Berlin und Wien
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 104-110]
Wien im Mai 1893. »In einer engen, kühlen Gasse, die den Verkehr zwischen Tuchlauben und dem Wildpretmarkte vermittelt« steht dort das »Bierhaus Winter«, »durch dessen gastliche Pforte schon mancher brave Mann seinen Durst getragen hat.« Die Stimmung im Bierhaus ist ausgelassen. Das mag am ausgeschenkten Bier, dem »geistige[n] Getränke schlechthin«, liegen, das »ohne bestimmte Grenzen getrunken werden« kann und dessen »dialektische Begabung, Widersprüche abwechselnd hervorzurufen und zu schlichten«, d. h. »den Durst zu stillen und ihn wieder zu wecken«, ein illustres Publikum anzieht. So bildet sich ein Stammtisch, »der sich wie eine eigene Institution des Winterbierhauses durch geraume Zeit erhalten hat.« Da sind der hohe Regierungsbeamte, der »sich mit halb Wien auf den Duzfuß stellte«, ein »Professor der Geschichte«, der »zu den lebenslustigen Töchtern des großen Karl in einem intimen geschichtlichen Verhältnisse stand, kraft dessen er von ihnen Geschichten zu erzählen wusste, die dem christlich-germanischen Ideal des Mittelalters nur zum geringsten Teile entsprachen«, ein Architekt, »den man seiner Gestalt wegen den kleinen Oberbaurat nannte« und der einmal, »als er zur Wölbung der Decke des Zimmers aufsah […] seine Ansichten über den Einfluss gewölbter Räume auf die Gemütsentwicklung des Menschen [entwickelte]«, ein Professor der Ästhetik und viele andere mehr. »An dem Stammtische beim ›Winter‹ nahmen die heterogensten Menschen Platz«, resümiert Ludwig Speidel, der all dies in dem in der »Neuen Freien Presse« erschienenen Feuilleton »Ein Wiener Stammtisch« festgehalten hat. Das, was die Zusammenkünfte in jenem Wiener Bierhaus im Kern ausmacht, ist das Gespräch, die Unterhaltung. Diese, so Speidel, »beruht ja auf der Verschiedenheit und, bei sonst gleicher humaner Gesinnung, auf der Reibung der Geister, wobei Funken springen, die nur leuchten, vielleicht auch prickeln, aber nicht brennen.«
Einige Jahre später und etliche Kilometer nördlicher fokussiert der Feuilletonist Bernard von Brentano in der »Frankfurter Zeitung« das Geschehen in der deutschen Hauptstadt: »Es ist in Berlin eben unmöglich, das nackte Leben nicht zu sehen. Der Tod geht wie ein Besatzungssoldat durch die Straßen.« In einer derart »von Leben und Ereignissen erfüllten Stadt« sei es unmöglich zu leben, »ohne eine glatte und widerstandsfähige Oberfläche zu haben, an der wie Wasser an einer Glaswand alles herunterläuft, was anderswo sogar einen Regenschirm durchlöchert.« So anders sei Berlin, dass »es keine Berufe mehr« gebe, die einer ausfülle; vielmehr arbeite man, was man könne, und bleibe immer, was man darstelle. Beschrieben wird hier jener Berliner ›Mentalitätszustand‹, der auch heute noch das Leben und Arbeiten in der deutschen Hauptstadt prägt: »Niemand in Berlin scheint sich um Berlin zu kümmern«, heißt es dort, der »Fehler von gestern wurde eine Tugend von heute.« Von Brentanos Beschreibungen und Analysen der deutschen Metropole münden schließlich in der vielsagenden Feststellung: »Wie das Herz nicht fühlt, sondern schlägt, so ist Berlin eben nicht lieb, sondern es wächst.«
Inspiriert von Vorbildern in der französischen Presse sind Stadtbeschreibungen wie diese, Feuilletons, Plaudereien und Flanerien bis in die 1930er Jahre selbstverständlicher Teil kulturjournalistischer Kommunikation. In überregional erscheinenden Zeitungen wird Autoren wie Speidel, Kürnberger und Spitzer oder von Brentano, Roth und Kracauer der Platz eingeräumt, scheinbar anlasslos über das Geschehen im urbanen Raum zu berichten und sich diesem damit schreibend anzunähern, sich ihn anzueignen und nutzbar zu machen: ihn zu kultivieren. Dabei wissen diese Autoren selbstredend, dass ›ihre‹ jeweilige Stadt nicht im Kollektivsingular existiert; ›die‹ Stadt gibt es nicht. Stattdessen existieren innerhalb eines Stadtraums heterogene Milieus, in denen sich verschiedenartige Szenen ereignen, die wiederum differenzierte Befunde evozieren und divergente Rückschlüsse erlauben. Denn derartige feuilletonistische Beobachtungen und die damit verbundenen Reflexionen sind Teile eines Puzzles, das gleichsam im Kopf der Leserinnen und Leser entsteht. Dieses setzt sich aber nicht nur aus Feuilleton-Texten zusammen, sondern auch aus Versatzstücken der eigenen und den Erfahrungen anderer, aus Filmsequenzen, Romanpassagen und Imagekampagnen, aus wirtschaftlichen, juristischen und politischen Entscheidungen, usf. – kurz: Das jeweils individuelle Puzzle einer Stadt entsteht durch die individuell präferierten Wahrnehmungsmuster und Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Nutzerinnen und Nutzer, mithin aus einer spezifischen stadtkulturellen Ästhetik.
