»Is It Really So Strange?«
von Richard Hebdige
23.11.2024

Verschiedene Aneignungen: Morrissey und der Blues

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 116-125]

Anfangen möchte ich mit einem Geständnis, aber in echter Morrissey-Manier ist es weniger ein Geständnis als eine Aufforderung, die Dinge anders zu betrachten – eine Weigerung, den Erwartungen anderer zu entsprechen und etwas Naheliegendes oder Nettes zu sagen. Denn das ist, glaube ich, einer der Schlüssel zu Morrisseys Einzigartigkeit, zu seinem außergewöhnlichen Erfolg in den Achtzigern und seiner bis heute anhaltenden Anziehungskraft insbesondere auf immer neue Generationen junger Leute.

Was Morrissey einzigartig macht – und einzigartig reizvoll –, ist sein perverser Drang, sich selbst treu zu bleiben; er verweigert sich allen Kompromissen und ist entschlossen, die Welt und alles in ihr, besonders aber sich selbst, zu geißeln, falls und sobald er (Morrissey) und sie (die Welt) nicht seinen unerreichbaren untadeligen Standards gerecht werden – was nichts anderes heißt als: immer. Eines der Geheimnisse von Morrisseys Charme liegt darin, etwas, das oberflächlich nach einem Geständnis klingt, in eine Waffe zu verwandeln, in ein passives, aggressives Stilett, das man in selbstgefälliges und unreflektiertes ›Denken‹ hineinstoßen kann.

Hier mein Geständnis: Ich mag Morrissey nicht. Als mich das MultiCultural Center der Universität Santa Barbara zu einer Veranstaltung im Februar 2006 mit dem Titel »This Charming Man: Morrissey and Latino L.A.« einlud, konnte ich mir überhaupt nicht erklären, wie sie auf mich gekommen waren. Was dachten die sich nur? Natürlich habe ich zu jugendlichen Subkulturen geforscht, aber welche Verbindung sollte zwischen Morrisseys melancholischem Geträllere sowie den Leuten, die sich das anhörten und weiterhin anhören, und meiner Arbeit bestehen? Auch wusste ich nichts über das unmittelbare Thema – den Morrissey-Kult, der sich unter der südkalifornischen Latino-Jugend gebildet hat. Ich wusste lediglich, dass ich weder Morrissey noch seine Musik besonders mochte. Obwohl ich in den Achtzigern in England lebte, mich leidenschaftlich mit Popmusik sowie dem Stil von Hooligans beschäftigte und das ganze Jahrzehnt immer wieder über Subkultur schrieb, interessierte mich damals weder Morrisseys Musik noch der Indie-Kult, der sich um den Frontmann von The Smiths bildete – ganz anders etwa als William E. Jones, dessen Film »Is It Really So Strange« über Morrisseys Latino-Fangemeinde und die Latino-Band The Sweet and Tender Hooligans, die Morrisseys Stücke covert, bereits 2004 herausgekommen ist.

Warum, bitte, sollte jemand wie ich Morrissey auch mögen? Was sollte mich an dem Kerl faszinieren? Denn was habe ich mit einem weißen Selfmade-Dandy aus der Arbeiterklasse gemein, der von Wörtern, Ästhetik und Schlägertypen besessen ist, von Genet, Oscar Wilde, britischen Gangstern und einer in Männergesellschaften vorkommenden Gewalt? Der so besessen von Popmusik ist, dass diese Besessenheit schließlich sein gesamtes Auftreten bestimmte, und der 1991 in einem Interview erklärte, dass »jenseits der Grenzen der Popmusik am Rande der Welt nur ein Abgrund wartet«?

Was, bitte, hatte ich je mit einem Mann gemein, der in seinem Frühwerk ›Englishness‹ und männlichen Narzissmus zugleich feierte und – stilistisch – kritisch dekonstruierte? Dessen künstlerische Anfänge mit der Alltagskultur der postindustriellen englischen Ödnis verbunden wurden, der sich aber in den 1990er-Jahren neu erfand, indem er ins sonnige Südkalifornien auswanderte?

