Filmische Bekannte
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 111-115]
Der Schauspieler Kevin Bacon, bekannt aus Filmen wie »Footloose«, »JFK« oder »X-Men: First Class«, ist ebenfalls bekannt für ein Partyspiel, das seinen Namen trägt: »Six Degrees of Kevin Bacon«. Ziel ist, jede beliebige Schauspielerïn auf möglichst kurzem Weg mit Kevin Bacon zu verbinden. Sean Penn, gemeinsam mit Bacon in »Mystic River«, erhält die Bacon-Zahl 1. Ben Stiller, nie gemeinsam vor der Kamera mit Bacon, aber neben Sean Penn in »The Secret Life of Walter Mitty«, erhält die Bacon-Zahl 2. Und so weiter. Die Annahme ist, dass nie mehr als fünf Zwischenschritte notwendig sind, um einen beliebigen Namen mit Kevin Bacon zu verbinden. Auf diese Weise lassen sich auch eher unerwartete Verbindungen ziehen: Bollywood-Star Shah Rukh Khan hat die Bacon-Zahl 3, ebenso die Stummfilmdiva Asta Nielsen, wie sich auf der Website »The Oracle of Bacon« nachvollziehen lässt. Die Filmindustrie ist eine kleine Welt.
Erdacht haben sich dieses Spiel drei College-Studenten nach einem TV-Abend mit »Footloose«, popularisiert wurde es durch einen Auftritt der drei in der »Jon Stewart Show« im Januar 1994 und eine Buchpublikation zwei Jahre später. Damit verbinden lassen sich aber nicht nur spielende und schauspielende Personen, sondern auch Sozialwissenschaft, Mathematik und Kulturindustrie. »Six Degrees« – der Titel geht auf ein Bühnenstück des Dramatikers John Guare zurück – gilt als Veranschaulichung des ›Kleine-Welt-Phänomens‹, d.h. der Annahme, dass jede beliebige Person mit jeder anderen über erstaunlich kurze Ketten miteinander verbunden werden kann. Der US-amerikanische Psychologe und Produzent drehbuchreifer Experimente Stanley Milgram hat 1967 versucht, diese Annahme zu belegen, und auch wenn, wie so oft bei Milgram, Datenlage und Methoden kritikwürdig sind, so beweist die Popularität der Idee in jedem Fall, dass wir Menschen unser Selbstbild, im Mittelpunkt eines großen Freundeskreises zu stehen, gerne wissenschaftlich bestätigt bekommen.
Karriere gemacht hat das Phänomen der Erkundung der kurzen Wege auch in der Mathematik – dort als Graphentheorie – und der Netzwerkanalyse. Diese hat längst herausgefunden, dass sechs Schritte in einem dicht verflochtenen Kosmos wie Hollywood viel zu viele sind: Die mittlere Pfadlänge liegt unter vier, wie Analysen der Daten der IMDb ergeben haben. Aber auch in einem ganz anderen Zusammenhang spielen Filmographien in der Graphenanalyse eine Rolle. Installiert man die beliebte Open-Source-Graphdatenbank »Neo4j« (https://neo4j.com), ist als Übungsdatenbank der »Movie Graph« bereits implementiert. Mit ihm, wie könnte es anders sein, lassen sich Analysen des Netzwerkes rund um Kevin Bavon durchführen. Die Suchanfrage:
MATCH p=shortestPath(
(:Person {name:“Kevin Bacon“})-[*]-(:Person {name:“Meg Ryan“})
)
RETURN p
gibt den kürzesten Pfad zwischen Kevin Bacon und Meg Ryan aus.
Die Antwort auf die Frage, wo man selbst in solch einem Graph stehen würde, liefert das Software-Unternehmen pathica, Entwickler einer App, die verspricht, via Netzwerkanalyse des eigenen Social-Media-Accounts den kürzesten Pfad zwischen Nutzerïn und Berühmtheit anzuzeigen: »Have you ever wondered how close you are to someone else, even a celebrity, through your friends? Pathica lets you see how many steps it takes to connect you to anyone on Instagram, including celebrities and various high-profile people. (Twitter and LinkedIn are coming soon.)« Auf der Website https://www.pathica.com lächelt einem, stellvertretend für alle Prominenz und unter der Überschrift »World Famous Account«, niemand anderes als Will Smith entgegen, offenbar in der frohen Erwartung, mit all den Fans, die seinen Instagram-Accout @willsmith noch nicht abonniert haben, zumindest über Bande verbunden zu werden. (Smith hat übrigens die Bacon-Zahl 2).
