Chirotechnologien
von Gunnar Schmidt
4.1.2025

Handhabungen zwischen Touchscreen und Drehregler

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 100-105]

Es ist eine allbekannte Tatsache, dass es in Mensch-Maschine-Kopplungen zu weitreichenden Durchformungen kommen kann: Der Körper, die Kognition, das Empfinden, die Affekte, die Beziehungen werden – nach einem Wort McLuhans – von Technologien »massiert«. Zumeist wird nur in der Rückschau erkennbar, welche Veränderungen am Menschenbild – wie von unsichtbarer Hand – vollzogen wurden.

Seit nunmehr 15 Jahren erfährt ein Körperaspekt erhöhte Aufmerksamkeit, mit dem Handlungsgewinn verbunden wird: Hände führen auf leuchtenden Screens Mikro-Choreografien und Dauerliebkosungen der zartesten Art aus. Eine chirologische Revolution? Wissen wir oft nicht, was die Hände tun, ist es unter den neuen Nutzungsbedingungen zur Selbstverständlichkeit geworden, dass wir ihnen zusehen, wie sie mit dem Fast-Nichts körperloser Symbole mühelos hantieren.

Es ist kein Zufall, dass in diesem historischen Augenblick Studien entstehen, die nach Tiefenwirkungen der äußerst vielfältigen Funktionsvariationen der Hände forschen. Der Psychoanalytiker Darian Leader untersucht in »Hands. What We Do With Them – and Why« (2016) das Zusammenspiel von Psychogenese, Triebstruktur, Körperlichkeit und kulturellem Wandel. Jochen Hörisch wiederum setzt in »Hände. Eine Kulturgeschichte« (2021) als Zentralphänomen die Literatur Goethes, in der er das »Leitmotiv« Hand erkennt. Ausgehend von hermeneutischen Textauslegungen kann er weit ausgreifende ideengeschichtliche Exkursionen unternehmen, in denen die Hand als Tatsache und als Metapher eindrückliche Signifikanz erlangt. Im Sammelband »A Touch of Doubt. On Haptic Scepticism« (2021 hg. v. Rachel Aumiller) werden epistemische und ethische Problemstellen des Berührens philosophiegeschichtlich identifiziert.

Im Gegenstoß zur oben gemachten Behauptung, dass die neuen Medientechnologien zu einem Dauerinteresse an der Handtätigkeit verleiten, behaupten Leader und Hörisch, es existiere eine Unauffälligkeit dieser Bedeutsamkeit. Hörisch spricht philosophiegewichtig von »Handvergessenheit«, während Leader alltagsnäher »Achtlosigkeit« (»neglect«) diagnostiziert: »The digital age may have transformed many aspects of our experience, but its most obvious yet neglected feature is that it allows people to keep their hands busy in a variety of unprecedented ways.« Beide Autoren verfügen über starke Argumente. Leader hebt mit Recht hervor, dass die Daueraktivität und Rasanz der Steuerungsgebärden geradezu Beobachtungskompetenz unterminieren. Hörisch erkennt in der Zurücknahme der Handfertigkeit im Zeitalter der Digitalität und Robotik eine »Erosion von Handgreiflichkeiten« und benennt weiterführend kulturhistorische Großstrukturen als Ursache: die Wertdegradierung der Handarbeit zugunsten akademischer Arbeit, die Auflösung des poetischen, berührenden Körpers im Dispositiv der Fernmedien, die Geistfixierung der Philosophie.

Diesen kulturanalytischen Diagnosen ist eine theoriekritische hinzuzufügen: Bedenkt man die psychodynamische Rolle der Hände in der frühen Mutter-Kind-Beziehung sowie die Funktion für die Sexualität und für die Erkenntnis, kurzum, für das Verfolgen von Wünschen, dann muss es erstaunen, warum in der ontogenetischen Periodisierung (Oralität, Analität, Genitalität) und der dazugehörigen Charakterologie der Psychoanalyse die Kategorie der Manualität fehlt.

Die skizzenartige Erkenntnisszene mit dem Universalorgan Hand, in der Leibfraglosigkeit, chimärenhafte Adaptionsbereitschaft für Technologien und zwanghaft-subjektlose Autonomieneigung zu einem Komplex verschmelzen, dient dazu, den Kontext für eine Nahaufnahme zu setzen. Ein zunächst äußerst beiläufig erscheinendes Phänomen steht zur Debatte, das in inszenatorischer Deutlichkeit das Thema der manuellen Gewissheit und Herrschaft vor dem Hintergrund einer subtilen chiropraktischen Umformierung konturiert.

