Lass es knistern, Pferdemädchen!
von Moritz Baßler / Heinz Drügh
4.1.2025

Mythischer Postpop und der Ernst der Dinge

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 70-75]

Nicht nur hat Christian Kracht mit der Mutter in »Eurotrash« seine erste ausdefinierte weibliche Romanfigur geschaffen, in »Unsere anarchistischen Herzen« hat Lisa Krusche nun etwas getan, was wir schon lange nicht mehr hatten, nämlich eine weibliche Figur mit echtem Mythenpotenzial in den literarischen Gegenwartsraum katapultiert. Mit einer Anmutung zwischen Arya Stark und »motherfucking Pippi Langstrumpf« reitet Charles auf ihrem Pony Gerd mit Hund, Stofftier-Oktopus und Bananenpalme durch das Umland von Hildesheim, mit gehörigem »Pferdemädchen-Swagger«, umgeben von einer Aura aus Selbständigkeit, Care und Coolness, die ansteckend wirkt. So und nicht anders muss Donna Haraway sich das »making kin« vorgestellt haben, und dem kann sich dann auch die zweite Hauptfigur nicht entziehen, die wohlstandsverwahrloste Gwen, die auf Verletzung mit Gewalt reagiert, ihre Tinder-Bekanntschaften nach dem Sex beklaut, sich mit Hilfe der erfundenen Prügel-App Rumblr austobt und säuft wie weiland Herrndorfs Tschick. »Ich schreibe Charles, ob das aufhört eines Tages, dass sich das Verhältnis zu den Eltern anfühlt wie ein Riss, eine Schürfwunde, die juckt, aber nicht heilt. / ich bin eher ein pflaster auf den schürfwunden meiner eltern, schreibt charles, und die wunde suppt«. Gwens Satz könnte aus jedem beliebigen Problem-Familien-Diskriminations-Text stammen, Charles’ Antwort ist radikal neu.

Sie kommt ausgerechnet von einem, nun ja, Pferdemädchen. Weiblicher ›horse craze‹ wird im Gegenwartsroman eigentlich lieber zur Kennzeichnung biodeutscher »Annikas« eingesetzt. »Pferdemädchen« wohnen als »Bonzenkinder« in »Blankenese« (wie in Hengameh Yaghoobifarahs »Ministerium der Träume«) und lernen bei ihren »Voltigierstunden« freihändig auf dem Pferd zu stehen (wie in Deniz Ohdes »Streulicht«). Als popfeministisches Ermächtigungsnarrativ ist das sicher nicht gemeint; anders als bei Brianna Noble, die auf einem Pferd mit »Black Lives Matter«-Schild auf dem Hinterteil in Oklahoma zu einer Ikone des Protests gegen Polizeigewalt nach dem Mord an George Floyd wurde. »Dapper Dan« hieß dieses Pferd, vielleicht weniger nach dem gleichnamigen amerikanischen Rennpferd aus den Sechzigern oder der von den Coen-Brothers für »O Brother, Where Art Thou« erfundenen Haarpomade als nach dem aus Harlem stammenden Modedesigner. In Deutschland gab es immerhin The toten Crackhuren im Kofferraum: »Ich und mein Pony / sein Name ist Johnny«. (Preisrätsel: Ich und mein Pferd / sein Name ist…)

Wir können auch anders, heißt das – und Charles’ eigentümliche Kombination aus heiterer Offenheit, aggressiver Kompromisslosigkeit und radikaler Zuwendung ist definitiv anders als alles, was weibliche Ich-Figuren der deutschen Literatur in den letzten Jahren so anzubieten hatten. Wie souverän sie, bei aller Belastung, von Kind bis Greis mit allen interagiert, etwa mit dem Obdachlosen Gordon, dessen Hund sich ihr anschließt, wie wenig sie sich an Äußerlichkeiten stößt und die Dinge lieber dort anpackt, wo was geht (»Ihr Linken dürft nicht immer so sensibel sein«, ruft sie, als sich jemand an ihrer Verwendung von »motherfucking« stört. »Kein Wunder sonst, wenn die Rechten ans Ruder kommen.«)!

