Vorbemerkungen zu einer Theorie des chinesischen Schnellrestaurants
von Torsten Hahn
11.1.2025

Das Saure, das Salzige, das Herbe und das Süße

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 93-97]

Eine der populärsten Küchen weltweit dürfte ›die chinesische‹, die es eigentlich nicht gibt, in ihren verschiedenen Ableitungen und internationalen Modellierungen sein. Die vielen Schnellrestaurants, die die entsprechenden Gerichte anbieten, präsentieren auf ihren Karten meist eine Mischung der acht als authentisch geltenden, regionalen Küchen Chinas (wie die aus Sichuan stammende Chuan-Küche, die aus Guangdong stammende Yue-Küche usw.). Zudem werden die Gerichte teils an die Geschmackspräferenzen angepasst, die je spezifische Art zu kochen wird also in eine andere Umwelt ›übersetzt‹. Darüber ergeht häufig das Verdikt, die Küche sei verfälscht, sekundär, nicht-authentisch. In Frage steht der Status der populären ›neunten‹ oder ›west-östlichen‹ chinesischen Küche.

Anders formuliert: Kann die Übersetzung überhaupt gelingen oder ist das Populäre nur der Abfall des Echten und Authentischen? Oder umgekehrt, positiv gewendet: Setzt nicht auch die ›neunte Küche‹ auf ihre Art die Philosophie der chinesischen Küche um – und unterläuft damit die Unterscheidung von authentisch/nicht-authentisch? Es geht somit um Distinktion, also das, was die gelungene chinesische Schnellküche besonders und anders als Fast-Food macht. Und damit auch um Aufmerksamkeit für das Besondere im Alltäglichen sowie den Grund, warum es besser ist, vor Ort zu essen (jenseits der sinnvollen Vermeidung von Plastikmüll). Ebenfalls ist damit die Frage aufgeworfen, warum die ernstgemeinte Beschäftigung mit diesen Dingen immer ein wenig lächerlich klingt, also warum Theorie/Philosophie und Küche irgendwie nicht zusammenzupassen scheinen. Es bedarf daher eines Umwegs, um den Weg in das Schnellrestaurant zu finden.

Die Vorstellung, dass es unlauter sein soll, sich theoretisch mit der Küche/dem Kochen auseinanderzusetzen, hat eine lange Tradition, die zu den Anfängen der westlichen Philosophie im engeren Sinne zurückreicht. Das Kochen war die erste Adresse, als es darum ging, den Unterschied von bloß scheinbaren und wirklichen Künsten, echtem und nur scheinbarem Wissen am Beispiel evident zu machen. So geht es in Platos Frühdialog »Gorgias« zunächst einmal darum, das wirkliche Wissen der Philosophie vom scheinbaren der Rhetorik zu unterscheiden. In dieser Prüfung wird auch die Kochkunst Thema, deren Status als Kunst im Dialog dialektisch geprüft wird. Sie wird schließlich auf die Stufe einer bloßen »Übung« verwiesen, »weil sie keine Einsicht hat von dem, was sie anwendet, was es wohl seiner Natur nach ist, und also dem Grund von einem jeden nicht anzugeben weiß«. Damit ist für die Philosophie der Fall zunächst einmal abgeschlossen: Die Kochkunst ist als »unverständig« bestimmt und deswegen keine »Kunst«, im Gegensatz zur »Heilkunst, deren bloßes »Schattenbild« sie sein soll – ebenso wie die Redekunst, als deren Stellvertreterin die Kochkunst hier fungiert, nur Schatten des wirklichen Wissens ist. Im Spätdialog »Parmenides« wird dann der ›Abfall‹ Thema: Dieser hat ebenso wenig wie das Kochen Teil an den Ideen – wer Gegenteiliges behauptete, läuft Gefahr, sich »lächerlich« zu machen, wie der im Dialog mit Parmenides unterlegene junge Sokrates zugeben muss.