Doch plötzlich dachte ich: Moment mal – das klingt alles seltsam vertraut. Mein Buch »Subculture: The Meaning of Style« aus dem Jahr 1979 beginnt ja selbst mit einer Hommage an Genet – einem ritualisierten und romantisierten Bild des Verbrechens und der Verbrecher aus Genets »Tagebuch eines Diebes«, um anschließend eine dandyistisch gefärbte Musik- und Stilgeschichte zu erzählen, die von in Frage gestelltem Geschlecht, Narzissmus und der Sabotage des britischen Klassensystems handelt. Dies alles ist selbstverständlich eng verwandt mit Morrisseys wichtigsten Themen, die nicht nur sein Werk prägen, sondern auch die Figur, die er in mehr als zwanzig Jahre mit wütender Überzeugung aus sich – und für sich – geformt hat, in seinen Aufnahmen und seinen Auftritten (mit sehr viel größerer Wirkung als sie mein Buch hatte).

Mit anderen Worten: Es gibt ganz sicher einige starke thematische Parallelen zwischen Morrisseys Obsessionen und dem, worauf meine Arbeit und mein Ruf gründen; außerdem gibt es auch einige wichtige biografische Parallelen (davon gleich mehr). Natürlich bin ich nicht so verblendet, mich für eine Berühmtheit zu halten, wie er eine ist. Keinesfalls halte ich mich für Morrissey oder ein Morrissey-Double. Das überlasse ich lieber Jose Maldonado von The Sweet and Tender Hooligans, denn er ist ein sehr viel besseres Double, als ich je sein könnte. Allerdings glaube ich, dass Morrissey und ich einiges teilen: Zum Beispiel eine Abneigung gegen das Derbe und Eindeutige, einen gewissen klassenbedingten Groll – man könnte sogar von Wut sprechen – sowie eine Identifikation mit den Underdogs, mit den ausgeschlossenen, unbeholfenen Individuen, die sich zumeist nicht mit breit lächelnder Visage bei einem Familien- oder Gruppenfoto in den Vordergrund drängen. Okay, ich weiß, dass ich heute nicht mehr zur Unterschicht gehöre, aber dennoch erinnere ich mich sehr gut: Ich erinnere mich, wo ich herkomme, und ich erinnere mich an all das auf meinem Weg Gelernte, sowohl in Schule und Universität als auch jenseits davon.

Und es gibt noch etwas, das ich mit Morrissey teile: das Bemühen, Distanz zu wahren, Festlegungen zu vermeiden, die Leute so lange wie möglich im Ungewissen zu lassen. Ich denke, dass wir beide eine Abneigung gegen die Dummheit des Mainstream und gegen rücksichtslose Heuchelei haben. Wir teilen eine Abneigung gegen die Sprache des ›Coming-out‹, eine Abneigung, damit ›herauskommen‹ zu sollen, wer oder was wir sind – ich halte das für eine Privatsache, aber vor allem ist es kompliziert, und es gibt keine eindeutige Antwort. Polizisten fragen einen so etwas, wenn sie einen anhalten, darum gerate ich bei der Frage sofort in eine Verteidigungshaltung: Wer will das wissen, und wie viel Zeit habe ich für meine Antwort? Wie Morrissey bin ich entschlossen, auch in der Öffentlichkeit eine Privatperson zu bleiben, selbst wenn ich mich öffentlich hinstelle und freimütig auch von mir rede.

Fühle ich mich Morrissey also verbunden? Erst an einem Winterwochenende habe ich mir Zeit genommen und endlich Jones’ Dokumentarfilm »Is It Really So Strange?« angesehen. Am Wochenende darauf habe ich das Buch von Mark Simpson gelesen, »Saint Morrissey: A Portrait of this Charming Man by an Alarming Fan«. Kurz danach habe ich schließlich kapituliert und mir zwei Morrissey-CDs gekauft: »Morrissey’s Greatest Hits« und »You’re the Quarry«. Ich muss sagen, dass es für mich wie eine Offenbarung und wie ein Schock (zweifellos einer der Erkenntnis) war. All das bewirkte bei mir eine Wende um 180 Grad. Ich fand den Film interessant (›charmant‹ wäre vielleicht ein passenderer Begriff), ich mochte die Musik, und ich war begeistert von dem Buch.

Wer würde nicht einen Kerl bewundern, dessen Weltbild derart kompromisslos von einem tragischen Bild menschlicher Leidenschaften und menschlicher Beziehungen im Allgemeinen geprägt ist, dass er in einem Interview einmal sagte, gefragt, wann er am glücklichsten gewesen sei: »Am 21. Mai 1959«? (Manche von Ihnen werden wissen, dass er am 22. Mai 1959 geboren wurde.) Und wie kann man einen Kerl nicht mögen, der an das Ende des Songs »I Like You« die Zeilen setzt: »I like you, I like you, I like you / Because you’re not right in the head / And nor am I?«

Deshalb möchte ich jetzt die Frage umdrehen: Wieso habe ich es trotz aller Parallelen so lange geschafft, Morrissey nicht zu hören? Ich sollte wohl hinzufügen – auch wenn das mittlerweile klar geworden sein dürfte –, dass das alles andere als zufällig geschah. Ich habe ihn aktiv und bewusst gemieden. Ich habe ihn geradezu fanatisch gemieden. Ja, ich habe ihn gemieden wie die Pest.

