Kunstmystik
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 98-103]
Einige Jahre habe ich an einem Skisprung-Roman gearbeitet, der höchstwahrscheinlich »Prana Extrem« heißen wird. Obwohl sich die Geschehnisse hauptsächlich in einem kleinen Ort bei Innsbruck zutragen, wollte ich eine Ausstellung des kalifornischen Künstlers James Turrell beschreiben bzw. als seelenlandschaftlichen Handlungsort nutzen können. Turrell, der 1943 geboren wurde, ist bekannt für seine raumfüllenden Lichtinstallationen, die bewusstseinsverändernd wirken, weil sie die menschliche Wahrnehmung herausfordern (i.S.v. überwältigen oder erschrecken), gleichzeitig aber umfassende Seligkeitszustände ermöglichen. Das Licht wird bei Turrell zum Material, indem es hochkonzentriert inszeniert wird, anstatt andauernd und überall und blendend zu sein; das Licht wird freigestellt, transplantiert aus seiner tagtäglichen Allverfügbarkeit. So werden die Präkonfigurationen des Sehens spürbar. Mich hat bei den Dokumentationen, Bildern und Clips schon immer beeindruckt, dass die Werke von Turrell trotz ihrer maßlosen Künstlichkeit eine solch spirituelle Ehrfurcht erwecken. Oft hatte ich den Eindruck, die Besucherïnnen würden sich einer von außen aufgezwungenen Meditation hingeben, ergriffen, trotz des Wissens um die Konstruiertheit der Situation.
Ich selbst hatte noch nie eine Turrell-Ausstellung gesehen, als ich meinen Roman schrieb. Ich stellte mir allerdings oft vor, was mit mir geschehen würde, sollte ich so einen pink schimmernden, unendlichen Lichtraum betreten dürfen. Meine (finanziell) größte Turrell-Anstrengung war am Black Friday 2020 passiert, als ich es mir zugestanden hatte, angestachelt vom kapitalistischen Konsumglimmern, für 150 Dollar den vergriffenen Katalog zur Turrell-Retrospektive, die 2013 im Los Angeles County Museum of Art stattfand, antiquarisch aus Denver zu bestellen. Wochen später kam das dicke, überformatige Buch bei mir in Braunschweig an und ich war sehr zufrieden.
In meinem Roman heißt es u.a.: »Die Ausstellung von James Turrell hatte die Innsbrucker Kunsthalle in einer ehemaligen Industriehalle bei Telfs organisiert. Während eine Hälfte der Halle komplett eingemauert worden war, um eine Lichtinstallation einrichten zu können, waren in der anderen Hälfte das Dach und die Wände zurückgebaut worden; stattdessen befand sich darin jetzt ein sogenannter Sky Space.« Der Erzähler und seine Freundin fahren mit einem schwarzlackierten SUV an einem verregneten Vormittag nach Telfs. Es ist Mai, das Inntal glitzert. Dichte Dunstfelder hängen im Gebirge. Schließlich betreten die beiden Figuren die Ausstellung, sie sind die einzigen Besucherïnnen: »Wir brauchten kurz, um anzukommen. Keine Bilder, keine Gegenstände, keine Horizonte. Nur Licht; traumrosa, internetrosa, was spürbar ins Purpurne schwappte oder überging, ganz langsam wurden wir davon umhüllt. Alles war gleichmäßig und strukturlos. Woher das Licht kam, war nicht wichtig. Ich fühlte meine eigene Auflösung in der Welt; ekstatische Zeit, die herausbrach aus der Linearität.«
Das ist jetzt aber nur die Vorgeschichte, die allerdings entscheidende Auswirkungen auf das hier beschriebene Ereignis hat. Im Sprengel Museum in Hannover gibt es einen Raum mit vier Werken von Turrell. Ich nahm mir vor, dorthin zu fahren, zwischen Konferenzen und Lesungen, um zum ersten Mal selbst eine Ausstellung von Turrell in echt begehen zu können. Nachdem ich das entschieden hatte, entspann sich eine pandemieübliche Verkomplizierung der Umstände. Immer, wenn es mir möglich war, nach Hannover zu fahren, rief ich um 10 Uhr im Sprengel Museum an, um zu erfragen, ob es heute möglich sei, den Turrell-Raum zu besuchen; aufgrund einer Krankheitswelle oder anderweitiger Notlagen konnte häufig kein Aufsichtspersonal abgestellt werden, sodass ich ein ums andere Mal vertröstet wurde. Ende November 2021 stellte ich mich drei Stunden in eine Warteschlange im Braunschweiger Einkaufszentrum, um mich vom mobilen Impfteam boostern zu lassen. Das bekam mir nicht gut. Ich hatte mehrere Tage heftiges Kopfweh und Fieber, bis nur noch ein eigenartiger Schmerz im unteren Teil meiner Wirbelsäule übriggeblieben war. Am 24. November schrieb ich entgeistert in mein Notizbuch: »War eine schlimme Nacht, habe (mich wälzend) bis 6.15 Uhr geschlafen, keine Erinnerungen an die Träume, nur das Gefühl von ontologischem Wanken ist geblieben, ganz langsames Hin- & Herschwanken des ganzen Existenzempfindens, als hätte mich die Lebenskraft immerzu ein bisschen zu den Seiten verlassen wollen & sei aus mir herausgeschwappt.« Am Sonntag darauf war ich wieder halbwegs beisammen. Ich rief im Sprengel Museum an, wo die Frau an der Kasse längst meine Stimme erkannte. Sie sagte, ich könne kommen. Also radelte ich schnaufend zum Bahnhof und setzte mich in den InterCity, meine Wirbelsäule pulsierte unwirsch in meinem Becken und insgesamt war ich nicht letztgültig bei Kräften.
