›Occupy Populism‹
von Urs Stäheli
10.8.2024

Nach dem Crash 2008: Occupy Wall Street und die Logik des Populären

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 26-30]

Im Zuge der letzten Finanzkrise hat sich zunächst in den USA die »Occupy-Wall-Street«-Bewegung herausgebildet, zu einem Zeitpunkt, an dem auch viele kritische Kommentatoren nicht mehr an die Möglichkeit einer kritischen Bewegung glauben wollten. Wie kommt es, dass gerade in den USA, in denen die Börsenspekulation – ganz anders als in Europa – über eine große Selbstverständlichkeit verfügt, ja geradezu zur Alltags- und Populärkultur gehört, sich noch vor Europa eine weltweit beobachtete Protestbewegung herausbilden konnte? Gewiss, die Antwort auf diese Frage mag auf der Hand liegen, gelten doch gerade amerikanische Investmenthäuser und -praktiken als die ›Auslöser‹ der letzten Krise. Diese Antwort suggeriert aber ein recht mechanisches Modell von Bewegungen, ganz als ob ›Protest‹ (falls es sich hier überhaupt um Protest handeln sollte) immer gleich dort auftaucht, wo eine Ursache für Missstände vermutet wird.

Die Virulenz der Occupy-Bewegung lässt sich nur dann richtig verstehen, wenn wir sowohl die Finanzökonomie wie auch die Bewegung aus der Perspektive einer Theorie des Populären analysieren. Ich hatte 2007 in einer historischen Studie zu US-amerikanischen Börsendiskursen (»Spektakuläre Spekulation. Zum Populären der Finanzökonomie«) die Einbettung von finanzökonomischen Praktiken in eine Logik des Populären herausgearbeitet. An dieser Stelle scheint mir u.a. ein Punkt bemerkenswert, der ein spezifisches Verhältnis des Populären zur Ökonomie in den USA betrifft. In Anlehnung an Thomas Franks »There is Only One Market Under God« lässt sich in den USA ein »Markt-Populismus« feststellen, der bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreicht und in der New Economy zu Beginn der 2000er Jahre einen weiteren Höhepunkt erfahren hat. Dieser Markt-Populismus zeichnet sich dadurch aus, dass der Markt zum politischen Modell wird. Damit ist nicht einfach gemeint, dass auch das Politische einer neoliberalen Wettbewerbslogik folgt, sondern dass der Markt einen Ort bezeichnet, zu dem alle Zutritt haben: »Markets r us! « – oder »Wir sind der Markt«, so hieß der Slogan der 2000er. Gerade die Finanzökonomie galt als ein Ort, zu dem jeder Zutritt haben konnte, nicht nur der große Finanzier, sondern auch die vielen Kleinanleger, die nur mit Kleinstbeträgen ihr Glück versuchen. Im Gegensatz zum politischen System repräsentiert der Finanzmarkt damit ein universalistisches Inklusionsversprechen – der Marktpopulismus verfügte sogar über eine ideologiekritische Perspektive, mit deren Hilfe sich die intransparenten Netzwerke, die Klientelpolitik und die Korruption des politischen Systems kritisieren ließ. Die Finanzökonomie verkörperte damit in vielfältiger Weise die Logik des Populären: Niemand wird ausgeschlossen oder diskriminiert, der Markt ist eine Bühne für alle! Mehr noch, die Börsenspekulation ist nicht nur von diesem populären Inklusionsversprechen geprägt, sondern sie macht auch Spaß, gerade durch den ›thrill‹ des Spekulierens.

Mit der letzten Finanzkrise ist dieses populäre Versprechen des Marktes – einmal mehr – in die Krise geraten. Das populistische All-Inklusions-Versprechen wurde gebrochen; oder genauer: Mit den Rettungsmaßnahmen wurde deutlich, dass tatsächlich ›alle‹ für das populäre Versprechen des Marktes zu bezahlen haben. Die Occupy-Bewegung lässt sich meines Erachtens nur vor dem Hintergrund dieser populären Logik der amerikanischen Finanzökonomie richtig verstehen. Die zentrale Selbstbeschreibung der heterogenen Bewegung ist denn zunächst auch genauso einfach wie die des Marktpopulismus: »We are the 99%.« Hier treffen zwei Formulierungen des Populären aufeinander: Der universalistische Marktpopulismus trifft auf den ebenso universalistischen Anti-(Markt?)-Populismus. Ein Kampf um ›alle‹ findet statt. Gerade dieser Anspruch, für ›alle‹ zu stehen, mehr noch, alle zu sein, zeigt sich auch in der heterogenen Zusammensetzung der Bewegung. Es handelt sich eben nicht um den verlängerten Arm bestehender linker, regimekritischer Gruppen, sondern um ein uneinheitliches Ensemble unterschiedlichster Anhänger. Die Logik des Populären hat die Occupy-Bewegung von Anfang an gekennzeichnet, ist sie doch eine Erfindung der werbekritischen Zeitschrift »Adbuster«, die unter höchst professioneller Verwendung von avancierten Werbetechniken Werbung und Politik zu demaskieren sucht. Das archaisch anmutende Bild besetzter Plätze sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Occupy aus dem Herzen eines fiktionalen amerikanischen Kapitalismus stammt. Dies zeigt sich etwa auch an im Netz zirkulierenden kurzen Videos wie »De-Arrest Your Comrades«, die populärkulturelle Motive –  z.B. aus Rambo-Filmen – entleihen. Natasha Lennard spricht in einem Artikel für das Online-Magazin »salon.com« davon, dass hier ästhetische Techniken des ›detournement‹ verwendet werden. Techniken und Motive der dominanten Populärkultur werden dieser entwendet, wobei aber gleichzeitig von der Popularität und der leichten Wiedererkennbarkeit der Motive profitiert wird. Es ist nicht zuletzt diese Strategie, die bereits für »Adbuster« von zentraler Bedeutung gewesen ist.

