Apothekenästhetik
von Dirk Hohnsträter
2.4.2024

Bars, Braunglas, Duftbibliotheken

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 71-75]

Zwei gediegene Institutionen bilden eine überraschende Referenz der gegenwärtigen Konsumkultur: Klöster und Apotheken. Längst hat die Attraktivität des Monastischen und Medizinischen konservative Kreise hinter sich gelassen, reicht ihre Faszination sogar über den engeren Bereich der Maker- und Craftszene hinaus, in der naheliegenderweise auf den handwerklichen Ernst klösterlicher und pharmazeutischer Produktion Bezug genommen wird. Ob Barkultur, Kosmetik oder Design: Materialien, Fertigungsweisen und Formbestände aus heilkundlichen Traditionen halten mehr und mehr Einzug in den Mainstream. Ihre symbolische Verdichtung finden sie in der neuerlichen Ubiquität des sogenannten Braun- oder Apothekerglases.

Wie kam es dazu, dass mit dem Stichwort ›Apotheke‹ mehr assoziiert wird als die sprichwörtlichen Preise, strenge Ermahnungen, nur nicht zu viele Kopfschmerztabletten hintereinander einzuwerfen und das mit der beneidenswerten Auflage von neuneinhalb Millionen Exemplaren zirkulierende Kundenmagazin »Apotheken Umschau«? Ein erster, greller Versuch der Popwerdung des Pharmazeutischen führt zurück in die 1990er Jahre, als Damien Hirst zwischen 1998 und 2003 im Londoner Stadtteil Notting Hill das Restaurant »Pharmacy« betrieb, dessen quietschbunte Apothekenästhetik der Künstler 2016 in seinem kurzlebigen Lokal »Pharmacy 2« wieder aufgriff. Das Interieur des Restaurants war ein lautes Pop-Vergnügen aus Pillen-Postern und Barhockern in Tablettenform, das ein Kritiker treffend als Entertainment für hungrige Hypochonder bezeichnete. Mit dem Trend, dem dieser Artikel nachgeht, hatte es freilich nichts gemein, denn die Apothekenarchitektur gegenwärtiger Gastronomie ist dunkel und seriös, wie etwa in der »Apotheken Bar« in Berlin. Diese befindet sich in den teilweise im Original erhaltenen Räumen der 1854 errichteten Mariannen-Apotheke im Stadtteil Kreuzberg. Hier eine Cocktailbar einzurichten, sei – so die Betreiber auf ihrer Website – »the natural thing to do, because the origins of cocktailmaking began in a pharmacy«. Vor einem imposanten Holzschrank mit zahllosen Schubfächern experimentieren sie mit Mörsern, Messbechern und Kräutern; ein hauseigener Magenbitter ist auch im Angebot. Die konzeptuelle Rezeptur der Apotheken-Bar stammt aus New York, wo das Speakeasy »Apotheke« das pharmazeutische Metaphernarsenal besonders konsequent durchdekliniert. Dort tragen die Bartender Laborkittel und werden als »dispensing chemist« bezeichnet. Ende 2020 veröffentlichten die Betreiber der Bar mit der alteuropäischen Aura ein Buch, das sich der »medicinal mixology« widmet und in dem die Cocktail-Rezepte nach sechs »healing categories« sortiert werden. Der Titel des Werks: »Apotheke. Modern Medicinal Cocktails«. Spirituosen bilden ein naheliegendes Vehikel für Apotheken, die ihr angestaubtes Image ablegen und mit ihren Erzeugnissen in die Szene-Gastronomie und Concept Stores urbaner Zentren vordringen wollen. Ein Beispiel dafür ist die Wuppertaler Apothekerfamilie Jagla, die mit ihrer Marke »Dr. Jaglas Kräuterbitter« Verkaufserfolge erzielt. Zur Vermarktung von Produkten wie dem in Arzneibuchqualität produzierten und in Braunglasflaschen abgefüllten »Artischocken-Elixier« fahren die Pharmazeuten den ganzen Apparat des Traditionsmarketings auf: eine mittelalterliche Klosterrezeptur, den »urgroßelterlichen Colonialwarenladen« und die »Pharmacopoea Germanica«, das Deutsche Arzneibuch. Das Elixier, sagt die promovierte Pharmazeutin Christina Jagla, begeistere nicht nur die Traditionskundschaft, sondern ebenso »Hipster Food Blogger«.

Zu den überregional vertriebenen Eigenerzeugnissen von Apotheken zählen freilich nicht nur Alkoholika. Es kann sich ebenso um Aromamischungen handeln (wie im Fall der bundesweit populären Bahnhof-Apotheke aus Kempten im Allgäu) oder um Kosmetik, wie bei der 2008 gegründeten Marke »Apomanum«, die mit dem Claim »cosmeticum bavaricum« ebenfalls ein Traditionsprogramm aufruft – zugleich aber auch die Modernität der Marke betont: Man habe, heißt es auf der Website, »in alten und geheimen Dokumenten der über 175 Jahre alten St. Alto Birgitten-Apotheke recherchiert und diese Rezepturen an die heutigen Bedürfnisse angepaßt«.