Die Eltern dagegen streiten angestrengt: »Es geht um Kunst oder die Zukunft und den Glauben an sich und das Universum. / Ich puste gegen die Blätter der Palme. Es ist nice und swaggy, wie die Blätter dann kurz wehen.« Ein Hauch von Miami und Malibu flext hier durch den Text, und in der Tat kommt Charles nicht als Zentrum einer realistischen Emanzipationserzählung dahergeritten; vielmehr ist alles, wie bei Leif Randt oder dem Krusche nahestehenden Joshua Groß, minimal ins Fantastisch-Utopische verschoben. Dadurch erst können ihm mythische Qualität und eine neue Ernsthaftigkeit zuwachsen, die jedoch – so das Versprechen dieser Prosa – eine leichte sein wird. Wenn gegen Ende »In Watermelon Sugar« von Richard Brautigan mit dem »Dedicated to touching«-Impuls von Harry Styles aufgerufen wird, ist die Fallhöhe des Entwurfs bezeichnet.

»Wir sitzen mit offenen Mündern im Kiosk und lassen es knistern« (mit dem entsprechenden Kaugummi), lautet die erzählerische Losung. Doch die Bubblegum-Süße, auf die Charles und Gwen abonniert sind, bezeichnet keineswegs mehr bloß girliehafte Cuteness, sondern eine Art politischer Zärtlichkeit: »Du bist aus Zucker, du bist zart / Du schmilzt dahin, du wirst nicht hart« (Tocotronic) – das ist es, was mit den beiden Mädchen passiert. Und so begründen sie in Hildesheim den »monte verità der metamoderne«. Natürlich ohne die »Toastbrottypen«, die am dortigen Kulturcampus Schreiben unterrichten; dafür mit jeder Menge Reminiszenzen an weibliche Künstlerinnen wie die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven (die als eigentliche Urheberin des Duchamp zugeschriebenen Urinal-objet trouvé gilt) oder die Surrealistin Leonora Carrington. Ist auf deren Gemälde »Die Riesin« wirklich »im Hintergrund ein Oktopus zu sehen«, fragen sich Charles und Gwen in ihren – ja – Kunstgesprächen.

»Was quält ihr mich ununterbrochen mit diesen talentlosen Kulturschwänzen«, schimpft – ebenfalls am Hildesheimer Schreibinstitut – die queere Jungautorin Pedro in Jakob Noltes »Kurzes Buch über Tobias«, »während sie die gerade ausgeteilte Kopie einer Prosaminiatur irgendeines Uwe, Jens oder Holger zerknüllte«. Gemeinsam mit ihrem Kommilitonen Tobias spottet sie über allfälligen Midcult: »Vor allem Romane, in denen anhand der verschiedenen Generationen einer Familie sinnbildlich die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt« wird. Gähn. Noltes Romane dagegen müssten auch Haraway (»Ich will nicht-euklidisch gekräuselte Geschichten, gespickt mit Tentakeln für waghalsiges Durcheinander«) gefallen. Erzählstrukturell wirken sie, als ginge es immer gleichzeitig um jene Liste 48 offener Browserfenster, mit denen der Text programmatisch aufmacht. Nagetierpunkte gibt es auch: Die Tischtennispartnerin wird in einen Hasen verwandelt (»Yes.«, um es mit der vollständigen Fußnote zu W.G. Sebalds Essay über die »auffallend zentrale […] Gestalt des Hasen im Werk [Ernst] Herbecks« aus Clemens Setzʼ »Die Bienen und das Unsichtbare« zu sagen). Besuche des Helden an Grabmälern sozialistischer Diktatoren führen zum religiösen Bekehrungserlebnis, Tod- und Wiederauferstehung ebenso inklusive wie die Nacherzählung der Glockengießer-Episode aus Tarkowskis »Andrej Rubljow«. Zeitweilig wird Tobias gar zum Teleevangelisten: »Über das Gleichnis, in dem Jesus einen Feigenbaum dafür verflucht, dass er keine Früchte trägt, redete er innerhalb eines Monats 232 Stunden«.

In Postpop oder Metamoderne (oder wie man es sonst nennen will) kehrt das Bedürfnis nach Früchten – Ernst, Sincerity und die Frage nach Substanzen, auf denen sich aufbauen lässt – in weirden Formen zurück. Das Motto für Krusches Geschichte jener beiden »Zarten und Komplexen« stammt von Leslie Jamison: »… und ich will, dass unsere Herzen offen sind. Da steht es jetzt. Ich will, dass unsere Herzen offen sind.« Da braust freilich nichts werthermäßig »aus sich selbst«. Während Goethes Held sein »Herzchen wie ein krankes Kind« hält, kommt Krusches Variante von Innerlich- und Innigkeit als Mix aus Vaporwave und Splatter daher – und bleibt angenehmerweise im Konjunktiv: »Wenn ich mein Herz herausnehmen könnte, […] würde ich es in rosa Schleim legen, es würde knackend darin verschwinden«. In einer alten Sammlung im Keller des Hauses finden sich noch die drei Herzen eines Oktopus, eingelegt in Formalin, und Charles eignet sie sich an.

