Boxen ohne Kopftuch
von Christoph Ribbat
11.1.2025

Berliner Meisterschaftsturnier

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 89-92]

Um den Ring herum stehen Pulks junger Männer in Sportswear. Der Ringrichter trägt Fliege, weißes Oberhemd und ein Deutschlandwappen über dem Herzen. Es ist schon peinlich, dass wir uns heute zum ersten Mal in unserem weit fortgeschrittenen Leben Boxkämpfe anschauen. Wirklich anschauen. Vor Ort. Noch peinlicher, dass wir mit Verspätung eingetroffen sind. So haben wir verpasst, wie Alice Backwell in der Klasse bis 54 Kilogramm Sadia Bramand besiegt hat. Ab jetzt werden bei diesem Berliner Meisterschaftsturnier nur noch männliche Boxer zu sehen sein.

Wir haben eine ungefähre Vorstellung davon, dass Schreibende, die sich dem Faustkampf nähern, Intensität suchen, die ihnen ihr sonstiges Leben nicht gibt. Und dass sie sich dabei gern in problematischen Fiktionen vom ultimativ Anderen verlieren. Wir haben aber auch mitbekommen, was Loïc Wacquant gezeigt hat, für die South Side von Chicago: dass das Boxen keine authentisch-impulsive Ghettopraxis ist, sondern aus einer Kultur der Strenge, der Selbstkontrolle hervorgeht.

Wacquant hat selbst Jahre lang geboxt, um diese Dinge herauszufinden. Er nennt das »fleischliche Soziologie«. Wir dagegen gucken nur und wissen noch nicht einmal, welcher der beiden gerade vor unseren Augen Kämpfenden – Aleksandar Bukriev oder Adam Artschakov – der bessere ist. Bukriev ist ein Stück größer als Artschakov. Das könnte, diese Meinung trauen wir uns zu, ein Vorteil sein. Wir bemerken, dass es sehr seltsam und ästhetisch unüberzeugend wirkt, wenn eine Faust das Gesicht treffen soll, aber nur in die Luft um das Gesicht herum stößt. Trifft eine Faust dann doch den Kopf, berührt uns das auf eine noch viel unangenehmere Art.

Bukriev gewinnt nach Punkten. Er wird uns noch beschäftigen. Aber weil wir so empfindsam sind, sinnieren wir jetzt erst einmal über das Licht in dieser Immobilie. Das gastgebende Sportzentrum, die Bruno-Gehrke-Halle, Spandau, mag in einem verfallenden Industriegebiet liegen (diverse scheinbar kaum profitable Autowerkstätten, ein bescheidenes Studio für »Brazilian Jiu-Jitsu«), hat aber fantastisch hohe Fenster. Durch sie fällt die Nachmittagssonne auf das Fischgrätparkett und auf Boxer, Ringrichter, Kampfrichter, Ringärztin und Publikum: Uns alle verwandeln diese Strahlen.

Allerdings ist die Illumination der Bruno-Gehrke-Halle längst literarisch bearbeitet, von einer Faustkämpferin. Früh in ihrer Autobiografie »Dream Big: Wie ich mich als Boxerin gegen alle Regeln durchsetzte« (Hanser, 2020) bemerkt Zeina Nassar den Spandauer Sonnenzauber: »Die Staubpartikel«, schreibt sie, »zirkulieren in der Luft und glitzern im Licht, irgendwie magisch.« Sie verliert ihren ersten Kampf, will aufgeben, macht doch weiter. Kommt zurück. Kämpft sich empor, wird Deutsche Meisterin. Ist nicht irgendeine Boxerin, sondern eine, die im Hijab kämpft, was die Autoritäten des Boxsports ihr erst verbieten und dann doch erlauben. Nassars Autobiografie führt zu triumphalen Momenten. Sie wird zur Nike-Werbebotschafterin ernannt (für den brandneuen »Nike Pro Hijab«), trifft LeBron James und Simone Biles und schafft es zwar nicht, sich für die Olympiade in Tokio zu qualifizieren, gibt aber, sagt sie, niemals auf, und schreibt, dass auch wir niemals aufgeben sollen.