Beinahe täglich erreichen mich auf Instagram unter der Rubrik »Vorgeschlagene Beiträge« kurze Videos aus der Modular-Synth-Szene. Der Großteil dieser Filme folgt einem formalisierten Schema: Der Kamerablick fokussiert auf den Synthesizer. Als hätte es die kaltglühenden Touch-Displays nie gegeben, sind die Synthesizer mit einer Vielzahl an Dreh- und Schiebereglern armiert. Kabel schlängeln sich aus Steckfeldern und bilden ein verwirrendes Bild der Konnektivität. Dazu blinken LEDs im Rhythmus der Sequencer-Phrasen, aus denen die Klangwirklichkeit der Szene vornehmlich besteht. Was der Begriff ›modular‹ andeutet, wird in den Videos zur anschaulichen Demonstration: Die Systeme bauen sich die Spieler selbst zusammen, wobei sie Module von verschiedenen Herstellern kombinieren können. Die Ausmaße der Geräte können sehr variieren – vom überschaubaren Tischgerät bis zur wandfüllenden Techno-Station.

Die feierliche Technik-Erscheinung erzeugt den Eindruck historischer Vermischtheit. Einerseits sieht sich der Videorezipient mit neuester Technologie konfrontiert, andererseits tritt der Retro-Eindruck unverhüllt hervor. In einer einführenden Beschreibung der Technik wird dieser Doppelcharakter sprachlich ins Bild gefasst: »Hunderte Kabel stecken – von außen undurchschaubar chaotisch – an einer Wand zwischen flackernden Lämpchen, bunten Drehknöpfen und einer scheinbar zufälligen Ansammlung von fast außerirdisch anmutenden Geräten. Weder sind wir im Rechenzentrum des CCC, noch im Maschinenraum von Scotty gelandet, sondern bei einem Modularsynthesizer.«

Die retrofuturistische Anmutung erhält ihre Bestätigung durch den Maschinitätscharakter der Musik, in der sich das anorganische Prinzip des Gleichmaßes erbarmungslos Ausdruck verschafft. Ein wiederkehrendes Inszenierungsformativ ist dabei die Ausstellung des Automatismusprinzips der Systeme: Fast alle Videos zeigen das Gerät zunächst als selbstspielend, wobei der Musiker-Ingenieur oft nicht im Bild erscheint. Schönheit und Enigmatik des Synthesizers spiegeln sich in dem scheinbaren Eigensinn klanglicher Lebendigkeit.

Die demonstrative Undurchschaubarkeit und mysteriöse Agentenhaftigkeit bilden allerdings nur die Voraussetzung für einen entscheidenden Umschaltvorgang. Es gehört zum Genreprinzip der Videos, dass eine Hand vom Bildrand her in die Szene schwebt. Das pathetische Pars pro Toto des Schöpfers hat seinen Auftritt und erfüllt seine Funktion, indem es meist sehr vorsichtig einen der vielen Regler bedient. Vernehmbar wird eine Veränderung am Sound. Die Hand kann im Rahmen bleiben oder sich wieder zurückziehen, in jedem Fall hat der Betrachter etwas verstanden: Es gibt einen Herrscher über das System. Nicht die virtuose Fingerfertigkeit eines Musikers ist gefragt, sondern ein Wissen um die Funktions- und Aufbauweise des Techno-Gebildes. Der Zuschauer erlebt ein ›Es geschieht‹, ein weihevolles, profan-magisches Ritual, das Techno-Numinosität erzeugt. Dieser Effekt wird dadurch bestärkt, dass die ›Hand‹ stumm bleibt; nur selten werden den Videos technische Kommentare oder musikästhetische Reflexionen beigefügt. Die symbolische Kraft liegt ganz in der ikonischen Repräsentation der Technizität und ihrer Handhabbarkeit.

Ein Zitat Fernand Légers aus dem Jahr 1925 ist aufzurufen, das für heute geschrieben zu sein scheint: »The hand is an object with multiple, changeable meanings. Before I saw it in the cinema, I did not know what a hand was! The object by itself is capable of becoming something absolute, moving, and dramatic.«

Die Popularität der Geräte und die Rezeption über den Social-Media-Kanal darf in Verbindung mit der genannten chirologischen Revolution gesehen werden. Der Touch-Screen-Computer, der als »hand-held device« ubiquitär geworden ist, wird zwar bedient, aufgrund seines Black-Box-Charakters und der Reduktion der Handfunktion auf Streichelgesten entsteht jedoch kaum mehr das Gefühl von Handhabbarkeit. Nicht umsonst lautet das Schlüsselwort des Digitalzeitalters ›usability‹, Benutzbarkeit. Prozessrealität vollzieht sich unterhalb der Leuchtfläche, außerhalb von Beobachtbarkeit und direkter Manipulierbarkeit. Der Modular-Synthesizer versinnbildlicht demgegenüber ›manageability‹. Indem er scheinbar das Innerste nach Außen kehrt, ruft er danach, angefasst, montiert, verschaltet und schließlich zum Klingen gebracht zu werden. Die Geräteästhetik setzt auf traditionelle Haptik; der Spieler baut sich einen Mikrokosmos der Mechanik, wo er schaltet und waltet, wenn er dreht, drückt, tippt, steckt, zieht, schiebt. Diese Geräte sind chiro-erotisch, gerade weil sie sich nicht ›handy‹ geben.