Vermutlich war der wichtigste Grund, warum ich mich derart entschieden von Morrissey fernhielt, dass er mich an mein eigenes Zuhause erinnerte – seine Herkunft und seine Reaktion darauf waren meiner zu ähnlich. Wie er wollte auch ich die Heimat so schnell und so weit hinter mir lassen wie möglich, und wie er wollte ich – ignoranter Proto-Solipsist, der ich war – mich selbst erfinden, nach meinen eigenen Regeln, nicht denen irgendeines anderen. Mit anderen Worten: Morrissey unterschied sich einfach nicht genug von mir, was seine Wurzeln betraf, seinen Hintergrund und die Kultur, aus der er stammte – und darum war er ungeeignet als Anlaufstation auf der Odyssee, von der mein eigensinniges Ich träumte, zum Aufbruch fest entschlossen. Er war nicht interessant oder exotisch genug, außerdem war er acht Jahre jünger, zu einer Zeit, als Altersunterschiede noch etwas zu bedeuten schienen. Darum dachte ich: Was kann er wissen, das ich nicht weiß? Wir mochten uns beide als Außenseiter fühlen, aber von mir aus gesehen war er nicht Außenseiter genug, um anziehend auf mich zu wirken oder jemanden darzustellen, zu dem ich aufschaute. Auch hielt ich ihn für zu weich und zu kitschig. Wenn ich mir schon von Jugendlichen etwas hätte abschauen wollen, dann wäre Johnny Rottens bedrohlich giftige Garstigkeit lehrreicher gewesen. Seine kratzbürstige aggressive Verletzlichkeit schien mir hilfreicher dabei, meine feminine Seite zu tarnen, als Morrisseys aufrichtige und schmerzvolle Hysterie.

Hier kurz einige biografische Parallelen, was auch immer diese aussagen mögen. Wie Morrissey wurde ich in den Fünfzigern geboren, wenn auch an deren anderem Ende: Er 1959, ich 1951. Wie er stamme ich aus der englischen Arbeiterklasse. Obwohl ich nicht irisch bin – und obwohl dies möglicherweise die Definition von ›Immigration‹ zu sehr ausdehnt –, bin ich doch irgendwie ein Immigrant der zweiten Generation: Als kleiner Junge zog mein Vater während der Großen Depression mit seinem Vater von den Kohlegruben Doncasters im Norden Englands nach London, auf der Suche nach Arbeit. Wie Morrissey liebte ich es zu lesen, ging aber nicht gerne zur Schule. (Obwohl ich es viel länger im Bildungssystem aushielt als er. In Australien machte mir einmal jemand ein Kompliment, als er mich vor einem Gespräch mit den Worten vorstellte: »Er bewegt sich zwar im Bildungssystem, ist aber kein Teil davon.«)

Einiges spricht dafür, dass ich im Südlondoner Gegenstück zu dem Ort geboren wurde, den Morrissey einmal als seinen Geburtsort angab: »Manchesters Zentralbücherei – Krimiabteilung.« Wie Morrisseys Schaffen gründet meines auf dem Versuch, lyrisch und musikalisch über Hooligans zu schreiben – wobei er natürlich auch viele Songs mit anderen Themen geschrieben hat, darunter großartige Songs, in denen die Stimme so klingt, als wäre der Sänger zugleich hellwach und im Tiefschlaf, im Vollbesitz seiner Kräfte und stünde doch neben sich; als streifte er umher, verloren und ausgesetzt im labyrinthischen Bergwerk des Verlangens.

Soweit die Gemeinsamkeiten – wo aber liegen die Unterschiede zu Morrissey? Was hörte ich zum Beispiel, als ich 13 oder 14 Jahre alt war, in einem Alter also, als der junge Morrissey sich in Manchester auf David-Bowie-Konzerte stahl – ich, der ich acht Jahre älter und in London aufgewachsen war? Nun, in jenem Alter hörte ich Blues. 1964 und 1965 waren die wichtigsten Jahre der frühen britischen Blues-Explosion, deren Mittelpunkt London war. Bands wie die Rolling Stones, die Pretty Things, die Yardbirds und, aus Newcastle ›hoch im Norden‹, die Animals erreichten damals ein Massenpublikum.