Am weitesten wagt sich die aus Wien stammende »Saint Charles Apothecary« bei der Kultivierung eines designorientierten Lebensstils vor. Mit Filialen in Frankfurt und Berlin sowie einer breiten Palette an Eigenprodukten versteht sich die Apotheke nicht nur als Abholstätte verschreibungspflichtiger Medikamente, sondern ebenso als »Store, Cosmothecary, Hideaway, Complementary, Alimentary und Refugium«, wie dem ansonsten deutschsprachigen Internetauftritt zu entnehmen ist. Wie auch »Dr. Jagla« und »Apomanum« nutzt »Saint Charles« ein Material, das als Erkennungszeichen der aktuellen Apothekenästhetik gelten kann: Braunglas. »Für unsere Produkte«, heißt es unter der Rubrik »Saint Impact« auf der Website der Saint-Charles-Apotheke, »verwenden wir zu über 90 Prozent Braun- oder Violettglasflaschen«. Das auch als Apothekerglas bezeichnete Material dient der lichtgeschützten Aufbewahrung von Substanzen; die Flaschen werden in der Regel mit einem Glasstopfen oder einem Schraubdeckel aus schwarzem Duroplast verschlossen. Über seinen praktischen Zweck hinaus ist es zum Indikator des Apothekenhaften geworden, das als Inbegriff eines geschützten, wohltuenden und gerade in seiner Naturzuwendung modernen Lebensstils gelten kann. Längst lassen sich die populären Behälter auch ohne Inhalte für den Alltagsgebrauch erwerben, z.B. im Webshop der »taz«. Was wie eine Zeile aus dem Manufactum-Katalog klingt, ist in Wahrheit Verkaufsprosa der links-alternativen Tageszeitung, die die Vorzüge das Braunglases mit den Worten anpreist, darin komme »garantiert keine Feuchtigkeit, kein fremder Geruch, kein schädlicher Lichtstrahl und kein Fraßinsekt an Ihre Leckereien«. Auf die Ästhetik der Apothekerflasche setzt auch die Deutsche Spirituosen Manufaktur, eine 2017 von einem Apotheker und einem Kaufmann in Berlin gegründete Brennerei. Sie feiert die Flasche als ein Designobjekt, das seine »Standfestigkeit aus einer kräftigen Glassohle bezieht. Ihr hoher Kragen wird von einer eleganten Ringmündung gekrönt, in der ein edler Korken von höchster Qualität sicheren Verschluss garantiert.« Die attributreiche Stabilitätssemantik wird zudem intellektualisierend aufgeladen, wenn der Werbetext die 50 ml fassende »typische kleine Apothekerflasche« als »ideal für den Aufbau ihrer eigenen Aromen-Bibliothek« anpreist.

Leicht ließen sich weitere Beispiele für die Verwendung des Apothekerglases in nichtpharmazeutischen Bereichen anführen, etwa »The Ordinary«, eine kanadische Marke für Hautpflegeprodukte, deren Stil der »Economist« als »medical minimalism« bezeichnet: »they look like they belong in some austere Swiss mountain clinic run by professional pharmacists«, charakterisiert das britische Blatt die Anti-Marketing-Marketing-Kampagne der Marke.

Antizipiert hatte den Trend zum konzeptuell unterlegten Medizinminimalismus der Modedesigner Helmut Lang, der im Jahr 2000 in der New Yorker Greene Street einen Laden eröffnete, in dem lediglich zwei Parfums in braunen Flaschen verkauft wurden. Im Stil eines pharmazeutischen Labors eingerichtet und mit einer Textinstallation von Jenny Holzer versehen, sprach die »New York Times« von einem »seismic shift in the selling of beauty«. Während Lang sich fünf Jahre später aus der Modebranche zurückzog und seither als Künstler auf Long Island lebt, ist ein anderer Braunglas-Pionier jetzt die Marke der Stunde: die 1987 gegründete, australische Firma Aesop, die weltweit über 100 und allein in Deutschland zwölf Läden unterhält. Lange vor der globalen Pandemie mussten sich die Kunden nach dem Betreten eines Aesop-Ladens in eigens dafür installierten Becken die Hände waschen, bevor die Verkaufsberatung begann. Aesop präsentiert seine Produkte in schwer voneinander zu unterscheidenden Behältern, natürlich aus Braunglas. »Die Regale voller Aesop-Flaschen, Tiegeln und Gläsern – auf den ersten Blick alle völlig gleich – sind nicht für das Auge des suchenden Kunden gemacht. Deswegen bewegen sich die Angestellten mit der nüchternen Präzision von Bibliothekaren davor, verschieben Leitern, holen schließlich die gewünschte Seife und versehen sie mit einer klaren Bedienungsanleitung, als wäre man beim Arzt oder Apotheker«, beschreibt ein Journalist der »Süddeutschen Zeitung« seinen Ladenbesuch. Die Einrichtung der Geschäfte wirkt wie ein Echo des wärmenden Braunglastons, welcher den lange Zeit mit klinisch-sterilem Weiß assoziierten Hygieneaspekt sanft erdet. Das in den sachlich gehaltenen Ingredienzlisten mitschwingende szientifische Moment verschiebt sich vom modernen Fortschrittsglauben zur Weisheit alter Arzneibücher. Aesops Markenversprechen verbindet Reinheit mit Wohlbefinden, man will sich nicht nur nicht anstecken, sondern auch geborgen fühlen und in Kontakt treten mit einer sorgsam kuratierten Natur, die keine tödlichen Viren kennt.

 

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