Wie emanzipativ es ist, künftigen Frauengenerationen das Boxen mit Kopftuch zu ermöglichen? Dazu können wir nichts sagen. Wer sind wir denn? Wir haben uns an Nassars lebendigem Buch erfreut. Und das wäre ohne Hijab nicht entstanden. Ist eine solche Position untertheoretisiert? Wahrscheinlich. Jedenfalls steht jetzt in der roten Ecke Bernhard Rothweil vom Boxclub Roter Stern. In der blauen Ecke: Rahim Diallo, Viktoria 71. Sie gehen aufeinander los.

Diallo wirkt agiler, motivierter, Rothweil ein bisschen schwerfällig. Wer sich als Experte fühlt, das ist bei einem Zuschauer ein paar Stühle weiter definitiv der Fall, der ruft jetzt laut: »Schlaghand!« Oder: »Ring abschneiden!« Richtig weh haben sich Diallo und Rothweil bisher noch nicht getan. »Schlaghand!«, »Schlaghand!!« Die Glocke. Pause. Nun fallen unterschiedliche Techniken auf. In der roten Ecke nimmt der Betreuer das Handtuch mit zwei Händen an der oberen Kante, schwingt es hinauf und wieder hinab und sorgt so für die Frischluftzufuhr zum Athleten. In der blauen Ecke nimmt man das Handtuch in eine Hand, lässt es rotieren und ventiliert den Kämpfer auf diese Weise. Glocke. Ende der Pause. Diallo drängt Rothweil in eine Ecke, trifft und trifft. Jetzt verstehen wir, was »Ring abschneiden!« bedeutet. Glocke. Schwingendes Handtuch, rotierendes Handtuch. Glocke. Wir könnten »Schlaghand!« schreien, um Kenntnisreichtum zu simulieren, aber der lautstarke Fachmann ruft nun: »Gerade Hände! Rahim! Gerade Hände!« Diallo ist deutlich im Vorteil. Aus der Nähe der blauen Ecke hören wir: »Kill him!« Das war sicher nicht so gemeint. Rothweil blutet. Der Kampf pausiert. Rothweil tritt an die Seile. Die Ringärztin leuchtet ihm mit einem Lämpchen in die Augen. Sie fragt ihn etwas. Rothweil nickt. Der Kampf geht weiter. Diallo wirkt weiterhin aufgekratzt, sein Gegner passiv. Glocke. Diallo wird zum Sieger erklärt. Rothweil macht einen Rückwärtssalto aus dem Stand und verlässt dann erst den Ring. Damit wollte er wohl etwas aussagen. Diallo zeigt für diverse Handys seine Muskeln und beißt auf die Medaille. Sie scheinen beide das performative Moment des Sports sehr zu schätzen.

Hinterher, zurück aus Spandau, werden wir erfahren, was für Leute hier wirklich zusammengekommen sind. Aleksandar Bukriev, das kann man online lesen, betrachtet die Mitglieder des Trainingszentrums Isigym, Potsdamer Straße, als seine Familie. Er ist zum Islam konvertiert und heißt jetzt eigentlich Hamza. Bernhard Rothweil hat mit seinem Boxclub Kuba besucht und die berühmte alte Sporthalle »Rafael Trejo« in Havanna renoviert. Neue Boxsäcke dort aufgehängt. Einen neuen Ring gebaut. Alice Backwell werden wir in der realen Welt begegnen, an einer Straßenecke in Schöneberg. An einem Stromkasten dort hängen zwei Plakate. Das linke wirbt für Madame Tussaud’s, das rechte für die Kampagne »Lesbische* Sichtbarkeit in Berlin«. Backwell ist auf dem rechten Poster zu sehen. Sie lehnt in Boxmontur an einem Boxsack und schaut mit einem eine Spur ironischen Lächeln in die Kamera. Das Plakat verrät, dass sie einen Master in Public Policy hat und jetzt eine Ausbildung zur Gärtnerin macht.