All diese Bands – ebenso wie die ihnen unmittelbar vorangehenden Blues-Gruppen (Alexis Korners Blues Incorporated, Long John Baldry, Graham Bond, The Steam Packet) und die gleichzeitig oder wenig später auftauchenden (John Mayalls Bluesbreakers, Chicken Shack, Savoy Brown, Peter Greens Fleetwood Mac) – waren inspiriert von der ländlichen Blues- und Roots-Musik schwarzer Musiker vom Mississippi und aus dem weiteren amerikanischen Süden, die sie kopierten und deren Stücke sie coverten: Leute wie Howlin’ Wolf, Muddy Waters, Slim Harpo und John Lee Hooker, die alle in den Fünfzigern nordwärts nach Chicago gezogen waren und dort einen urbanen, elektrischen Stil entwickelt hatten. Das meiste von diesem Zeug – sei es der ländliche akustische Blues oder der städtische elektrische – wurde weder in Großbritannien noch in den USA von den Mainstream-Radiostationen gespielt.

In den USA wurde diese Musik unter »Race Music« zusammengefasst, und die schwarzen Bluesmusiker erhielten kaum kulturelle Anerkennung – wegen des unheilvollen Erbes der Sklaverei, wegen der im Süden immer noch geltenden Jim-Crow-Gesetze und wegen des institutionalisierten Rassismus, der auch heute noch dazu führt, dass Latino-Männer zum Beispiel Laubbläser in der Hand halten und Latino-Frauen Putzlappen, weiße Männer und Frauen aber die meisten Plätze hinter Schreibtischen sowie vor Kameras und Mikrofonen einnehmen.

Natürlich war auch das offizielle Selbstbild des Vereinigten Königreichs in den 1960er-Jahren noch hauptsächlich, wenn nicht gar ausschließlich weiß geprägt (auch wenn das Bild durch die seit den 1950er-Jahren erfolgende Massenimmigration aus den vormaligen karibischen, afrikanischen und asiatischen Kolonien zunehmend nicht der demografischen Lage entsprach). Das Land war unter der rein weißen Oberfläche der Swinging Sixties ohne Zweifel tief fremdenfeindlich, wenn nicht sogar ausgesprochen rassistisch. Aber dennoch – oder vielleicht gerade wegen der Kombination von schnellem, sozialem Wandel und der beständigen englischen Neigung, starke Gefühle nicht unmittelbar in der eigenen Sprache auszudrücken – wurde der schwarze amerikanische Blues zu einem mächtigen Ventil für das, was in uns, die wir in den Fünfzigern im postimperialen, heruntergekommenen Großbritannien der Zeit nach den Luftangriffen aufwuchsen, wie ein über Jahrhunderte aufgestautes, verzehrendes Gefühl brannte. Der Blues wurde zu unserer Sprache, mit der wir gegen den teigigen Panzer der englischen Repression – die berühmte ›stiff upper lip‹ (so steif wie beharrlich) – angehen sowie erstmals ausloten und ausprobieren konnten, welche Lebensweisen es sonst noch gab (für einen Angelsachsen).

Ende der Fünfziger begannen amerikanische Bluesaufnahmen im Untergrund der britischen Folkmusik zu zirkulieren. Sie wurden schließlich zu einem der Ursprünge der frühen Mod-Klubszene in London und den anderen großen Ballungsräumen, neben den importierten Soulplatten von Tamla und Stax und den aus Jamaika importierten Ska-, Bluebeat- und Rocksteadyplatten. Wenn afroamerikanische Blues- und Soulbands oder schwarze jamaikanische Skagruppen nach London kamen, spielten sie vor einem großen, hauptsächlich weißen Mod-Publikum, das sie feierte und zu dem ich mich sobald wie möglich gesellte.

Mit vierzehn sang ich sogar selbst in einer R&B-Band, mit drei Freunden aus einem örtlichen Jugendklub, obwohl ›singen‹ wohl nur sehr vage bezeichnet, was ich am Mikrofon machte. Die Band hieß übrigens Cacophony, was soviel heißt wie ›Missklang‹ – selbstverständlich hatte ich den Namen vorgeschlagen. Ich mag zwar ein lausiger Sänger gewesen sein, aber ich habe immer die richtigen Worte gefunden, und ›Missklang‹ war hundertprozentig passend für den Lärm, den wir trotz all unserer Mühe produzierten, in dem Versuch, die schönen beseelten Songs klassischer Bluesmusiker wie Bobby ›Blue‹ Bland und Jimmy Reed oder das raue Proto-Punk-Geschrei der frühen Rolling Stones nachzuspielen.