Damit setzt die Occupy-Bewegung der Finanzökonomie eine alternative Form, Verbindungen herzustellen, entgegen. Gerade finanzökonomische Derivate zeichnen sich dadurch aus, dass durch diese alles mit allem verbunden werden kann; ja, dass geradezu eine hyper-konnektive Logik hier ins Spiel kommt, die sich weder an Tradition, Güter noch Narrative hält. Die Logik des Populären besteht aus einer analogen Logik des permanenten Verbindens – man könnte hier von einer Hyper-Konnektivität des Populären sprechen. Gerade dies war bis in die 1970er Jahre eine der großen Provokationen ganz unterschiedlicher Formen von Populärkultur: Der Skandal der Populärkultur bestand zu einem nicht unwesentlichen Teil darin, dass Elemente der ›Hochkultur‹ entliehen, trivialisiert und beliebig mit ›banalen‹ Elementen rekombiniert werden konnten. Mehr noch, dass es sich um flüchtige Verbindungen handelt, die durch keine festen ästhetischen und ethischen Kategorien gesichert sind.

Das Populäre von Occupy besteht deshalb nicht nur aus dem Anspruch, »99%« zu sein, sondern in dieser Leidenschaft an Verbindungen, sei dies in den populärkulturellen Anleihen in der Selbstdarstellung der Bewegung, sei dies aber auch auf Plätzen im städtischen Raum, auf denen diese Kraft der Verbindung ausgetestet und gefeiert wird. Vielfach ist der Occupy-Bewegung vorgeworfen worden, dass sie keine Botschaft habe oder ihre Minimalbotschaften zu vereinfachend seien, man auf diese Weise der Komplexität des Börsengeschehens nicht gerecht werde. Die Kritiker reichen vom politischen Establishment bis hin zu Slavoj Žižek, der in einem Artikel für den »Guardian« (26.10.2011) von einem »pregnant vacuum« spricht, das geschaffen worden sei, nun aber mit Forderungen gefüllt werden müsse. Dass aber dieses Vakuum selbst zum Inhalt werden konnte, entgeht sowohl wohlmeinenden sozialdemokratischen Kommentatoren wie auch Žižeks leninistischer Perspektive. Michael Levitin, ein Occupy-Aktivist, formuliert die Ablehnung, Forderungen zu bestimmen, so: »Let’s get something straight: this movement has issued no demands. It is not a protest. It’s an occupation.« Statt elaborierte oder mehrheitsfähige Forderungen zu formulieren, geht es um den performativen Akt des sich Versammelns, des Diskutierens, der Partizipation – Akte, die nicht nur Geburtshelfer von Forderungen, nicht nur ein Vakuum als Vorstufe zur ›richtigen‹ Politik sind. So wendet sich die Occupy-Homepage explizit gegen die »Demands Working Group« mit der Losung, statt Forderungen aufzustellen, Räume der Versammlung zu stiften: »We are our demands. This #ows [OccupyWallStreet] movement is about empowering communities to form their own general assemblies, to fight back against the tyranny of the 1%.« Dies mag naiv anmuten, politisch kurzsichtig, zumindest dann, wenn man die Bewegung aus der Perspektive klassischer (anti-)hegemonialer Politik anschaut. Man würde damit aber übersehen, dass wir es hier mit einem alternativen populären Versprechen zu tun haben, einem Versprechen, das der Hyperkonnektivität der Finanzökonomie eine eigene Konnektivität im Modus der permanenten, sich selbst unterhaltenden Versammlung gegenüberstellt. Das Besetzen von Räumen ist denn auch nicht primär eine Enteignung, sondern das Schaffen von Versammlungs- und Verbindungsräumen. Damit antwortet die Occupy-Bewegung auf den Markt-Populismus mit einer eigenständigen Radikalisierung des Populismus: Eines Populismus, der keine Führer und keine Forderungen kennt, und sich so der Leitwährung des Politischen – dem Prozessieren von Forderungen – entzieht.

 

Schreibe einen Kommentar