Aber noch sind wir in der Halle. Das Licht wird nun weniger märchenhaft. Alikhan Bazlaev kämpft gegen Aykan Yilmaz. Leichtes Schwergewicht. »Geiler Kampf« sagt ein Betrachter. »Körper!« schreit jemand. Was bedeutet es, fordernd »Körper!« zu rufen, wenn gerade zwei offensichtlich vorhandene Körper im Ring aufeinander eindreschen? In den Pausen dieser Partie keine Luftzufächelung, sondern ausführliche taktische Unterweisungen. Schön, dass die blaue Ecke Aykan Yilmaz Wasser auf den Kopf träufelt und dann mit dem Schwamm noch einmal auf seinem Haupt hinterherwischt. Schön, dass der Kampf unterbrochen wird, weil Alikhan Bazlaevs Schnürsenkel offen sind. Die rote Ecke macht sie ihm zu. Alles ist schon über das Boxen gesagt, aber wir müssen wirklich noch einmal betonen, dass der Sport, der angeblich wie kein anderer für die absolute Individualisierung steht (zwei Einzelsportler gegeneinander, im existentiellen Duell) tatsächlich zahllose Gesten des Miteinanders und Betreuens hervorbringt. Umarmungen, Kopf tätscheln, Kopf abwischen, jemanden den Mundschutz aus dem Mund in die eigene aufgehaltene Hand spucken lassen, jemandem den Mundschutz wieder in den Mund stecken: jeder Kampf ein Fest intimer, unterstützender Kontakte. 2:1-Punktsieg für Yilmaz. Als Bazlaev nach dem Kampf schweigend am Rande einer Männergruppe steht, sieht er zwanzig Jahre jünger aus als im Ring. Dort oben hat er wie Anfang dreißig gewirkt.

Wir sind jetzt nicht mehr ganz so konzentriert. Dass Melvin Kahrimanovic gegen Ibragim Adamov dominiert? Andere bemerken es. »Macht er jut, der Jugo«, sagt ein Zuschauer. Unser Blick schweift weg vom Ring. Wir beobachten Aleksandar Bukriev. Der steht schon eine Weile, nach wie vor in Boxhose und -hemd und die Medaille um den Hals, ein paar Meter von uns entfernt und macht Konversation. Mit diesem, mit jenem. Mit Boxern, Betreuern, Kumpels, Fremden. Ganz offensichtlich ist Bukriev eine Smalltalk-Maschine. Hier ein Handschlag, da ein Foto, da eine Umarmung, wieder ein Foto, wieder ein Handschlag. Sind das nicht Szenen wie aus einem Lehrvideo? »Post-Covid-Netzwerken für Fortgeschrittene«?  Wir wissen genau, dass in zwanzig Jahren beim Weltwirtschaftsforum in Davos dieser Aleksandar/Hamza Bukriev an einem Konferenz-Imbiss-Stehtischchen lehnen und bei alkoholfreiem Champagner mit zwei Premierministerinnen kleiner, aber wirtschaftsstarker Nationen sowie Chimamanda Ngozi Adichie über die Zukunft der Welt parlieren wird. Zeina Nassar wird auch kurz hallo sagen – wenn sie nicht in wichtigere Gespräche vertieft ist.

Während diese Vision immer klarer wird, verkündet der Ringrichter Ibragim Adamovs Niederlage. Der Verlierer schleicht in die blaue Ecke. Später werden wir an Floyd Patterson denken, den amerikanischen Boxweltmeister, und an seine Autobiografie. Er schreibt darin, dass er sich als Kind selbst nicht mochte. Dass er deshalb einmal ein Porträtfoto von sich nahm und mit einem Nagel ein großes X auf das Gesicht kratzte. Er schreibt über seine Boxkarriere. Wie er bei einem Weltmeisterschaftskampf niedergeschlagen wurde, 1959, von Ingemar Johansson, und wie er auf dem Boden lag, zur Seite schaute, und durch die Seile hindurch auf John Wayne blickte, den im Publikum sitzenden Hollywoodstar, seinen Lieblingsschauspieler.  Dass er dann aufstand, um weiterzukämpfen und sich dafür schämte, dass John Wayne ihn so gesehen hatte. Und dass er dann den Kampf verlor.

In Spandau steigt Ibragim Adamov aus dem Ring. Er richtet sich auf. Kommt die Treppenstufen hinunter. Aus einer Zuschauergruppe hört er anscheinend einen despektierlichen Kommentar. Mit seinem eindrucksvollen Körper gibt er zu verstehen, dass er diesem Kritiker eins auf die Nase geben wird und zwar jetzt gleich. Zwei Männer halten Adamov fest, stoppen seinen Vorwärtsdrang, drehen ihn weg, Richtung Ausgang. Frustgebeugt verlässt er die Halle. Das Turnier ist vorbei. Aber im Ring steht noch Aleksandar Bukriev. Man überreicht ihm einen Pokal. Er war, meint die Kampfleitung, der beste Techniker des Wettbewerbs. Strahlend nimmt er die Auszeichnung entgegen.

 

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