›Sustainable Marketing‹: ein Oxymoron?
von Kai-Uwe Hellmann
20.8.2024

Ökologie und Werbung

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 16-20]

Niklas Luhmann hat sich 1997 in dem Aufsatz »Grenzwerte der ökologischen Politik. Eine Form von Risikomanagement« mit der Funktion von Grenzwerten beschäftigt. Demnach stellen Grenzwerte eine Symbolik des Wahrscheinlichen dar, und man kann diese Aussage sicher dahingehend zuspitzen: Oftmals wirken Grenzwerte sogar als Symbole des Bedrohlichen. Werden sie über- oder unterschritten, je nach Risikolage, ist Gefahr in Verzug und Handlungsbedarf kommt auf.

Dabei sind Grenzwerte gleichsam Konventionen. Ihre Setzung entbehrt nicht einer gewissen Willkürlichkeit, selbst wenn viele Fakten geradezu objektiv für sie sprechen mögen. Dennoch könnte man die meisten Grenzwerte ebenso gut ein wenig anheben wie absenken, je nach Bedarfs- oder Risikoeinschätzung, ohne signifikanten Funktionsverlust.

In diesem Sinne gleichen Grenzwerteffekte und das ihnen zugrundeliegende Regelwerk einem Thermostaten zur Temperaturregulierung: Intendiert ist ein Automatismus, der extern gesetzten Bedingungen genügt. Die (relative) Willkür besteht in erster Linie in der Festlegung des jeweiligen ›tipping point‹, dieser bleibt oft umstritten. Der Rest ist in der Regel Routine (und bleibt zugleich doch permanent optimierbar).

Bei aller Fragwürdigkeit von Grenzwerten liegt ihr eigentlicher Wert darin, dass sie nicht nur Handlungsbedarf auslösen, sondern mehr noch Handlungsermächtigung bewirken: Man weiß bei einem bestimmten Ereignis, es muss jetzt interveniert werden, und sogleich, was zu tun ist und mit welchem Ziel. Kurzum: Man muss etwas tun – und man kann etwas tun. Wird der Tagesmittelgrenzwert von 50 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft überschritten, ist dies nicht bloß eine Information, sondern ein abgezirkelter Handlungsauftrag setzt sich in Gang. Bei Untätigkeit begibt man sich in Rechtfertigungsnot. So sind die Spielregeln für den Systembestand.

Die politische Festlegung von Grenzwerten ist somit äußerst riskant, weil sich die verantwortlichen Entscheider dadurch einem selbstgesetzten Handlungskalkül unausweichlich selbst unterwerfen. Am jeweiligen Umgang mit den vereinbarten Grenzwerten kann jederzeit ermittelt werden, ob und wie man den eigenen Vorgaben folgt – oder auch nicht. Insofern spricht vieles dafür, sich auf dieses zweischneidige Mittel nicht leichtfertig einzulassen.

Fragt man vor diesem Hintergrund nach Grenzwerten einer nachhaltigen Politik, die aktuell ja hoch im Trend liegt, wird man (mit Überraschung) feststellen können: Es gibt kaum welche. Schaut man etwa in die Aktualisierung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung 2018, taucht das Wort nur einmal auf. Man könnte diese Zurückhaltung geradezu weise nennen: Wer sich nicht festlegt, kann sich auch nicht blamieren! Alles bleibt im Fluss, vage, unbestimmt, vieldeutig.

Und in der Tat empfiehlt sich eine solche Zurückhaltung umso mehr, je näher man hinschaut, was nachhaltige Politik letztlich zu stemmen hat. Denn (politisch intendierte) Nachhaltigkeit hat sich seit dem Brundtland-Bericht 1987 zum Hauptziel gesetzt, die Bedürfnisse der Gegenwart zu befriedigen, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Geht das überhaupt? Schnell mal in den Urlaub fliegen, ohne sagen zu können, ob das in fünf Generationen noch möglich ist? Was für ein Handlungskalkül lässt sich daraus konkret-rational ableiten? Insbesondere wenn es um Bedürfnisse künftiger Generationen geht, über die man so gut wie nichts weiß?

