Der Libyen-Einsatz
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 40-42]
Die Gegner des Ghaddafi-Regimes sahen und sehen sich als wahre Vertreter des Volkes. Bei ihnen dominiert die Weltanschauung jener Populär- bzw. Volkskultur, der es auf Qualität und Substanz, weniger auf Quantität ankommt (was sie nun keineswegs daran hindert, gegeneinander allerlei unterschiedliche Interessen durchsetzen zu wollen). Entscheidend ist für sie nicht, dass sich eine Zahl an Menschen in einem umgrenzten Gebiet aufhält, sondern deren volkhaftes Wesen, das sich oftmals im Blick auf ihre Herrschaft herausstellt. Nicht nur die Fernsehsender wurden kaum müde zu betonen, dass Ghaddafi Krieg gegen sein eigenes Volk führe (Kriege gegen fremde Völker erscheinen ihnen offenkundig legitimer). Viele der libyschen Streiter wider das Regime fanden es besonders unerträglich, dass Ghaddafi schwarzafrikanische Kämpfer besoldete. Ghaddafi wiederum war mit dieser Semantik vollkommen einverstanden, nur fiel seine Bilanz, wer zum Volk gehört und wer nicht, selbstverständlich ganz anders aus. »Mein Volk liebt mich«, wusste er u.a. dem amerikanischen Fernsehsender ABC zu berichten. Die Abgefallenen hatten nach seiner Maßgabe nicht nur ihr Volkstum, sondern damit gleich auch ihr Menschsein verloren; die Aufständischen waren für ihn niedere Tiere, Ratten.
In der UN-Resolution, die vor allem die gewaltsame Durchsetzung einer Flugverbotszone erlaubte, berief man sich ebenfalls auf »legitimate demands of the Libyan people«. Das wichtigste ausgegebene Ziel lautete »to protect civilians and civilian populated areas under threat of attack«. Zwischen bewaffneten Aufständischen und Zivilisten machte der Beschluss keinen Unterschied. Besonders gemünzt war er auf die Stadt Bengasi, den Ausgangspunkt des gewaltsamen Aufstandes, der kurz vor seiner martialischen Niederschlagung stand.
Hauptsächlich die NATO nutzte die Resolution dazu, das grausame Ghaddafi-Regime militärisch zu erledigen. Den Schutz der »Zivilbevölkerung« vor gewaltsamen Attacken sah man durch eine Entfesselung gewaltsamer Handlungen gewährleistet (auch außerhalb Bengasis). Militärisches Eingreifen der NATO am Boden war von der Resolution ausgeschlossen, wegen der militärischen und logistischen Schwäche der Aufständischen mussten die Flugangriffe der NATO und die Geheimdienstaktionen westlicher Mächte viele Monate in Anspruch nehmen, um die Rebellen zum Sieg zu führen. Am Ende der Schutzoperation standen mehrere zehntausend Tote sowie viele weitere Verletzte, Vertriebene, Gefolterte, Hingerichtete (nach allem, was man weiß, durch beide Seiten; wie üblich gibt es kaum Informationen dazu außer spärlichen Berichten einzelner Nachrichtenagenturen und Human Rights Watch). Dass diese Opfer als Mittel dem Zweck der guten Sache angemessen waren, konnte man den Glückwünschen vieler Nationen und Staatsoberhäupter an die neuen (darunter nicht wenige alte) Machthaber entnehmen. Auch den westlichen Regierungen und ihren Parteigängern kommt es auf vermutete Qualitäten, nicht auf Quantität an: Dass am Ende der Auseinandersetzung viel mehr Tote stehen als zu ihrem Beginn, ist ihnen und der ihnen verbundenen Berichterstattung kein oder kaum ein Wort mehr wert.
Für die Fernsehberichterstattung wichtig war dieser Krieg, weil die NATO auf die Lieferung von Bildern verzichtete. Obwohl die technischen Möglichkeiten weit vorangeschritten sind – rasch waren in Libyen auch die tief fliegenden Drohnen im Einsatz –, wurde nicht einmal die Bilderpolitik aus dem Irakkrieg wiederholt. Die an frühen Hyperrealismus erinnernden Aufnahmen von grünlichen oder gräulichen Flächen und geraden Linien, über die sich schließlich weiße Wolkenformen schieben – verbunden mit dem Kommentar, hier sehe man gerade die erfolgreiche, punktgenaue Bombardierung eines strategisch wichtigen Gebäudes –, beherrschten nicht länger die Berichterstattung. An ihre Stelle traten aber nicht die von den heutigen militärischen Apparaten gelieferten präzisen Bilder.
Die NATO-Einsätze sollen in ihrer Ausführung und ihren direkten Auswirkungen von nun an unsichtbar bleiben, es soll nur noch um jene als möglich behaupteten, fernen Wirkungen gehen, die in den Kriegsbegründungen bereits vorweggenommen sind (Demokratie, garantierte Menschenrechte). Das ist merkwürdig. Es scheint, als fürchte die NATO tatsächlich die Wirkung von Fernseh-Kriegsbildern. Merkwürdig ist das, weil weite Teile der westlichen Bevölkerung sowie die führenden westlichen Medien nur bei ausbleibendem Kriegserfolg Kritik laut werden lassen – sich durch Gräuelbilder von der demokratischen Sache eben nicht abbringen lassen. Da spielt es auch keine Rolle, dass die kriegführenden Mächte zur gleichen Zeit an anderer Stelle (z.B. Bahrein) aus geo- und machtpolitischen Gründen von ihrem demokratischen Ideal – das allgemein die Notwendigkeit eines Krieges zwingend begründen soll – sehr gut absehen konnten. Für die USA bestand sogar nicht lange vor dem NATO-Einsatz keinerlei Problem darin, aus leicht vorstellbaren Gründen Terrorverdächtige zur Vernehmung nach Libyen zu schaffen.
Wegen der militärischen und momentanen weltanschaulichen Überlegenheit der USA und ihrer Verbündeten erwächst daraus auch außenpolitisch kein großes Problem mehr. Solange sie nicht sehr wichtige strategische Interessen bedroht sehen, ist der Widerstand Russlands und Chinas mit dem der früheren Sowjetunion nicht gleichzusetzen. Vielleicht entsteht mit China in Zukunft ein neuer prinzipieller Opponent (die Enthaltung Deutschlands bei der Libyen-Abstimmung war in diesem Zusammenhang für die Spannungen innerhalb der NATO nicht uninteressant), das ist aber noch nicht sicher abzusehen. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen über das Vorgehen beim geostrategisch wichtigeren Syrien wird einen ersten wichtigen Aufschluss geben.
Eine unter vielen Folgen der westlichen Vorherrschaft besteht darin, dass, wie wenig sinnvoll diese Bilderaskese auch sein mag, nur noch Bilder archaisch anmutender Kämpfe im Fernsehen zu sehen sind – mit der besonderen Pointe, dass während des Libyen-Kriegs einige Tage lang zwei ähnliche TV-Bildserien abliefen. Zu sehen waren jugendliche, überwiegend männliche Plünderer in England – und zu sehen waren überwiegend junge, ausschließlich männliche Aufständische in Libyen; beide Gruppen teils ähnlich gekleidet (Streetwear; Popmode weltweit), Letztere allerdings mit Schusswaffen ausgestattet. Dass es sich bei den einen um brutale Feinde der Menschlichkeit, bei den anderen um rechtmäßige Demokratiefreunde handelt, das können die Bilder nicht sagen. Dazu bedarf es des einschlägigen Kommentars.