Martina Löw nennt dieses Puzzle in ihrem Buch »Soziologie der Städte« (2010) die »Eigenlogik einer Stadt«, und obwohl sich unter den Vorzeichen von Globalisierung und Gentrifizierung vor allem die Innenstädte, d.h. jene urbanen Räume, die als Märkte schon immer insbesondere dem ökonomischen Geschehen verpflichtet waren, einander zunehmend ähneln, entwickeln unterschiedliche Städte naturgemäß auch unterschiedliche Eigenlogiken. Zweifellos lässt sich auch für andere Städte als für das Wien des Jahres 1893 festhalten, dass sich bierselige Herrenrunden zum Zechen in Wirtshäusern zusammenfinden, und zweifelsohne lässt sich in gleicher Weise feststellen, dass Berlin weder damals noch heute die einzige Großstadt ist, deren ›Aussehen‹ Baustellen, idiosynkratische Erwerbsbiografien, zwischenmenschliche Kälte und Melancholie kennzeichnen. Dennoch (und vielleicht auch deswegen) prägen Vorstellungen von der sprichwörtlichen Wiener Gemütlichkeit und/oder der metropolitanen Hektik Berlins bis in die Gegenwart die ›Bilder‹ der Städte – insbesondere in den Köpfen derjenigen, die explizit nicht in ihnen leben.
Die Idee, jenen urbanen Raum durch Beobachtung und Beschreibung feuilletonistisch zu erschließen, hat sowohl die gedruckten als auch die digital erscheinenden Zeitungen längst verlassen. Es ist nicht länger das Privileg von Feuilleton-Autorinnen und Autoren, sich flanierend durch die öffentlichen wie halböffentlichen Räume der Stadt zu bewegen, um daran anschließend das Gesehene und Erfahrene im jeweiligen Medium zu elaborieren und darauf im Kommunikationsraum Zeitung zu publizieren. In den Social Media haben die Nutzerinnen und Nutzer ebenso viele Möglichkeiten, die Eindrücke zu veröffentlichen, die sie im Verlauf von Erkundungstouren im städtischen Raum subjektiv sammeln. Die Verschlagwortung mittels Hashtags erhöht dazu die Sichtbarkeiten der jeweiligen Beiträge, indem jene den Algorithmen als für spezifische Zielgruppen interessant empfohlen werden.