Ich erinnere mich an einen Abend im Frühsommer 1965, als wir bei einer Tanzveranstaltung der Pfadfinderinnen den berühmten Blues-Klassiker »Stormy Monday Blues« meuchelten. Der Song handelt von einem Typen, der dazu verdammt ist, in Detroit oder Cleveland oder wo auch immer am Fließband zu arbeiten. Hier der Text: »They call it stormy Monday but Tuesday’s just as bad / Wednesdays no no good and Thursdays so so sad / The eagle flies on Friday that’s when I get my pay / Saturday I go out and on Sunday I kneel down and I pray // I say Lord, Lord have mercy, Lord have mercy on me / I say Lord, Lord please have mercy, my heart’s in misery / Crazy bout my baby, yes, please send her back to me.« Ich war damals, mit 14, noch nicht einmal im Stimmbruch. Meine Eltern hingegen arbeiteten in dem Alter bereits Vollzeit, fünfeinhalb Tage die Woche in einer Fabrik – sie hätten den Text des Lieds gut verstehen können. 1937, nur wenig älter, lernten sie sich in einer Möbelfabrik in Südlondon kennen.

Was ich hier so umständlich zu sagen versuche: Ja, der Blues, die Musik des Mississippi-Deltas, war dem Milieu, in dem ich aufwuchs, unendlich fern; er war exotisch, genau weil er uns kulturell so fremd war. Ich und eine Menge mir ähnlicher Leute nutzten ihn, um die Distanz zu markieren, die wir zu unseren Wurzeln anstrebten. (Schließlich hörten meine Eltern keinen schwarzen Blues. Sie hörten Sinatra und Jim Reeves – eine blassere, eher auf den gesellschaftlichen Aufstieg gerichtete Version des amerikanischen Traums, auch wenn besonders Reeves, darin Morrissey ähnlich, scheiternde Liebe wie eine Form spiritueller Transzendenz klingen lassen konnte.) Aber zugleich lag das Mississippi-Delta (oder seine Musik) nicht so weit entfernt, was die Geografie unserer Vorstellungswelt, die Geografie des Herzens und der Libido betraf sowie, in gewissem Maße, auch unsere alltäglichen Lebenserfahrungen. Im Grunde lag es um die Ecke.

Auch wenn das respektlos klingen mag oder nach einem haarsträubend ahnungslosen Idioten, kann man in bestimmter Hinsicht und sehr grob die afroamerikanischen Erfahrungen auf die der britischen Arbeiterklasse übertragen. Vielleicht war das der Grund, warum Morrissey trotz seines blassen englischen Dandyismus irgendwann mit Action Records zusammenkam, dem großen Reggaelabel der Siebziger. Obwohl die Sklaverei und ihre Nachwirkungen ohne Zweifel unvergleichliche – und unvergleichlich brutale – Umstände darstellen, gibt es doch Ähnlichkeiten: Die massive Ausbeutung, Jahrhunderte des sozialen und kulturellen Ausschlusses von der Macht – de facto sogar Jahrhunderte der Segregation –, die Unterbringung in Slums, eine Historie eng begrenzter Lebensmöglichkeiten, eine nahezu fehlende Gesundheitsversorgung, eine nur sporadische Bildung und Jobs ohne Aufstiegschancen – kurz: das Gefühl, dass man von Geburt an keine Chance hatte. Demgegenüber standen eine einfallsreiche und teilweise unabhängige Kultur sowie eine Reihe von Überlebensformen und ‑strategien (was Pete Meadon, der einstige Manager von The Who einmal »sauber leben unter schwierigen Umständen« nannte). Das alles zusammen ergab ein Gemisch aus Resignation und zeitweiligem Widerstand, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde.

