komposition von Zeit, Licht, Klang und Bewegung.[2]
Für die Kunstausstellung ungewohnt ist die Einbeziehung der Körperlichkeit des Betrachters – im besonderen Falle der Geisterbahn die Passivität der Bewegung durch den Raum, die ihm auferlegt ist, verbunden allerdings mit der Aufforderung, die Sinne zur Impressivität der Bahnfahrt zu öffnen und ihn zudem auf die affektive Aufladung des Exponierten von Beginn der Begehung an vorzubereiten, ebenso wie die rhythmische Gestaltung der Fahrt durch eine Folge von kurzen Schock-Episoden; außerdem dürfte den Besuchern klar sein, dass die Schock-Episoden auch akustisch gestaltet sein werden (also als eine Art „Gruselgesamtkunstwerk“ auf ihn einwirken werden).
Eine Stellgröße der Geisterbahn-Installation fehlt in diesen Überlegungen: die Besucher des Etablissements. Gesetzt, dass die Entscheidung zum Besuch freiwillig und wissend um das, was zu erwarten ist, gefällt wird, dürfen sie für die Zeit der Besichtigung mit einer getakteten Folge von Momenten des Erschreckens rechnen – womit „Erschrecken“ hier den Unterschied zum „Schock“ akzentuieren soll, der der Reaktion auf unerwartbare Momentaneinbrüche in die Alltagswelt vorbehalten ist. Auch das Erschrecken ist – wie der „Schock“ – eine psychophysische Reaktion, die reflektorisch auf diverse Körperfunktionen (Herzfrequenz, Bewusstsein, Atmung) einwirkt. Es sind die Plötzlichkeit, die Unerwartbarkeit und die Intensität des Erschreckens, die das Maß des Erschrecktseins beeinflussen. Nun ist der Geisterbahnbesucher vorbereitet, der Erschrecken ist als Situationserwartung in die Ichwahrnehmung eingebettet. Dennoch greifen die Momente der Schreckinszenierung auf den Körper des Erschreckten zu – es sind die blitzartige Veränderung des Lichtes, die Veränderung (meist: Anhebung) des Schallpegels, die nur kurze Exposition des schreckauslösenden Bildes, die meist wohl als kognitive Überforderung des Bilderkennens wirkt.
Zur Inszenierung gehört die Zurücknahme der äußerlich verursachten Wahrnehmungsverhältnisse, eine kleine Weile der Ruhe des Feldes folgt, die zur Zurücknahme der Schreckreaktion nötig ist und die auch dramaturgisch von der Bahne eingeplant ist. Viele Besucher besteigen zu zweit die Gondeln der Fahrt – und nach dem Erschrecken kommt es zum Ausatmen (als sei er Atem im Erschrecken angehalten worden), manchmal sogar zu gelächterartigen Distanzierungen der Insassen – und zudem oft zur Zuwendung zum Mitfahrer, als gelte es, von ihm eine Bestätigung des eigenen Erschrecktseins zu erlangen. Dass Frauen sich intensiver dem Begleiter zuwenden als Männer den Frauen, sei nur am Rande festgehalten.[3]
Schrecken, der geplant ist und der noch während der Fahrt moduliert werden muss – erst nun vervollständigt sich die ebenso unterhaltsame wie amüsante Geisterbahnerfahrung. Und es darf zu Recht angenommen werden, dass sie die Erlebensintensität des Jahrmarkts erhöht.
Tatsächlich ist die Geisterbahn fester Bestandteil der populären Unterhaltungsformate, die anlässlich von Jahrmärkten und ähnlichen Großveranstaltungen angeboten werden. Ihre Geschichte weist auf die Kuriositätenkabinette und die Wunderkammern zurück, die von der Renaissance bis ins 19. Jahrhunderts nachweisbar sind (nach einer ganzen Reihe von Vorformen aus dem Mittelalter),[4] mündete in die Freakshows des späten 19. und des 20. Jahrhunderts ein – um 1840 populär gewordene Bezeichnung für die kommerziell ausgerichtete Ausstellung von verhaltensgestörten, körperlich und geistig abnormen Menschen, als der Museums- und Zirkusbetreiber P.T. Barnum sie erstmals als Kernstück der populären amerikanischen Unterhaltungsindustrie benannte.[5] Stationäre Gruselkabinette (nicht zu verwechseln mit den gleichzeitig entstehenden Wachsfigurenkabinetten, die vor allem der Ausstellung von Personen der Geschichte dienten) traten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinzu; beide gibt es bis heute, wie auch die um 1900 entstandenen Grottenbahnen, in denen die Besucher in geschlossenen bzw. verhängten Räumen an einzelnen, meist dem Sagen- und Märchenschatz entnommenen Szenerien vorbeigefahren werden.