Die Verbannung des Kulinarischen ist offenbar gründlich gelungen, wozu nicht zuletzt die Drohung, dass der, der es trotzdem versucht, in den Abgrund des Lächerlichen stürzt, beigetragen haben dürfte. Kochen ist letztlich ›grundloses‹ Herumwerkeln, das auf den Geschmack, aber nicht auf das, was die Dinge wirklich sind, achtet. Dies kann die Medizin – daher ist sie ›Wissen‹, das Kochen aber ›Nicht-Wissen‹ (schon hier wird klar, dass sich, richtet man den Blick auf China, die Sache verkompliziert, sind dort doch Kochen und TCM [Traditionelle Chinesische Medizin] mitunter auf das innigste verbunden). Wer nun meint, der Diskurs um das fehlende ›medizinische‹ Wissen von der Natur der Zutaten und ihrer Verbindungen sei insofern inzwischen ausgehebelt, als Restaurants wie das »El Bulli« bzw. der Trend der Molekularküche, Publikationen wie »perfektion. Die Wissenschaft des guten Kochens« oder Jürgen Dollase in seinen Publikationen (angefangen bei der leider eingestellten Kolumne in der »FAZ«) doch die Lebensmittel in ihre elementaren Bestandteile zerlegt und so den Makel der Unverständigkeit ausgemerzt hätten, unterschätzt das Immunsystem des westlichen philosophischen Diskurses. Denn um die Kunst als Kommunikation mit ästhetischer Dignität frei vom Sinnlichen zu halten, wurde die Möglichkeit, Kochen könne doch eventuell Kunst sein und dann in das Gebiet der Kunsttheorie fallen, durchaus in Erwägung gezogen, allerdings nur, um erneut zurückgewiesen zu werden. So um 1800 durch A.W. Schlegel in seiner Vorlesung zur »Kunstlehre«. Schlegel räumt zunächst ein, die Geheimnisse der Molekularküche vorwegnehmend, dass »durch Rückführung auf Chemie in der Kochkunst viel Neues entdeckt werden« dürfte. Dies ist nun aber keineswegs ein Argument dafür, dass die Reinigung des Ästhetischen vom Sinnlichen, die Kants »Kritik der Urteilskraft« explizit macht, indem gut gewürzte Gerichte unter das Angenehme eingeordnet und damit ironiefrei aus dem Reich des Geschmacks, im philosophischen Verständnis, ausgeschlossen werden, revidiert werden müsste. Vielmehr nutzt Schlegel seinen Hinweis auf die Entdeckung von Neuem im Bereich der Kochkunst für die Aufteilung in Künste einer- und Kunst andererseits – dort das nur Mechanische, Nützliche, Angenehme, hier das wahrhaft Poetische, mit dem sich eine kunsttheoretische Beschäftigung lohnt.

Ganz anders hingegen die ästhetische Tradition in China. In François Julliens »Über das Fade – eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China« (1991/dt. 1999) lässt sich nachlesen, wie zentral hier der Diskurs um den Geschmack, das Saure, das Salzige, das Herbe und das Süße ist. Deren Erfahrung und die damit einhergehende Überwindung der Gegensätze, ihre Aufhebung in einer als Differenz gedachten Mitte ist zentral für das von Jullien vorgestellte chinesische Denken, das um den »›klaren‹ Geschmack« und die Überwindung der Dualismen, wie sie das westliche Denken strukturieren, kreist (worin selbstverständlich bereits angelegt ist, dass auch der West-Ost-Dualismus zu überdenken ist, wozu der »Divan« und – eventuell besser? – chinesische Schnellküche Medien sein können). Der »mittlere Weg« löst den Gegensatz von Dualismen wie »Existenz« und »Nicht-Existenz« auf, sie fallen in der Mitte des Geschmacks zusammen. In einer verwandten Variante ist diese Mitte der durch die Speise zu öffnende Raum eines »potentiellen Geschmacksgenusses«. Potentiell ist der höchste Geschmack im Sinne eines (aus westlicher Perspektive paradoxen) Fehlens, das zugleich die Eröffnung von Überschuss ist. Dieser »potentielle Wert, der sich nicht erschöpfen lässt und umso begehrenswerter bleibt, je mehr er sich dem Verzehr entzieht«, also präsent und absent zugleich ist, bildet das bloß mögliche Zentrum, das ungreifbar bleibt – und dennoch allen Unterschied macht. Dies ist gleichfalls Prinzip in Musik und Dichtung – also den Orten, die notorisch sind, wenn das westliche Denken einen Ausweg aus den ›modernen‹ (sensu Latour) ›Reinigungen‹ und dem binär strukturierten Diskurs sucht. Aber eben: gleichfalls. Ein Weg in das Potentielle führt durch den Ort, wo Speisen zubereitet werden: die Küche.