Dem Handfesten steht konträr das musizierende Handlungsdispositiv gegenüber: Die geringste Geste am Drehknopf genügt, um als Stellvertreterausdruck einer Bemächtigung erkannt zu werden. Gerade die Beiläufigkeit des Eingriffs angesichts protzender Technik signalisiert Souveränität. Weil die Handhabbarkeit in der Normalität und Normativität der leibfernen Leittechnologien verloren gegangen ist, vermag der Spieler an der nostalgischen und Lebendigkeit simulierenden Maschine kompensatorische Beruhigung zu finden.

Der nicht eingeweihte Videobetrachter hingegen gerät in eine symbolische Ambivalenz: Ich verstehe nicht, was in und zwischen den Modulen vor sich geht, verstehe aber sehr wohl den symbolischen Subtext: Eine verführerische Rückwärtsgewandtheit oder, im Blochʼschen Sinne, Ungleichzeitigkeit spricht sich in der Theatralisierung der Technik aus. Die Hand wird zum Inbild eines Wandels und zum gespensterhaften Wiedergänger der Vergangenheit, der auf das Jetzt reagiert. Als ›membrum disiectum‹, scheinbar subjektlos, wird die Hand zur sinnhaften Zumutung: Sie verspricht müheloses Verfügen und tritt doch auch als Instanz auf, die das mir Unzugängliche erzeugt. Man möchte den Videomachern nicht so viel gedankliches Raffinement unterstellen, das auf die intentionale Erzeugung eines Double Binds zielt, wiewohl die Ambition erkennbar ist, ein Können bei gleichzeitiger Verweigerung einer nachvollziehbaren Erklärung vorzustellen. Die in der Mehrzahl männlichen Akteure anonymisieren sich in ihrer Maschine und in ihrer Hand, woraus ein mythisches Rätselbild gewonnen wird. Das Videobild und der Soundtrack sind Machtdemonstrationen.

Das Zusammenspiel aus Utopie und Rückwärtsgewandtheit, Aufklärungsgewinn und Mythisierung reanimiert unter der Hand einen Kunstbegriff, der zwar weiterhin existiert, jedoch längst unter den Prämissen der Konzeptkunst an Bedeutung verloren hat. Die Vorstellung von der Künstlerhand, durch die nicht nur das Auge, sondern auch Geist, Empfindung, Seele wirken, entsteht im 18. Jahrhundert im Zuge der Empfindsamkeit und Romantik. Wolfgang Ullrich spricht zu Recht vom »kunstreligiösen Affekt«, der auf einer geheimnisvollen Metaphysik der Seele-Leib-Materie-Relation beruht. Gemäß dieser Konzeption gießt sich die Seele in eine materielle Form und verwirklicht sich darin. Der Begriff ›Kunstreligion‹ folgt dem Säkularisierungsmotiv der Funktionsübertragung göttlicher Schaffensmacht auf den Menschen. Was einst ›die Hand Gottes‹ genannt wurde, erfährt ihre profane Realisierung in der Hand des Synthesizer-Mechanikers. Er demonstriert in actu Quasi-Göttlichkeit, wenn mit überlegter Gewissheit und feinster Reglereinstellung eine Belebung im mächtigen Soundgeschehen bewirkt wird. Die videografierte Hand ist für die Sekunden ihres Auftritts das Ganze des kreativen Subjekts. Ein Synthpatcher scheint diesen Zusammenhang begriffen zu haben, in Abwandlung seines gesetzlichen Namens nennt er sich »gdhancz« – Godhands.