Die heute so weit verbreiteten Geisterbahnen kamen wohl erst Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Sie wurden schnell zu Standardangeboten auf Jahrmarktsveranstaltungen in den größeren Städten (im dörflichen Unterhaltungsangebot spielten sie keine Rolle). Beginnend mit den Grottenbahnen (etwa in Wien [1895] oder in Linz [1906]) mit ihren thematischen Szenen – von Märchen und Legenden wurden auch Dschungel- oder Untersee-Landschaften und sogar ganze Planeten präsentiert – ermöglichte erst die Elektrifizierung den Übergang in die Phase der echten Geisterbahnen; eine erste elektrisch betriebene Grottenbahn wurde 1898 auf dem Prater in Betrieb genommen. Vor allem ermöglichte erst die Elektrizität die Choreographierung der Lichteffekte, den schnellen Wechsel von Dunkel und Hell und sogar den Einsatz von blitzartigen Momentbeleuchtungen. Die selbständige Bewegung durch das Gruselkabinett wurde durch die Fahrt in der Geister-Bahn abgelöst, der Besucher zur Passivität verurteilt; und er wurde im genau bemessenen Zeittakt durch die Momente des Grusel-Schreckens geführt – und er wollte dies auch, weil der Wechsel von Dunkelheit, Exposition des Schrecklichen und zugehörigem Schock und Zeit zum Abklingen desselben zum Gratifikationsversprechen der Bahnen dazugehörte.
In manchen Bahnen wurden die Exponate durch die Auftritte von sogenannten Erschreckern ergänzt, das sind Live-Akteure, die sich in Clowns- oder Gruselfigurenkostümen frei in den Bahnen (oder an festgelegten Stellen) bewegen können. Sie sind eine Erweiterung der Schreckmomente, weil nicht einmal die Annahme feststeht, dass es sich um reine „Installationen des Erschreckenden“ handele, denen man während der Fahrt begegnet. Sie können aber auch andere Funktionen erfüllen.[6]
Anmerkungen
[1] Baumann, Hans D.: Horror. Die Lust am Grauen. Weiheim/Basel: Beltz 1989, S. 93.
[2] Bislang ist die Installation als Kunstform wenig theoretifiziert worden (was damit zusammenhängen mag, dass der Werkcharakter, der der Kunst gemeinhin zugesprochen wird, in der Installation zumindest undurchsichtig wird); vgl. dazu den Sammelband Installation Art / Nicolas de Oliveira […]. With texts by Michael Archer. London: Thames & Hudson 1996 [zuerst 1994, repr. 2003]. Vgl. dazu auch Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt: Suhrkamp 2003 [Nachdr. 2008, 2011, 2021], und Bahtsetzis, Sotirios: Geschichte der Installation. Situative Erfahrungsgestaltung in der Kunst der Moderne. Diss., Technische Universität Berlin 2005.
[3] Auch wenn sich in manchen Artikeln zu Geisterbahnen Bemerkungen dazu finden, dass vor allem junge Besucher die Bahnen besuchten, um miteinander zu „schmusen“, ist eine empirische Untersuchung schwierig; die obigen Bemerkungen sind auf die Besichtigung von ca. 50 Privatvideos gestützt, die mit vorn auf der Gondel fixierter Kamera die Fahrt dokumentieren. Ob man mittels Befragung die Hintergrundmotivation des Bahnbesuchs erfassen könnte, sei in Frage gestellt – weil sie vielen Besuchern wohl nicht bewusst ist und weil zudem die Schranken der sozialen Zulässigkeit und Erwünschtheit offene Antworten unterdrücken.
[4] Vgl. Mauries, Patrick: Das Kuriositätenkabinett. Köln: DuMont 2003.
[5] Vgl. Bogdan, Robert: Freak Show: Presenting Human Oddities for Amusement and Profit. Chicago/London: The University of Chicago Press 1988. Vgl. auch Brottman, Mikita / Brottman, David: Return of the Freakshow: Carnival (De)Formations in Contemporary Culture. In: Journal of Popular Culture 18,2, 1996, S. 89-107.
[6] Eine bekannte Erschrecker-Szene findet sich in der Liebeskomödie Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (Die fabelhafte Welt der Amélie, Frankreich/BRD 2001, Jean‑Pierre Jeunet): Die zutiefst nachdenkliche Titelheldin besteigt allein eine Geisterbahn; sie ist so in Gedanken versunken, dass sie nicht nur die Schreckmomente nicht wahrzunehmen scheint, sondern auch nicht bemerkt, dass sich ein Erschrecker ihr von hinten nähert, sie sanft am Kinn streichelt, bevor er wieder in der Dunkelheit verschwindet. Sie konnte nicht ahnen, dass es sich um Nino Quincampoix (Mathieu Kassovitz) handelt, den Mann, mit dem sie erst am Happyend zusammenkommen wird, wenn sie ihre Schüchternheit überwindet. Die Geisterbahn als privater Ort und gleichzeitig als Ort der Begegnung mit heimlichen Wunschenergien der Besucherin? Aber die winzige Berührung ist keine Projektion der Protagonistin, sondern ein Hinweis des Films an den Zuschauer, wie eine textuelle Vorankündigung des glücklichen Finales…