Dies lässt sich durchaus erfahren, z.B. in einem »China Express Restaurant«, dessen Name, »Herr Chen & Frau Li«, Ausdruck von ›Scherz, Ironie, Satire und tieferer Bedeutung‹ ist. Was diesen Ort ausmacht, der Chinesisch und Deutsch in seinem Namen zu einem höheren Jux verschmelzt, habe ich mich oft gefragt – und es ist diese Frage, auf die der vorliegende Text eine Antwort sein soll. Das kleine Lokal besteht aus einem Gastraum und einer offenen Küche, das Interieur ist erwartbar, allerdings in seiner Zurückhaltung durchaus wohltuend: So fehlen die Sanxing, es gibt nur einen Glücksbuddha (Budai) aus Holz, Backstein und schwarze Ziegel, schlanke Holzgitter zur Trennung von Gang und Tisch. An der Wand dann noch drei Masken aus der Peking-Oper. Die Speisen verbinden die acht Küchen und sind dem europäischen Gaumen angepasst worden, ohne allerdings alle zentralen Vektoren, die das Gericht mit seinem Ursprung verbinden, aufzugeben. So ist der Sichuan-Teller zwar reduziert und an die nicht-chinesische Umgebung angepasst, allerdings zeichnet er sich noch durch die typische Säure aus, die aber hier auf jeden Fall dominanter als die leichte Schärfe ist. Verzichtet wird auf die Kombination von Sichuan-Pfeffer und Chili und somit die leichte Betäubung der Lippen mit gleichzeitigem Schärfeempfinden: das Taub-Scharf, ›mala‹, das diese Küche sonst auszeichnet und unverwechselbar macht, entfällt. Es gibt also Anklänge an Essen in Chengdu, aber ›authentisch‹ ist es sicherlich nicht. Zudem werden die Speisen auf Tellern gereicht, Schälchen gibt es nicht, weshalb auch Stäbchen wenig Sinn machen (auch wenn das nicht alle einsehen wollen). Zu allem Überfluss besteht das Besteck nicht einmal aus Gabel und Löffel, sondern ausgerechnet aus Gabel und Messer, womit das aufgelegt ist, was auf dem traditionell-chinesischen Tisch keinen Ort hat: das wohl westlichste Besteck, das man sich vorstellen kann. Man kann sich nun fragen, ob die auf chinesische Regionen spezialisierten Restaurants, mit Schälchen, Stäbchen usw., nicht notwendig besser sind als »Herr Chen & Frau Li« – die tatsächlich auf ihrer Karte auch Thai-Curries und ein Gericht mit Erdnusssoße aus der Niederlande-Indonesien-Schnittmenge präsentieren. Anders formuliert: Kann oder sollte man da reingehen, insbesondere wenn der Blick aus dem Fenster auch noch auf einen Ableger des »TopTop Donuts«-Franchise fällt – was Spekulationen über die Mitte, das Potentielle und die dekonstruktive Spur, die durch die Küche der Schnellrestaurants führt, zunächst einmal wenig förderlich ist.

Anders wirkt allerdings das unentwegte Geklapper mit Pfannen und Flaschen, das der Ambient-Sound des Ladens ist. Ein Blick auf »Herr Chen« belehrt über die Herkunft des Sounds: Pro Gericht werden eine Vielzahl von selbst mit Ölen und Seasonings befüllten Flaschen, deren ursprüngliches Label kaum noch erkennbar ist, zum Einsatz gebracht – und zwar in einer Reihenfolge, die vermutlich nur »Herr Chen« kennt. Aber auch dies erklärt noch nicht, warum das Essen in diesem Laden trotz der erwähnten Flaws funktioniert und der Raum gleichzeitig ein reales Schnellrestaurant und die Verräumlichung des potentiellen Geschmacks sein kann, wie oben behauptet. Dies bleibt solange ein Geheimnis, bis einem die mit jedem Kochvorgang sich wandelnde Atmosphäre klar wird. Der Teller korrespondiert zunächst einmal mit dieser Atmosphäre. Achtet man darauf, wird klar, warum die mildere Version etwa des Sichuan-Tellers Sinn macht: In seiner Korrespondenz mit einer Atmosphäre aus Sternanis, die entsteht und sofort wieder vergeht, wird das paradoxe Paar aus Mangel und Überschuss wirklich. Die Fülle fehlt und ist doch da; der Teller, so wie er ist, ist das Medium ihrer ephemeren Verwirklichung. Dafür, dass dies funktionieren kann, ist die offene Architektur des Schnellrestaurants und die unmittelbare Nähe zum Herd Voraussetzung. Es muss so nah sein, dass die Atmosphäre den Gast einhüllt, ohne – und dies gelingt hier vorzüglich – zu bleiben, wie der Geruch nach Fett es würde. Nicht zuletzt deswegen fällt der klassisch deutsche Imbiss aus und ist, was er ist: eine Pommesbude eben. Dieses ebenso plötzliche wie flüchtige Gelingen der Verschmelzung des Aktuellen mit dem Potentiellen und damit die Realisierung des ›höheren‹ Geschmacks ist die Kunst des chinesischen Schnellrestaurants. Die Dekonstruktion der Unterscheidung von Westlichem (das Besteck, die Teller, die zurückhaltende Schärfe, der fast gänzliche Ausfall des Bitteren) und Östlichem (die zur Atmosphäre um-modellierte Luft) geht vom Osten aus. Der von Jullien betonte Dualismus von ›Existenz‹/›Nicht-Existenz‹ ist hier freilich übersetzt: nämlich in ›Authentisch‹/›Nicht-Authentisch‹. Es geht dabei nicht darum, das Nicht-Authentische zu loben und so die Differenz zu festigen, diesmal nur mit umgekehrten Vorzeichen. Was das chinesische Schnellrestaurant vorführt, ist vielmehr die Möglichkeit, die Unterscheidung in Gänze zu verabschieden. Dies kann natürlich nur vor Ort funktionieren; es ist ein ganz und gar lokales Phänomen. Wird das Essen geliefert und damit aus der Atmosphäre gerissen, verfliegt auch der Zauber der Dekonstruktion. Allerdings sorgen die Bestellungen bei Lieferdiensten für mehr Aktivität und damit auch für mehr und sich schneller ablösende Atmosphären – insofern ist die neue, große Freude am Bestellen für den, der im Schnellrestaurant isst, tatsächlich ein Gewinn – und dies vermutlich exklusiv.

 

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