Einen der interessantesten Accounts, der sich vornehmlich mit der Stadt Wien beschäftigt, betreibt Thomas Harbich, der unter dem Namen @Tom_Harb twittert. Die dazugehörigen Tweets lauten beispielsweise: »Die Station Schottentor ist die einzige Station in Wien, bei der vier Straßenbahnlinien aufeinandertreffen, deren Liniennummern Primzahlen sind. Nirgendwo sonst in Wien treffen so viele Primzahl-Straßenbahnlinien an einem Ort aufeinander. #WienFakt« oder: »Um die Fläche des Wiener Stadtgebietes vollständig mit Mannerschnitten zu bedecken, bräuchte man grob gerundet rund 498 Milliarden Schnitten.« Er fügt hinzu: »Berechnet sind es 498.043.217.286,92 Stück. #WienFakt«. Harbichs Kanal ist abonniert auf jenen Phänomenbereich des Faktischen, den manche womöglich als ›unnützes Wissen‹ diffamieren würden. Die Information etwa, dass die »Grenze zwischen Österreich und Liechtenstein« nur »rund knapp 18-mal länger« sei »als die Liechtensteinstraße am Alsergrund«, mag zwar auf den ersten Blick absurd oder abwegig erscheinen; bei näherer Betrachtung jedoch erweist sie sich als eines von vielen Puzzleteilen, die daran beteiligt sind, den Stadtraum Wiens en detail zu vermessen und die Ergebnisse dieser Erkundungen in Unterhaltsamkeiten zu übersetzen. So erfährt man, dass »die am nördlichsten gelegene Sirene Wiens sich in Floridsdorf am Dach der Feuerwache/Gruppenwache Strebersdorf am Strebersdorfer Platz 1« befinde oder dass mit »Stand 01.01.2021 49 Personen in Wien hauptgemeldet« waren, »die auf Mauritius geboren wurden«. Manchmal verbergen sich hinter den Tweets ganze Schicksale: »Im Jahr 2020 traten insgesamt zwei Personen zur Lehrabschlussprüfung zum/zur Waffen- und Munitionshändler*in an. Eine*r der beiden Prüflinge bestand die Prüfung.« Und nicht selten unternimmt Harbich Exkurse in die Stadtgeschichte: »Bei seiner Eröffnung im Jahre 1914 verfügte das heutige Jörgerbad nicht nur über solche – für damalige Verhältnisse – Besonderheiten wie Wannen- und Dampfbäder, sondern es gab auch Räume, die eigens für Frisöre und ›Hühneraugenschneider‹ bereitgestellt wurden.« Selbstverständlich profitieren diese Beiträge von der Kuriosität des Berichteten. Darüber hinaus aber erzählen sie die Geschichte(n) der Stadt Wien. Gerade diese Exkurse in die Stadtgeschichte eignen sich hervorragend dazu, das historische und das gegenwärtige Wien miteinander zu vergleichen und dadurch den historischen und den gegenwärtigen Stadtraum miteinander zu parallelisieren. Ein anderer Tweet, den Harbich um eine historische Abbildung ergänzt, erinnert an die Dreharbeiten für den Film »Der Todesritt auf dem Riesenrad« (1914; Abb. 1), während derer die Artistin Solange d’Atalide auf ihrem Pferd sitzend eine Runde auf dem Dach einer Gondel des Riesenrads im Prater gefahren ist. An anderer Stelle werden die Followerinnen und Follower Harbichs darüber informiert, dass die erste öffentliche, elektrisch betriebene Uhr Wiens sich auf dem Arthaberbrunnen im 10. Wiener Gemeindebezirk Favoriten befindet (Abb. 2).
Derartige Tweets, die sich in den Feeds der Nutzerinnen und Nutzer erfahrungsgemäß zwischen so variantenreichen Themen wie Sportergebnissen, Politikkommentaren, Tierbildern und Akademikerwitzen eingliedern, aber auch agglomeriert auf der Seite Harbichs gelesen werden können, mögen die Wahrnehmung Wiens als Stadt bzw. das Bild, das von Wien in den Köpfen vieler existiert, nicht radikal verändern. Vielleicht aber tragen sie dazu bei, ›die Stadt‹ neu zu perspektivieren, zumindest aber den Blick auf sie zu verändern: Jeder mag Wiens Riesenrad kennen, aber wer weiß vom lebensgefährlichen Ritt Solange d’Atalides?
