Rezension: Reynolds und Clover
von Moritz Baßler
9.8.2024

Angriff der Gegenwart

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 81-86]

You say you want a revolution. Well, you know… (The Beatles)
I said Baby relax, it’s bigger than that! (Giant Sand)
Tonight – tonight, tonight (Kings of Leon)

We Were Promised Jetpacks heißt eine dieser Jungsbands – zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug –, die konstant ihr Indie-Publikum finden, im intellektuellen Diskurs über Pop aber inzwischen als hoffnungslos retro gelten. Simon Reynolds’ »Retromania« ist seit dem letzten Jahr die Bibel dieses Diskurses; in seinem viel besprochenen Buch über »Pop Culture’s Addiction to Its Own Past« beklagt der Musikkritiker, die Zukunft, die die Popmusik uns einst verheißen habe, sei nie eingetroffen, das Versprechen selbst trage inzwischen nostalgische Züge – mit anderen Worten: Man hat uns Jetpacks versprochen, und alles, was wir bekommen haben, ist dieses lausige Internet.

Nun gleicht ein Reynolds-Buch Lesen dem, was in Thomas Manns Josephsroman als »schönes Gespräch« bezeichnet wird: Man nickt, man freut sich am gemeinsamen Archiv, lässt sich anregen und findet das alles im Grunde auch oder lässt sich doch gern überzeugen, schon weil Reynolds einfach erheblich mehr kennt und besser darüber schreiben kann als man selbst. Allerdings ist »Retromania« ein Essay und keine wissenschaftliche Studie: es ist keineswegs so, dass Reynolds in seinem Buch ein bestimmtes Phänomen unserer Gegenwart analysiert, vielmehr verdichtet er eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Befunde, manche davon frisch recherchiert, andere durchaus schon älter, zu einem Konglomerat, das in ihm ein diffuses Unbehagen auslöst. Dabei lassen sich eine Reihe von argumentativen Kernen isolieren:

(1) Retro-Phänomene gehören von Beginn an zur Geschichte der Popmusik. Immer schon hat es im Feld der sich seit 1955 rapide ausdifferenzierenden Popkultur Musiker, Fans und Sammler gegeben, die den alten Stilen (Musik plus Outfit und Lifestyle) treu geblieben sind oder sie wiederbelebt haben. Das war oft nicht die schlechteste Musik, Reynolds spricht u.a. über Rockabilly und Northern Soul.

(2) Das Archiv wächst. Bei einer Kunst, die es noch keine sechzig Jahre gibt, ist das allerdings kein Wunder. Mit jeder Dekade steigt die Anzahl der Tonträger exponentiell an, die Stile vervielfältigen sich, differenzieren sich aus, nehmen aufeinander Bezug. Entsprechend schwerer wiegt die Vergangenheit, die auf jedem neuen Act lastet, oder positiv formuliert: Entsprechend reicher ist die Tradition, in die er sich stellt – mit dem Archiv wachsen schlicht die paradigmatischen Vergleichsbezüge.

(3) Das Archiv steht synchron zur Verfügung. Das ist die Folge des Web 2.0, von YouTube und iPod. Früher musste man die Platten suchen, ihr Besitz war kostbar, heute findet man die gesamte Musik plus Hintergrundinformation jederzeit im Netz. Musik, so spitzt Reynolds zu, unterliegt nicht länger einer Ökonomie der Knappheit, sondern wird zu einem universal verfügbaren Element wie Luft oder Wasser. Damit gehen, so das Argument, sowohl der emotionale Bezug zur einzelnen Platte als auch das Überraschungsmoment des Neuen verloren, das es im Radio-Zeitalter noch gab: Mein iPod spielt nur, was mir ohnehin gefällt.

(4) Mit dem ungeheuren Archiv im Rücken (bzw. im Rechner) wird gerade die bessere Popmusik unweigerlich zu Meta-Pop. Das alte Argument: Nichts Neues unter der Sonne, es wird nur noch zitiert, gecovert und gesamplet. Jede ›neue‹ Musikrichtung ist das Revival einer alten. Nun kann man argumentieren, dass das schon immer so war: »Roll Over Beethoven« (Mai 1956) zitiert bereits »Blue Suede Shoes« (Januar 1956), viele der besten Platten der Popmusikgeschichte waren Meta-Platten (»Pet Sounds«, das Weiße Album, Zappa…). Reynolds weiß das natürlich. Aber die neuere Musik dieser Art hält er für irgendwie postmodern beliebig, verkopft-artifiziell und letztlich nicht innovativ, ja tendenziell steril.

(5) Warten auf die neue Maschine: Im Interview nennt Reynolds als Grund für den Stillstand des Gegenwartspop auch, dass es länger keine technische Innovation (»no machine«) gegeben habe, die eine musikalische nach sich hätte ziehen können.