Konsequenterweise müsste die Devise daher lauten: (Sehr viel) weniger ist mehr. Oder wie Mathias Richling es in seiner Show am 9. Juli 2021 als Persiflage formulierte: »Wer weniger lebt, rettet mehr Umwelt.« Denn je weniger wir heute verbrauchen, desto mehr verbleibt für die uns Nachgeborenen. Und nimmt man die Sorge um künftige Generationen wirklich ernst, müsste sogar eingestanden werden: Da wir nichts darüber wissen, was künftige Generationen (bis zu welcher Potenz?) später wirklich benötigen und begehren, riskiert heute jede unterlassene Einschränkung, jeder kleinste Mehrverbrauch eine intergenerationelle Sünde. Anders formuliert: Wenn wir nicht anfangen, strikt vom existenziellen Minimum her zu denken, dann ist die Rede von einem um intergenerationale Fairness bemühten Risikobewusstsein, das die Sicherstellung der vollumfänglichen Befriedigbarkeit aller Bedürfnisse künftiger Generationen zum primären Handlungsmaßstab zu erheben vorgibt, pure Willkür, ja Heuchelei. Sämtliche Grenzwerte, die nicht von diesem existenziellen Minimum her konzipiert werden, mit Blick auf eine prinzipiell ungewisse Zukunft, sprechen gegenüber den zukünftig Betroffenen sonst Hohn. Deshalb auch gibt es wohl kaum Grenzwerte der nachhaltigen Politik. Zumal Ausgangs- wie Ziellage an Komplexität schlicht nicht zu überbieten sind.

Wendet man sich damit der seit bald zwanzig Jahren betriebenen Entwicklung eines ›Sustainable Marketing‹ zu, so sieht man sich einem besonders brisanten Dilemma gegenüber. Denn was ist der Zweck von Marketing? Fortlaufend den Absatz zu steigern. Die Teleologie des Marketing geht durchweg auf ein nachhaltiges (nicht-nachhaltiges) Mehr: Immer mehr Waren sollen immer mehr Bedürfnisse von immer mehr Menschen befriedigen. Zurückhaltung, gar Rücknahme ist nicht gerade Sache des Marketing. Wie verträgt sich das mit dem Gebot der Nachhaltigkeit? Letztlich gar nicht, wenn man es streng auslegt.

Würde man dem Ruf nach mehr Nachhaltigkeit nämlich konsequent folgen, würde das bedeuten: immer weniger Marketing betreiben zu müssen, am besten gar keins (mehr). Denn das bisherige Marketing verführt vom Prinzip her fortlaufend zu Mehrkauf und Mehrverbrauch, und beides ist gewiss nicht nachhaltig. Dies gilt selbst für das Marketing nachhaltiger Produkte. Denn was heute verbraucht wird, ist dem Konsum künftiger Generationen unwiederbringlich entzogen (›ex nihilo nihil fit‹). Wer sich somit keinem strikten Minimalismus unterwirft, selbst im Marketing, betreibt scheinheilige Nachhaltigkeitspolitik. Darum wird hier die Frage aufgeworfen: Ist ›Sustainable Marketing‹ nicht ein Oxymoron? Eine ›contradictio in adiecto‹? Es sieht fast so aus.

Doch gibt es nicht auch gute Gründe, das Marketing wenigstens für die Vermarktung nachhaltiger Produkte einzusetzen, um nicht-nachhaltige zunehmend unattraktiver zu machen? Ach nein, das hatten wir gerade. In Anlehnung an Nicholas Georgescu-Roegen möchte man fast von einem 2. Hauptsatz der Nachhaltigkeitsdynamik sprechen: Was weg ist, ist weg, ob (saubere) Luft, Öl, Sand, Wasser usw. Einmal verbraucht, steht es für spätere Verwendungen nicht mehr einfach zur Verfügung, höchstens durch hoch aufwendiges Recycling, deswegen wieder ungleich ressourcenverzehrender – und damit auf Kosten künftiger Generationen.

Allerdings kommt eine besondere Volte ins Spiel, wenn man überlegt, ob es nicht gelingen könnte, das Marketing gezielt dafür einzusetzen, immer mehr darauf hinzuwirken, immer weniger zu verbrauchen. Lässt sich die DNA des Marketing dergestalt vielleicht reprogrammieren? Gibt es die Möglichkeit, Marketing so einzusetzen, dass Kaufen und Verbrauchen stetig abnehmen, je mehr Marketing dafür aufgewendet wird? Paradox formuliert: (sehr viel) mehr wäre dann (sehr viel) weniger? Mit der Fokussierung auf ein existenzielles Minimum, zugunsten der vollumfänglichen Befriedigbarkeit aller Bedürfnisse aller künftigen Generationen? Das hat was von Utopie.