In »High Weirdness. Drugs, Esoterica, and Visionary Experience in the Seventies« untersucht Erik Davis anhand der Schriftsteller Philip K. Dick, Terence McKenna und Robert Anton Wilson den Umgang mit spirituellen und psychedelischen Ereignissen – Begegnungen oder Begebenheiten, in denen unsere rationale Weltsicht radikal angegriffen wird –, vor allem ihre danach einsetzende sprachliche Reflexion. Erik Davis argumentiert, dass extranatürliche Erfahrungen sowie ihre kulturelle Kodiertheit in einer kausalen Verbindung stehen und immerzu aufeinander einwirken. Das Problem des pragmatischen Umgangs sei dabei inhärent: das eigene, interpretative Beschreiben extranatürlicher Ereignisse ist immer vorgeformt bzw. mitgeprägt durch die Texte und Erfahrungsberichte, die es von ähnlichen Gegebenheiten bereits gibt. Die Beschreibungen extranatürlicher Ereignisse müssten also ihrer konstruktivistischen Enge entwischen, um das Erlebte adäquat einzufangen oder nachzukreieren. Im InterCity nach Hannover fragte ich mich, wie meine Ausstellungserfahrung davon vorgeformt sein würde, dass ich bereits beschrieben habe, wie eine Turrell-Ausstellung auf die Besucherïnnen wirkt, obwohl ich es nur spekulativ angenommen hatte bzw. erfunden auf der Basis meiner Auseinandersetzung mit kunstkritischen Essays, YouTube-Kommentaren und Interviews. Ich fragte mich, ob dieser von Erik Davis beschriebene Loop nicht unweigerlich einsetzen müsste, weil ich beim Schreiben von »Prana Extrem« längst entschieden hatte, welchen Eindruck die Kunst von Turrell auf mich machen würde. Timothy Leary weist in seinem Buch »The Psychedelic Experience« darauf hin, dass Drogentrips gewissermaßen vorprogrammiert werden könnten, da die psychedelische Erfahrung per se eine hochgradig reflexive Dynamik habe: Die individuelle Erwartungshaltung und Intention tragen mitsamt unbewusster Vorgänge sowie der Umgebung entscheidend bei zur Wirkung der Droge. Menschen sind quasi auch nur Feedbackschleifen zwischen Erwartung und Ereignis. Was würde meine Wirbelsäule zu tun haben mit meiner Turrell-Erfahrung? Was würde mein zugespachteltes Hirn überhaupt noch zulassen?