Es sind nicht gerade offene Widersprüche, aber doch zumindest verschiedene double binds, in die sich Reynolds mit dieser Konstellation verstrickt. Einerseits kann er Norman Blake von Teenage Fanclub durchaus darin folgen, dass »any music that doesn’t sound like anything else in rock history always sounds terrible«, andererseits gibt er einer generellen »Anxiety of Influence« (Harold Bloom) deutlichen Ausdruck: Musik mit zu vielen Einflüssen ist ihm ein letztlich langweiliges Symptom kultureller Rezession. Als Autor eines Standardwerks über Rave (»Energy Flash«, 1998) ersehnt er neue Technologie als Innovationsimpuls, als Autor eines Standardwerks über Postpunk (»Rip It Up and Start Again«, 2005) weiß er, dass Pop-Innovation auch die Form der Reduktion auf die berühmten drei Akkorde annehmen kann. Letztlich kann er – womöglich ein Problem aller Popkritik – seine Geschmacksurteile nicht vollständig argumentativ einholen, was den Argumenten selbst wiederum einen nicht unsympathischen, aber intellektuell etwas unbefriedigenden Schwebestatus verleiht. Es fehlen einfach die Kriterien dafür, wann Retro, Zitatpop und Meta-Ismen innovativ sind und wann nicht (ganz abgesehen von der Frage, ob und wann ›innovativ‹ in popästhetischen Zusammenhängen überhaupt gleich ›gut‹ ist).

Und da muss dann eben das Gefühl in die Bresche springen. So skeptisch Reynolds auch gegen »the whole apparatus of authenticity, expression, vision, self-discovery, catharsis, angst and spirituality« ist, wo Neo-Folkies oder ›Stuckists‹ wie Billy Childish ihn bemühen – ganz kann er ihn selbst nicht vermeiden. In ungeschützten Momenten beschwört sein Buch die ›verwurzelte, wirklich echte‹ Musik (»rooted, really ›real‹ music«), die es nurmehr in den Archiven gebe, denn wir lebten schließlich nicht mehr in Kulturen, sondern in der bösen ›Zivilisation‹. Das klingt nicht nur nach Oswald Spengler, Reynolds beruft sich hier ausdrücklich auf dessen Theorie des kulturellen Niedergangs. Musik, die nur noch Hipster-Wissen ausstelle, statt notwendiger Ausdruck (»expressive urgency«) – wovon eigentlich? – zu sein, verliere ihre kulturbildende Kraft. Montage-Spielchen nach dem Muster der Mashups, aber auch der japanische Retropop (Shibuya-kei) sind ihm Muster des Intellektuell-Sterilen mit »the shelf life of a wise crack«. Andererseits faszinieren ihn Ariel Pinks Hauntology, Laurel Halo oder Maria Minerva – Musik, die so klingt, wie verblichenes 70er-Jahre Film- und Fotomaterial aussieht (mit dem sie in den Videos nicht selten unterlegt wird). Diese Art von Popnostalgie unterscheide sich von anderen positiv darin, »that it contains an ache of longing – for history itself.« Nach welcher Form von Geschichte sich hier aber gesehnt wird, bleibt doch merkwürdig offen.

»This is not a history book«, behauptet der erste Satz von Joshua Clovers »1989«. Das Buch des kalifornischen Anglisten erschien bereits 2009 und ist – trotz seines Titels – hierzulande bislang kaum rezipiert worden. Dabei wird hier der faszinierende Versuch unternommen, die Popmusik um 1990 mit der Geschichte engzuführen, und die Kernthese klingt wie eine vorweggenommene Antwort auf und zugleich das entscheidende Gegenargument zu Reynolds: »The logic of ›the end of history‹ is in some degree the logic of pop itself«. Dem Wissenschaftler gelingt dabei, was dem Popjournalisten nicht gegeben ist: Er bringt historische Entwicklung (Mauerfall) und ideologische Thesen (Fukuyama) mit der intensiven formalen Interpretation von Popmusik zusammen. Pop um 1990, so zeigt er, ist charakterisiert durch die Internalisierung von Konflikten, ein entpolitisiertes Einheitsbedürfnis, das Nach-innen-Wenden gesellschaftlicher Energien und das plötzliche Fehlen von Grenzen. Prototypisch zeigt sich das am Übergang zum Gangsta-Rap: Wo Public Enemy noch gegen die weiße Machtdominanz arbeiteten (»Fight the Power«), wendet sich mit N.W.A und anderen die Aggression nach innen, verbleibt letztlich im Ghetto selbst. Weitere Großkapitel analysieren den Utopieverlust im britischen Rave, das Aufkommen von Grunge und den Stillstand des Mainstream-Pop als pophistorische Gesamtkonstellation.