Allerdings braucht es an dieser Stelle auch eine gehörige Portion Utopie. Folgt man etwa der Interpretation von William Kilbourne, Pierre McDonagh und Andrea Prothero in ihrem Aufsatz »Sustainable Consumption and the Quality of Life: A Macromarketing Challenge to the Dominant Social Paradigm«, gleichfalls im Jahre 1997 veröffentlicht, leben wir seit Jahrzehnten in einer Gesellschaftsordnung, deren »Dominant Social Paradigm« uns systematisch dazu konditioniert, nicht-nachhaltig zu konsumieren (das deckt sich übrigens weitestgehend mit Ingolfur Blühdorns Topos der Nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit). Die Ideologie des Konsumismus erzieht uns dazu, in einem unaufhörlich gesteigerten Hedonismus, als Individuum wie Kollektiv, jene konsumistische Lebensqualität zu erwarten, auf die heutzutage primär alles zutreibt, auf die wir alle einen Anspruch, ja ein Anrecht erworben zu haben meinen, um hier mit Ralf Dahrendorf zu sprechen. Kein anderes soziales Paradigma besitzt eine vergleichbare Aura.

Und in der Tat sind die Verheißungen, die uns mittels Marketing seit Jahrzehnten vorgegaukelt werden, so abwechslungsreich, vielfältig, vielversprechend, dass kaum etwas anderes konkurrenzfähig erscheint, nur freudloser, mühseliger, vernünftiger, zweitrangig wirkt. Denn ist es nicht so: Nichts verspricht mehr Vergnügen als nicht-nachhaltiges Konsumieren – unverzüglich, sorgenfrei und befreit von jeder echten Verantwortbarkeit, sofern man nicht intrinsisch motiviert ist?

Wie schaut es demgegenüber mit den Verheißungen nachhaltigen Konsumierens aus? Gibt es überhaupt welche? Außer diesen abgedämmten, schalen, moralisch überladenen Versprechungen, mit weniger schlechtem Gewissen leben zu dürfen, je nachhaltiger man konsumiert? Liest man entsprechende Marketing- und Missionstexte dazu, dann besteht der Reiz primär darin, ethisch gut abzuschneiden. Spaß macht es selten. Und hemmungsloser Hedonismus stellt sich ohnehin kaum ein, davon ganz zu schweigen – außer man ist Asket und liebt die Kasteiung, dann dreht sich alles ins Gegenteil.

Eine Konklusion wäre demnach: Was dem sozialen Paradigma des nachhaltigen Konsums größtenteils noch fehlt, um endlich dominant zu werden, ist eine vergleichbare Hedonismusutopie. Bislang erschöpft sich die Qualität seiner Narrative oftmals darin, eine konsequent nachhaltige Lebensqualität viel zu moralisch, viel zu vernunftgetrieben anzupreisen. Das dürfte nur sehr wenige ansprechen. Und es regt sich überdies der Verdacht: Wer materialistisch ohnehin versorgt ist, engagiert sich postmaterialistisch umso mehr. Wemʼs gut geht, dem wird Nachhaltigkeit wichtig. Das aber ist keine Utopie für alle. Die Reichweite einer solchen Kampagne dürfte äußerst limitiert bleiben.

Angesichts dieser Zeitdiagnose drängt sich die Empfehlung auf, dass das Marketing insbesondere daran mitwirken sollte, ein alternatives »Dominant Social Paradigm« zu erschaffen, bei dem ›Sustainability‹ kulturhedonistisch wirklich wettbewerbsfähig wird, wenn es um Fragen der »Quality of Life« geht. Die Existenzberechtigung von ›Sustainable Marketing‹ bestünde dann in der aktiven Propagierung eines durch und durch nachhaltigen Lebensstils, der zwar konsequent minimalistisch ausgerichtet ist, zugleich aber ein Hedonismusversprechen mit sich führt, das unübertroffen anziehend wirkt, und dann auch kein partikularer Lebensstil mehr ist, sondern universal-kollektiv vorgegeben wird, ohne als Vorgabe Anstoß zu erregen: Man will, was man soll.

Nur wer streng nachhaltig konsumiert, wird zukünftig noch wirklich glücklich werden können, und dies nicht mehr mittels aufwendiger Evaluation und Reflexion, wie es gegenwärtig noch nötig ist, in einem aufwendigen Prozess der Selbstbesinnung und Selbsteinkehr, um sich ständig zu vergegenwärtigen, dass jede:r jederzeit auf die Sicherstellung der vollumfänglichen Befriedigbarkeit aller Bedürfnisse künftiger Generationen zu achten hat – sondern irgendwie anders, viel freudvoller, vergnüglicher, unbelasteter, moralisch freier, möglichst sogar ganz befreit von der Gewissensfrage. Aber genau das erscheint heutzutage noch als Utopie, wenn man es gesamtgesellschaftlich denkt.

Hoffen wir somit auf eine Post-Marketing-Ära, in der dem ›Sustainable Marketing‹ irgendwann jener Stellenwert zukommt, der heutzutage noch dem vorherrschenden ›Non-Sustainable-Marketing‹ gebührt. Auch ein Paradoxon.

 

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