Es waren die Tage des ersten Schnees, es war der erste Advent. Ich ging in einem schwarzen, zerschlissenen Daunenmantel, den meine Partnerin ausgemistet hatte, unter Weihnachtsbeleuchtung durch die graue Innenstadt Hannovers. Ich passierte Polizistïnnen mit Maschinengewehren und riesige, militärisch angemalte Nussknacker. Dass ich zum Sprengel Museum lief, kam mir, nach diesen seltsamen Wochen des Aufgeschobenwerdens und der Proflexionen, selbst schon extranatürlich vor. Mir war fast bang deswegen. Ich dachte, dass es nur enttäuschend werden könnte. Laut der Religionswissenschaftlerin Ann Taves wirken Ereignisse aus zwei Gründen extranatürlich: entweder erscheinen sie ideal (idealtypische Harmonie, idealtypisches Grauen, etc.) oder sie wirken wie Anomalien im Realitätsgefüge. Ich habe mir die Werke von Turrell wie eine Kombination dieser Aspekte vorgestellt; ich dachte mir, mich in einer Turrell’schen Lichtinstallation aufzuhalten, würde sich anfühlen wie eine ideale Anomalie, zenmäßig und außerirdisch zugleich. Ich kaufte mir eine Eintrittskarte und schritt durchs Museum, andächtig, um kein Aufsehen zu erregen, aber auch nervös. Ich schaute mir relativ achtlos an, was sonst ausgestellt war, wobei ich den meisten Werken gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Dann gelangte ich endlich zum Turrell-Raum. Ich brauchte kurz, um anzukommen. Der Mann, der Aufsicht hatte, musterte mich, als ich in den abgedunkelten Raum trat. Zweimal ging ich verwirrt zurück zum Eingang, um die Einführungstexte zu lesen, wobei ich bemerkte, dass sie mich nicht sonderlich interessieren. Drei der Werke waren für mich weniger bewusstseinserweiternd, als ich es mir erhofft hatte, das gebe ich unumwunden zu; u.a. eine telefonzellengroße Kabine, in der man seinen Kopf in eine weiße Wölbung hält und manuell die Lichtverhältnisse regulieren kann. Aber man wird weniger vom Licht umhüllt als ich angenommen hatte. Man betrachtet das Licht eher, als dass man von ihm eingenommen wird. Was ich als »traumrosa« und »internetrosa« beschrieben habe, kann man hier selbst zusammenmischen. Wobei man allerdings steht. Ich hatte gedacht, man würde in einem Liegestuhl quasi floatend in eine ferne, rosafarbene Galaxie abdriften, auch wenn ich bekenne, dass meine Vorstellungen wahrscheinlich ein bisschen übertrieben waren. Die Vorstellung ist sehnsüchtiger oder extremer oder extranatürlicher, auch weil man Störfunktionen nicht mitbedenkt: man denkt nicht an andere Besucherïnnen, die belastende Gespräche führen, man denkt nicht daran, dass die Tür schlecht schließt und deswegen verschiedenste Sounds in die eigene Wahrnehmung eindringen, man denkt nicht ans Aufsichtspersonal, von dem man beobachtet wird, man denkt nicht daran, dass Handys vibrieren können. Außerdem: wenn man an eine Ausstellung denkt, denkt man an eine Ausstellung. Wenn man aber in einer Ausstellung steht, denkt man vielleicht daran, dass man seine Mutter zurückrufen sollte, die es schon mehrmals versucht hat. Nichtsdestotrotz lief ich schließlich einen schmalen Gang entlang und erreichte einen abgekoppelten Raum, an dessen gegenüberliegender Wand ein pink schimmerndes, rechteckiges Farbfeld zu sehen war. Das Werk heißt »Slow Dissolve«. Ich war alleine. Ich setzte mich auf eine Bank und betrachtete das Farbfeld, das sich zweidimensional selbst zu prophezeien schien. Meine Wirbelsäule schmerzte. Auch wenn mein Besuch anders verlief als ich es mir gewünscht hatte, war ich beeindruckt von der Ruhe, die von der pinken Farbe ausging. Ich dachte nicht mehr, sondern hockte einfach da und schaute. Zwei weitere Besucherïnnen traten ein. Die Frau setzte sich ebenfalls auf die Bank, aber der Mann ging nach vorne zu dem leuchtenden Farbfeld. Ich nahm wahr, wie er sich der Fläche näherte. Ich nahm es hin. Plötzlich tauchte er seinen Kopf ins Pink. Ich war elektrisiert und verstört. Ekstatischer Raum, der herausbrach aus der Linearität. Der Mann beugte sich weiter vor, sein Oberkörper kippte fast ins Bild. Ich grinste glücklich und lädiert, weil ich mich, obwohl ich intensiv vorbereitet gewesen war, komplett hatte austricksen lassen. Jenseits des pinken Rechtecks befand sich ein weiterer lichtdurchfluteter Raum. Der Effekt wird von Turrell »Ganzfeld« genannt: der totale Verlust von Tiefenwahrnehmung. In der Distanz fiel der pinke Raum in sich zusammen. Sobald die beiden Besucherïnnen weg waren, ging ich selbst nach vorne und blickte halb eingetunkt in das Farbfeld, dessen Ausmaße ich jetzt anhand einiger Kanten erahnen konnte. An einer Stelle seines Buches spricht Erik Davis davon, einen unvollständigen Konstruktivismus zu betreiben, da extranatürliche Ereignisse eine solche unmittelbare Kraft haben können, dass die Vorprogrammierungen gesprengt werden. Ich glaube, nach diesen Momenten gilt es zu suchen.