Wie Reynolds diagnostiziert Clover eine Art Stasis, ein Stillstellen von Fortschritt – »the absence of horizons looms large«. Anders als dieser kann Clover diesen Zustand aber historisch kontextualisieren: Mit dem Ende des kalten Krieges, dem Triumph des kapitalistischen Westens entfallen die Antagonismen; plötzlich ist sozusagen alles Pop, und zugleich hat dieser seinen Skopus verloren: »history is now itself pop, and pop history«. Besonders stark ist Clover dort, wo er den Mainstream-Pop der Zeit in diesem Szenario verortet – »the problem of making the Hot 100 speak is in some degree the problem of this book in nuce«, erklärt er und formuliert damit die Herausforderung, der sich alles Schreiben über Pop zu stellen hat: Sich an intellektuellem Avantgarde-Pop entlangschreiben kann jeder, aber George Michaels »Freedom ‛90«, Roxettes »Listen to Your Heart« oder Jesus Jones’ »Right Here, Right Now« (aus dem der Untertitel des Buches stammt: »Bob Dylan Didn’t Have This to Sing About«) zum Sprechen zu bringen, dazu bedarf es der Theorie, und an der arbeitet Clover zumindest. Sein Buch liefert Bausteine zu einem Konzept dessen, was (und wie) Pop ›weiß‹. Schon dadurch, dass er sich dabei auf Fredric Jameson beruft, wird übrigens auch die Verdrängung weiterbestehender, etwa ökonomischer Antagonismen durch Pop keineswegs vergessen – das oben zitierte chiastische Verhältnis von Pop und Geschichte reformuliert ausdrücklich dessen These, dass »culture has become the economic, and economics has become cultural«.

Auch »1989« lässt sich bestens lesen – stilistisch sind Clover wie Reynolds Erben des großen Greil Marcus. Dennoch macht es nicht einfach bloß Spaß, hier einen zweitklassigen Popsong (Jesus Jones’ »Real, Real, Real«) sinnvoll mit Lacans Realem verbunden zu sehen, die mitgeführte Theorie erlaubt es Clover vor allem, das Verhältnis von Pop und Geschichte deutlich konsistenter durchzuargumentieren als Reynolds – mit Gewinn für beide Seiten. Wenn das kein Geschichtsbuch ist, so doch eine gelungene Übung in New Historicism – und Jameson erweist sich zur Bestimmung unserer gegenwärtigen Situation deutlich hilfreicher als Spengler. Clover analysiert den Pop-Stillstand in einem präzisen historischen Moment, der inzwischen (nahe gelegt wird: seit 2001) Vergangenheit ist. Reynolds bleibt in dieser Hinsicht eher unspezifisch (schade, dass er »1989« nicht rezipiert hat), führt dafür aber den medialen Aspekt sehr viel expliziter ins Feld als der Literaturwissenschaftler Clover.

In der Tat lässt sich streiten, was das Gefühl popkultureller Stasis stärker geprägt hat, der Fall der Mauer oder die neuen Archive, das Ende der Antagonismen oder die globale Synchronie. Doch selbst wenn man sich für Reynolds entscheidet, bleiben ein paar basale Fragen offen. Denn erstens: Sind nicht iPod und Web 2.0 unsere neuen Maschinen? Vielleicht braucht es ja nicht mehr als ein winziges Verrücken der Perspektive, um just in dem, was sich für den allzu professionellen Musikkenner wie das Ewiggleiche anhört, die neue, die adäquate Musik unseres gegenwärtigen historisch-medialen Dispositivs zu erkennen. Denn zweitens: Klingt die Musik der White Stripes, von Art Brut, Arcade Fire, den Fratellis oder Vampire Weekend tatsächlich »like it could have been made twenty, thirty, even forty years earlier«, wie Reynolds behauptet? Wo hat es denn je ein Wave-Album gegeben, das so konsistent großartig war wie das erste Album der Strokes? Eine Southern Rock-Platte, die mit den ersten Alben der Kings of Leon konkurrieren könnte? Hier stehen nun nicht länger meine Argumente gegen Reynolds’, sondern mein Geschmack: Artifiziell – mag ja sein, aber steril? Hier fließen Säfte! Ziemlich genau seit 2001 gibt es wieder eine Popmusik, die nicht allein die von Reynolds und Clover aufgeworfenen Fragen zu einem guten Teil adäquat reflektiert (»Is This It?«), sondern die außerdem die Pop-Verheißung durchaus einlöst. Denn drittens: Was genau ist es denn, das Pop uns seit 1955 verspricht? Jetpacks? Die Revolution? Überhaupt eine Zukunft? Oder nicht doch eher die Erfüllung »Right Here, Right Now« (bzw. »Gerade Eben Jetzt«, wie das schöne Buch von Eckhard Schumacher heißt), genauer: »Tonight«? – Der Münsteraner Auftritt von We Were Promised Jetpacks beginnt mit der gefühlt endlosen Wiederholung der immergleichen Kadenz, zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug, langsam lauter werdend (»Keeping Warm«). Vier »junge Spinner, die eigentlich doch noch gar nichts wissen können«, aber so »auftreten, als wüssten sie alles – und damit durchkommen«; so hat Diederichsen vor zehn Jahren die Essenz von Popmusik beschrieben, und ja, da ist sie wieder!

 

Simon Reynolds: Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London 2011.

Joshua Clover: 1989. Bob Dylan Didn’t Have This to Sing About, Berkeley u.a. 2009.

 

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