Anders aber als jede in England beheimatete Musik – anders auf jeden Fall als die traditionelle englische Folkmusik oder der Tin-Pan-Alley-Pop, der vor dem Zweiten Weltkrieg auf die weiße Arbeiterklasse abzielte – bot der Blues eine Sprache, um das unglaublich fest verankerte Erbe höflicher englischer Zurückhaltung zu durchbrechen. Diese Sprache führte über die ›gewagten‹ Anspielungen sowie die geduldete Bosheit der englischen Music-Hall-Tradition (»cheeky chappy«) hinaus zu einem verborgeneren, dunkleren Ort, wo das wilde Begehren eine Stimme und eine Form erhielt, ebenso wie die unterdrückte Wut und die unterdrückten Wünsche, die alle von der zivilisierten Ordnung – das heißt der barbarischen Klassengesellschaft – zensiert und tabuisiert worden waren. Paradoxerweise wurde der Blues – der Echoraum der Sklaverei – zu dem Ort, an dem eine Generation weißer, englischer Jugendlicher der Arbeiter- und unteren Mittelschicht den langen und langsamen Prozess der Dekolonialisierung ihres Selbst beginnen konnte: Die Jugendlichen rissen sich das kleine enge England aus den Körpern und beförderten es mit einem Tritt zur Seite.

Um nun auf den Titel von William E. Jones’ Film zurückzukommen: Ist es wirklich so seltsam, dass ein sensibler, ehrgeiziger Londoner Junge aus den unteren Schichten wie ich – und genauso viele andere englische Kids aus ähnlichen Verhältnissen – sich derart vehement auf den afroamerikanischen Blues einschoss, dass wir uns alle so sehr bemühten, ihn uns anzueignen und ihn für uns sprechen zu lassen? Ist es wirklich so seltsam, dass derselbe Junge als Erwachsener so viel Zeit und Energie investierte, um Bruder Morrissey aus dem Weg zu gehen? Und umgekehrt: Ist es wirklich so seltsam, dass junge Latinos und Latinas, die im (sub-)urbanen Südkalifornien aufwachsen, sich mit solch fanatischer Intensität auf Morrissey einschießen, ihn sich aneignen und für sich sprechen lassen? Was sonst sollten wir machen? Ruhig bleiben? An dem ›uns angemessenen‹ Ort bleiben, dem Ort, der uns bei der Geburt zugewiesen wurde, eingesperrt in den Häusern, in denen wir geboren wurden, und dort Mariachi- oder Nortena-Musik hören, beziehungsweise, in meinem Fall, mit einem lächerlichen Hut bei den traditionellen englischen Morris-Tänzen herumhüpfen – zur Feier unseres ›Erbes‹?

Es gibt eine Reihe von Dingen, durch die wir als Menschen beginnen, uns selbst zu formen, uns zu retten aus den zufälligen Umständen, in die wir hineingeboren werden, und schließlich über sie hinauszuwachsen: Dazu gehören Mimikry und Nachahmung ebenso wie unsere Anziehung durch das, was sich, während es jenseits unserer unmittelbaren Welt liegt, an unseren Körper richtet, an unser Leben und an jene größere bedeutungsträchtige Leere, die uns birgt und die das beschützt, was wir uns vorstellen und was wir begehren (einige mögen dies Seele nennen). Dieser Prozess neugieriger und inniger Mimesis – ›Fantum‹ ist ein anderes Wort dafür – ist einer der Wege, wie wir das Repertoire erneuern und erweitern, das uns unsere Eltern und die Kultur, in der wir aufgewachsen sind, vererbt haben. Man kann es ›Kulturtourismus‹, ›Appropriation‹ oder ›Diebstahl‹ nennen (alles Begriffe, mit denen britischer Ska und Blues bezeichnet worden sind). Man kann es ›unauthentisch‹ nennen. Wenn man auf authentische Weise ›retro‹ klingen will, kann man sogar von ›falschem Bewusstsein‹ sprechen. Doch alternativ dazu könnte man es auch ›Übersetzung‹ (absolut unumgänglich) nennen – als notwendige Transformation der Traditionen, an denen wir teilhaben (nicht zu vergessen, dass ›Tradition‹ wörtlich ›Übersetzung‹ bedeutet.)

Was schließlich könnte weltzugewandter oder kosmopolitischer sein (in der positiven Bedeutung beider Wörter), respektvoller und zugleich direkter, auf pathetischere Weise abgeleitet und zugleich absolut kreativ, als dass ein Haufen Latino-Jugendlicher, die zufällig im Osten L.A.s wohnen, eine Morrissey-Coverband gründet und diese The Sweet and Tender Hooligans nennt, oder, um in die Zeit und an den Ort meiner Herkunft zurückzukehren, dass ein paar weiße Jungs, die in London und Umgebung aufwachsen, eine Band gründen, die Coverversionen von Mississippi-Bluesstücken spielt, und diese The Rolling Stones nennen?

 

Übersetzung aus dem Englischen von Sven Scheer

 

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