All das ging mir – so in etwa – durch den Kopf, als ich 2021, bei einer der wenigen Gelegenheiten, die die Pandemie gestattete, nach einer Vorführung von Denis Villeneuves »Dune« den Kinosaal verließ, um mir, nach mehr als drei Stunden im Kinosaal, endlich die Maske abzunehmen. Nun hat dank des Corona-Virus die Frage, wer mit wem über wie viele Umwege in Kontakt steht, den Bereich der Partyvergnügung verlassen, was nicht nur an den selten gewordenen Gelegenheiten liegt, ungezwungen mit anderen beisammen zu sein. Stanley Milgram dürfte sich bestätigt fühlen: Wenn Corona etwas gelehrt hat, dann, wie unendlich mühselig und aufreibend es ist, die ›Kleine-Welt‹ der kurzen Verbindungen von allen zu allen anderen zu unterbrechen (nachdem wir jahrelang aufgerufen waren, unsere Netzwerke zu pflegen und auszubauen).
In »Dune« wiederum, der davon erzählt, wie verschiedene Welten in einen tödlichen Konflikt miteinander geraten, hatte ich erhebliche Mühe, all die anderen Filmuniversen in meinem Kopf auszublenden, die auf der Leinwand ihren Auftritt hatten. Aquaman (Jason Momoa, »DC Extended Universe«), der Freund eines Wüstenplaneten? Thanos (Josh Brolin, »Marvel Cinematic Universe« [MCU]), auf der Seite der Gerechten? Und beide loyale Soldaten eines Fürstenhauses mit Poe Dameron (Oscar Isaac, »Star Wars«) an der Spitze? Weitere Auftritte aus dem »Marvel Cinematic Universe«: Dave Bautista (»Guardians of the Galaxy«) und Stellan Skarsgård (»Thor«). Dank Zendaya Coleman ist auch Sonys »Spider-Man Universe« (SSU) vertreten, über Javier Bardem, fast schon am Rande, die James Bond-Filmreihe, der Großvater der seriellen Filmproduktion. Die schiere Häufigkeit, mit der in der Science-Fiction-Saga, die nur die erste Hälfte des ersten Buches im »Dune«-Zyklus erzählt, diverse andere mediale ›Universen‹ übers Casting mitgeführt werden, hat zumindest in meinem Kopf Assoziationsketten ausgelöst, die schwer wieder einzufangen waren. Welten über Welten und doch immer die gleichen Gesichter.
Vermutlich bastelt das Produktionsstudio Warner Bros., das auch für das »DC Extended Universe« verantwortlich zeichnet, bereits an einem neuen Franchise-Universum, um den Platzhirschen Disney (MCU, »Star Wars«) ein wenig in Bedrängnis zu bringen. Der TV-Spinoff »Dune: The Sisterhood« für Warners Streamingdienst HBO Max ist bereits in Planung, Villeneuve soll die Pilotfolge drehen. Nun hat Disney 2021 das »world building« durch die Einführung von Paralleluniversen im »Marvel Cinematic Universe« und eine präzise getimte Abfolge von Spinoffs in ihrem Streamingdienst Disney+ (»WandaVision«, »The Falcon and the Winter Soldier«, »Loki«, »Hawkeye«) mit einem Aufwand und Eifer betrieben, der nur schwer einzuholen ist.