Die Minimal-Performances könnten als Techno-Expressionismus denunziert oder als künstlerischer Versachlichungsgewinn gepriesen werden. Interessanter ist die kultursemantische Betrachtung: Mit ihr wird die reduzierte Ausdrucksgebärde als Phantasma eines erleichterten Künstlertums erkennbar. Dieses Künstlertum definiert sich durch die Beherrschung der Technik und nicht mittels unangenehmer Überlegungen zu Funktion, Zeitgemäßheit und Kontextangemessenheit von Kunst. Als symbolische Form repräsentiert und bewältigt das Bild der Hand-Geräte-Kopplung, was im größeren Kontext der Kultur als lähmender Ansturm von Kontingenzen, Chaos, Widersprüchen, Inkonsistenzen, Unverständlichem und Unüberschaubarkeit erlebt werden kann. Die virtuell unendlichen Verschaltungs- und Einstellungsmöglichkeiten werden mit jedem neuen Patch (Verbindung von Modulen) zur ästhetischen Genussform gebracht – und zwar mit demonstrativer Leichtigkeit. Der Überraschungseffekt ist erwartbar, mehr noch, er wird zur Daueraufgabe. Doch erschreckt das unabsehbare Möglichkeitsreservoir nicht, im Gegenteil, es bildet das stabilisierende Element. Die Hand, die »Einstellungen« vornimmt, mithin formalisierend agiert, darf sich sowohl als expressiv als auch rational handelnd erleben. Ein Szene-Akteur schreibt in einem Kommentar: »It makes no sense to be jealous of what others have or achieve. Their path is as unique to them as yours is to you – envy just makes us stand still and kills all of the progress we could be making on our own journey.« Das Wort »path« ist doppeldeutig: Es meint den Pfad der Signalverschaltung und im esoterischen Sinn den Weg der künstlerischen Selbstrealisierung. Das »Haben« bezeichnet sowohl die Begabung als auch den Besitz von Modulen.

Technik verspricht Individualitätsgewinn – und Zeitbeherrschung. Der Modular-Synthesizer, der seinen Ursprung in den späten 1950er- und 1960er-Jahren hat, erzeugt einen Kompromiss aus Sixties-Nostalgie und Jetztzeitgefühl. Flucht aus der Zeitbezogenheit ist Revolte gegen den Imperativ der Zukunft, die vor allem unbestimmt ist. Der Modular-Synthesizer ist Baustein für ein künstliches Paradies, Höhlenbegleiter. Rückzug bedeutet nicht Eintritt in das platonische Gefängnis, vielmehr in den Schutzraum für unendliches Experimentieren.

Diese Rolle des Ästhetischen darf Dignität beanspruchen. Im Falle der Instagram-Videowelt drängt sich allerdings ein Verdacht auf, der durch das Zitat aus der Szene bestätigt wird. Die sprachlose Hand fungiert nicht nur als Maschinenlenker, sie ist das Medium des Zeigens. ›Sieh, was ich habe‹, scheint sie sagen zu wollen. Die Präsentationsform signalisiert Stolz über den Besitz, der Bewunderung bewirken soll. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass den Geräten etwas Möbelhaftes innewohnt. Zwischen Kiste und Kasten angesiedelt und in ›Cases‹ verbaut, gerieren sich die Instrumente als Prunkstücke. Was einst die neue Küche oder die Schrankwand war, mit denen Wohlstand und Zufriedenheit zum Ausdruck gebracht wurden, hat die Metamorphose zum zeitgemäßen Modular-System durchlebt. Die Aura des Kleinbürgerlichen umweht die Präsentationen. Der Instagram-Nutzer »hymyllyr« illustriert diesen ungewöhnlichen »Accord of Cultures« nicht nur mit der passenden Fotografie, auf der sonnendurchflutete Blüten von Fensterbankpflanzen, Avocadokern und ungeputzte Fensterscheiben den atmosphärischen Hintergrund für den Synthesizer bilden. In einem mit Emojis geschmückten Kurzkommentar kündigt er an, seine Musik in dieser Heimeligkeitsumgebung zur Aufführung zu bringen: »The case, the plants, the sun and the avocado stone in glass, everything in order 🌿🌱🍃🌞. Been working on some more generative ambient music and plans are to showcase them on here – looking very much forward to showing it.«

Alles ist in Ordnung.

Der nicht abbrechende Strom der Postings aus der Amateurwelt der Synthpatcher lädt nicht zu künstlerischer Bewertung ein, denn zu kurz und kurzlebig sind die Darbietungen. Die sich wiederholende Demonstration der Handlungsbefähigung in Bezug auf eine etablierte Avantgarde-Technologie ruft ein Wort Peter Sloterdijks auf, mit dem das Verdichtungsphänomen aufgehobener historischer Zeit beschrieben wird. Sloterdijk erkennt für die Moderne eine »akkumulierende Ermächtigungsdynamik; […] was sie auszeichnet, ist die Vermassung der vormaligen Avantgardequalitäten und die Übersetzung von einst pathetischer Kreativität in alltägliche Manipulationen von Materialien und Zeichen durch die Angehörigen einer weltumspannenden Design-Zivilisation.« Ob damit lediglich simulierte oder authentisch erlebte Souveränität vorliegt, bleibt allerdings eine offene Frage.

 

 

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