In Berlin widmet sich – auf Twitter und auf Instagram gleichermaßen – ein anderes Projekt ebenfalls dem Kuriosen und scheinbar Nebensächlichen innerhalb des Stadtraumes. Der Kanal ›notesofberlin‹ sammelt und veröffentlicht jene kleinen Mitteilungen, Notizen und Beschimpfungen, die sich die Berlinerinnen und Berliner gegenseitig in ihrer Stadt hinterlassen. Hinter dem Projekt verbirgt sich der Fotograf und Blogger Joab Nist, der auf der Suche nach seltsamen, liebenswürdigen oder wütenden Zetteln den Stadtraum Berlins durchkämmt und die herausragendsten Fundstücke veröffentlicht. Inzwischen betreibt Nist dieses Projekt nicht mehr allein, sondern kann auf die Augen und Smartphonekameras seiner Followerinnen und Follower zählen, die ihn unermüdlich mit Material versorgen. Unter den ›Notes of Berlin‹ finden sich reumütige Botschaften, die von den Entgleisungen der letzten Nacht erzählen (Abb. 3), liebevolle Hinweise auf blinde-taube Igel (Abb. 4), in Treppenhäusern angebrachte Aufforderungen, leiser Sex zu haben (Abb. 5), philippikanische Tiraden, die Fahrraddiebinnen oder -dieben chronische Magen-Darm-Infekte wünschen (Abb. 6), oder Bemerkungen, die von den Einpark- auf die Beischlaffähigkeiten schließen (Abb. 7). Jeder dieser Beiträge ist mit kurzen Kommentaren versehen, die den jeweiligen Botschaften eine weitere, meist ironische Ebene hinzufügen. Außerdem werden sie über die Geo-Tagging-Funktion der Instagram-App und die zusätzliche Angabe von Ort und Bezirk im Stadtraum verortet; falls notwendig, wird den Einsenderinnen und Einsendern des betreffenden Fundstücks gedankt.
Indem die ›Notes of Berlin‹, die inzwischen (genauso wie die Feuilletons Speidels oder von Brentanos) auch in Buchform vorliegen, jene Zettelbotschaften in die Interaktionsräume der Social Media transportieren, die in Hauseingängen und vor Wohnungstüren wenn überhaupt, dann nur situativ zugänglich waren, parallelisieren sie – analog zum #WienFakt-Projekt Harbichs – den halböffentlichen und manchmal auch den privaten Stadtraum mit dem öffentlichen. Sie ermöglichen einen Einblick in die Tonalität der verschiedenen Milieus, die sich innerhalb dieses Raums gebildet haben, und sind dann besonders unterhaltsam, wenn sie vom Aufeinandertreffen der verschiedenen Milieus zeugen. Gleichzeitig wirken sie als eine Art Verstärker des viel beschworenen ›Sounds der Stadt‹, der – mal raubeinig und grob, mal liebenswürdig und versöhnlich – von ihren Nutzerinnen und Nutzern geprägt wird.
Die gedruckt erscheinenden Feuilletons von Speidel und von Brentano verfolgen – genauso wie die in die Feeds der Social Media eingespeisten Projekte von Thomas Harbich oder Joab Nist – im Gesamten das Ziel, auf die Wahrnehmung des Stadtraumes einzuwirken: auf das, worauf er verweist. Implizit scheinen sie im Zuge dessen eine zentrale Frage zu stellen: Was ist die Stadt? Ist sie ein architektonischer Raum; sind es die Gebäude und Straßen, Parks und Denkmäler, die den Charakter einer Stadt prägen? Ist sie ein sozialer Raum; sind es die Menschen, die mit ihren Einstellungen und Verhaltensweisen auf das Zusammenleben in einer Stadt Einfluss nehmen? Ist die Stadt ein politischer Raum, der von den verschiedenen Normen und Regimen gestaltet wird, die das Zusammenleben in der Stadt regulieren? Ist sie ein ökonomischer oder ästhetischer Raum?
Folgt man den Überlegungen Michel de Certeaus, hängen die Antworten auf diese Fragen von den konkreten Nutzungspraktiken und Haltungen ab, die die beteiligten Akteurinnen und Akteure gegenüber dem urbanen Raum entwickeln. »Insgesamt«, schreibt de Certeau in »Kunst des Handelns« (»Arts de faire«, 1980), »ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.« Die Art und Weise, wie die Nutzerinnen und Nutzer der Stadt sich in ihr bewegen, und die Spuren, die diese Bewegungen hinterlassen, entscheiden in jedem Einzelfall aufs Neue, was die Stadt ist respektive sein kann. Einigermaßen fest steht nur, dass sich das Resultat dieser Nutzungsweisen dynamisch verändert und stetig aktualisiert. Es handelt sich deshalb bei den gezeigten Beispielen um Momentaufnahmen dessen, was morgen schon ganz anders in Erscheinung treten dürfte. Da die Darstellungsweisen des Städtischen nicht nur, aber in besonderem Maße in der jeweiligen Stadt selbst zirkulieren, sind sie, so gesehen, fluid und wirken auf genau jenes Stadtbild und dessen Wahrnehmung ostinat zurück, für das sie angetreten sind, es festzuhalten.