Auch mein nächster Kinofilm – Wes Andersons »The French Dispatch« – war ein ›ensemble piece‹ unter Beteiligung paralleler Filmuniversen: dreimal das MCU (Benicio del Toro, Tilda Swinton, Owen Wilson), dreimal James Bond (Jeffrey Wright, Léa Seydoux, Christoph Waltz). Timothée Chalamet, bei Anderson der von sich selbst überzeugte, redselige Anführer der Studentenproteste, hatte ich ja eben noch auf dem Wüstenplanten umherstreifen sehen (»walking without rhythm«), dort noch auf der Suche nach Stimme, Bestimmung und Revolutionsgefolgschaft.
Was das Bauen kleiner Welten betrifft, folgt »The French Dispatch« freilich seiner eigenen Strategie: Keine schicksalhaft miteinander verschlungenen Erzählungen, sondern lauter kleine Miniaturen, locker verbunden nur durch einen Rahmen, der zu Beginn bereits zerbrochen wird. Ein Film wie eine Schachtel teurer Pralinen: Man sieht jeder einzelnen an, wie viel Mühe und Liebe in sie gesteckt wurde, man kann sich zurücklehnen und die Komposition bewundern, aber satt wird man davon nicht, ebenso wenig wird man das Gefühl los, dass diese Pralinen nicht gegessen, sondern nur bewundert werden wollen. Anderson, immer schon eher ein Liebhaber des ›set designs‹ (darin Villeneuve ähnlich) als der dramatischen Entwicklung, hat in »The French Dispatch« das Kino so nahe an einen seiner historischen Vorgänger, das ›tableaux vivant‹, gebracht wie nie zuvor. (Aber vielleicht wäre »Stillleben« der treffendere Ausdruck, schließlich ist »Dispatch« nicht nur die ›Nachricht‹ sondern in einem Doppelsinn auch die ›Abfertigung‹: die Ermordung, und gestorben wird in Andersons Film im Dutzend.)
Auch sonst war das Kinojahr 2021 eines, im dem auf der Leinwand viel Kontakt aufgenommen wurde, mal zum Guten, mal zum Schlechten, aber immer mit dramatischen Folgen. In »No Time to Die« ging es um ein Virus, das nicht wahllos, sondern sehr gezielt bei Hautkontakt nur die jeweils genetisch vorprogrammierte Person tötet, was Bond zu der Entscheidung zwingt, sich mitsamt dem für seine Familie tödlichen Virus, das er in sich trägt, in die Luft jagen zu lassen (scheinbar, denn am Ende heißt es: »James Bond will return«). In »Wonder Woman 1984« (DC Universe) hat der Bösewicht die Macht, die Wünsche der Personen, die er berührt, zu erfüllen, nur um ihnen zugleich hinterrücks Lebensenergie abzusaugen. Der Film kulminiert darin, dass er sich wie ein verrückt gewordener Televangelist via Satellit mit der gesamten Welt verbindet, die daraufhin (beinahe) implodiert. In »Eternals« (MCU) verbindet sich eine Gruppe unsterblicher kosmischer Krieger in einem hell leuchtenden und reich verzierten Schwebe-Ring (»Uni-Mind«), um zu verhindern, dass ein noch unsterblicheres und noch kosmischeres und einfach irre großes Wesen (»Celestial«) geboren wird, das zwar die Macht hätte, zahllose neue Sonnensysteme zu erschaffen, aber als unschönen Nebeneffekt die Erde zerstören würde wie ein Küken, das seine Schale zerpickt, um auf die Welt zu kommen.
Nur als Kinobesucher war man dauerhaft auf Abstand und Kontaktvermeidung getrimmt: Ticket online reserviert, am Eingang über Distanz die Corona-App gescannt, im Kinosaal abseits gesessen, Maske aufbehalten. Seltsame Erfahrung: Der Kinobesuch wird auf gewisse Weise entkörperlicht und die Anonymität der anderen Zuschauer, sonst im gemeinsamen Filmerlebnis aufgehoben, verstärkt nur die Virtualisierung des Gangs in das Kino. Gleichzeitig werben die Streamingdienste damit, über »GroupWatch« (Disney+) oder »WatchParty« (amazon prime) oder »Teleparty« (Netflix) seinen Freundeskreis online zu Mitzuschauenden zu machen.
PS: Meine Distanz im Graphen zu Will Smith: 3 Schritte.