Man mag einwenden, dass Charles und Gwen als Adoleszentinnen noch nicht die Selbstständigkeit der erwachseneren Figuren von Randt, Groß oder Guse mitbringen und sich ein letzter diskursiver Ernst nicht einstellen könne. Aber ob das in Zeiten, die sich von einem schwedischen Teenager ein »How dare you!« vorhalten lassen müssen, noch gilt? (Gerade mal ein Flusstal und 25 km weiter ist übrigens auch eine gewisse Annalena Baerbock auf einem von Alternativen ausgebauten Resthof aufgewachsen.)

Wenn Mithu Sanyal ihren Roman »Identitti« im avancierteren Düsseldorfer Unimilieu ansiedelt, dann erlaubt ihr das immerhin, die Theorie, die bei Krusches Teens eher implizit bleibt, selbst zum Gegenstand zu machen. Der Roman endet mit einer längeren Bibliografie, die an die fiktive Figur der charismatischen Postkolonialismus-Professorin Saraswati angekoppelt ist (»›Wie soll ich mich Indien nahe fühlen, wenn ich…‹ / ›Na wie wohl? So wie du dich allen anderen Dingen auch annäherst: Besorg dir ein Buch!‹«). Dass so etwas Pop oder, wie es in einer Kapitelüberschrift bei Sanyal heißt, »Poppostkolonialismus« sein kann, wissen wir seit Meineckes »Tomboy«. »Identitti« bietet eine erstaunliche Mischung aus Homestory, Medienpastiche, Diskurs- und Problemroman an. »Das erste Buch mit einem Mixed-race-Ich-Erzähler war ›Der Buddha aus der Vorstadt‹ von Hanif Kureishi. Das war 1990! Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Neunzehnhundertneunzig! […] Und davor gab es uns komplett nur als Ausrutscher, als Unfall, als menschlicher Makel« – schreibt die Hauptfigur Nivedita in ihrem Blog. Gibt sich die Hauptfigur in Philip Roths »The Human Stain«, ein hellhäutiger afroamerikanischer Universitätsprofessor, als weißer Jude aus, so erweist sich die vermeintlich indischstämmige Saraswati als Biodeutsche. »Was ich tue, ist … racial drag«, meint die Professorin dazu, und so kommt die komplexe Verhandlung von Identitäten mit einer Diskurs-Leichtigkeit daher, die dann doch eher an KiWi- als an Suhrkamp-Pop erinnert, ohne dass darüber der Ernst verlorenginge; dafür sorgt schon der Fluchtpunkt der Morde von Hanau.

Umso verblüffender, dass auch hier das Mythische am Ende gewaltig durchbricht – in der Figur der vielarmigen, männermordenden, blauhäutigen indischen Göttin Kali. Erschien sie zunächst nur als innere und mediale Stimme der Hauptfigur Nivedita, so manifestiert sie sich zunehmend und führt am Ende unter Donner und Blitz einen Exorzismus auf dem Stoffeler Friedhof in Düsseldorf-Oberbilk aus. Und wer muss exorziert werden? Einmal mehr der Geist der wohlmeinenden, alternativen, antikapitalistischen, weltoffenen Elterngeneration, deren hilfloser guter Wille die Nachfolgegeneration ratlos lässt, gerade weil die Werte ja im Grunde nach wie vor gelten. Und auch hier steht am Schluss, Judith-Butler-gestützt, ein Plädoyer für Offenheit, Verletzlichkeit und eine Liebe, die Kin macht und nicht Babys: »let love flow like a river«.

 

Literatur

Brautigan, Richard: In Watermelon Sugar. San Francisco 1968.

Haraway, Donna: Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene. Donna Haraway in conversation with Martha Kenney. In: Heather Davis/Etienne Turpin (Hg.): Art in the Anthropocene. Encounters Among Aesthetics, Politics, Environments and Epistemologies. London 2015, S. 255-270.

Haraway, Donna: Staying With the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham 2016.

Kracht, Christian: Eurotrash. Köln 2021.

Krusche, Lisa: Unsere anarchistischen Herzen. Frankfurt am Main 2021.

Nolte, Jakob: Kurzes Buch über Tobias. Berlin 2021.

Ohde, Deniz: Streulicht. Berlin 2020.

Sanyal, Mithu: Identitti. München 2021.

Setz, Clemens: Die Bienen und das Unsichtbare. Berlin 2020.

Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume. Berlin 2021.

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