Corona-Marketing
von Gunnar Schmidt
21.9.2023

Haltungskampagnen

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 72-77]

Nachdem die Seuche Deutschland erreicht hatte und ihre Natur langsam begriffen worden war, geriet das Selbstverständliche unter Verdacht. Das Heim, die Stadt, die Arbeit waren nicht mehr wie zuvor. Der Prozess einer neuen Rahmung des Alltags erfasste rasch auch die Bilder und die Sprache des öffentlichen Raumes. Wo sich bis zum Erscheinen des Virus der »ästhetische Kapitalismus« (Gernot Böhme) mit Plakaten, elektronischen Billboards und Schaufenstern behauptete und glänzende Werbefotografien mit Claim-Poesie die Fantasie anregten, wurde eine Botschaftsdominanz mit puritanischer Bildarmut etabliert. An die Stelle erotisierender Farbigkeit waren Deklarationen mit einer ungewohnten Gebotsethik getreten, die von ungewöhnlichen Sendern überbracht wurden: Ermutigungsposter, Achtsamkeitsplakate, Mahnwerbung.

Flankierend hatten vor allem die großen Unternehmen Online-Kampagnen gestartet. »Horizont«, die Plattform für Marketing, Werbung und Medien, wählte für den Monat April 2020 zehn Video-Kreationen als Beispiele für gelungene Kommunikation, die allesamt das Thema Corona zum Inhalt hatten. Zwischen den Clips aus der Versicherungs-, Food- und Telekommunikationsbranche war lediglich ein Video vom Bundesministerium für Gesundheit zu finden. Laut des Datenanalyse-Unternehmens Nielsen erlebte der Werbemarkt insgesamt einen Einbruch, Corona-Kampagnen konnten allerdings einen Gesamtwert von knapp 100 Millionen Euro verbuchen. Man darf annehmen, dass es sich dabei in der Hauptsache um »Haltungskampagnen«, so der Branchenbegriff, handelte.

Auffällig und gleichzeitig nachvollziehbar ist die enorme Ähnlichkeit zwischen den Kommunikationsangeboten – sowohl inhaltlich als auch formal. Stets werden die gleichen Botschaften ausgesendet: Zuhause bleiben, Abstand halten, zusammenhalten, Hygieneregeln befolgen. Erwähnenswert sind zwei Videos aus dem Volkswagen-Konzern, die zum Social Distancing auffordern. Der Konzern scheut sich nicht, ein Marketing-Sakrileg zu begehen: Bei VW werden die beiden Buchstaben animiert und fahren auseinander, desgleichen im Audi-Video, wo die vier ikonischen Ringe sich aus der Verschlingung lösen und auf Distanz gehen. Bedenkt man, dass es in der Markenkommunikation zu den Tabus gehört, Logos zu verändern, wird greifbar, welches Signal damit gesetzt werden sollte.

Die plötzliche Vermeidung von Verführungsangeboten oder gar Paradiesversprechen unter den ungewohnten Härtebedingungen bedeutete nicht, dass eine rationalisierte Informationslogik die vollständige Herrschaft übernommen hätte. Im Fall des Corona-Marketing waren die Ratschläge durchgehend von einer eindringlichen moralischen und sentimentalistischen Tonalität gefärbt – und hatten nur selten etwas mit dem jeweiligen Business zu tun. Diese Gefühligkeit wurde besonders in den Videoclips mit einer süßlichen Dankes-Rhetorik dekoriert: »Wir sagen Danke« (Shell, Rewe), »Danke fürs Abstand halten« (VW), »Danke allen fürs Stillstehen« (Mercedes), »Wir danken allen Paketbot*innen für ihren unermüdlichen Einsatz« (Otto) »Helden danken« (Cosmos Direkt), »Danke, dass ihr für uns alle da seid « (Hermes), »DeutschlandSagtDanke« (Werbewirtschaft).

Emotionalisierung gehört zum Kerngeschäft von Werbung, doch muss die Demutsrhetorik auffallen, die der gängigen Fun- und Konsumismus-Kultur zuwiderläuft. Die Kehre entsprach der Situation: Mit Ausnahme der boomenden Supermärkte und Apotheken war der Konsum enorm eingeschränkt, und es lastete auf der Gesellschaft ein Bescheidenheits- und Verletzlichkeitsgefühl. Die von der Politik verordneten Beschränkungen bedeuteten eine gravierende Störung im kapitalistischen Getriebe.

Im Hinblick auf die Corona-Marketingstrategie der Unternehmen sind zwei Erwägungen gegeneinanderzustellen, die ein systemisches Dilemma verdeutlichen, aus dem die Einfalt der Kommunikationsformen erklärbar wird. Mag auch das Ethik-Marketing der Wirtschaftsunternehmen von einem echten Anliegen getragen sein, so steht es dennoch in ausgesprochenem Gegensatz zu den eingelebten Idealen einer kapitalistischen Kultur des Wettbewerbs. Auf dem Markt werden Verdrängungskampf und Dominanzgewinn praktiziert, Alleinstellungsmerkmale von Marken und Produkten ausgerufen, Zweckrationalität gegen Sinnwelten ausgespielt. Die ökonomischen Prinzipien haben bekanntlich ihre sozialen Entsprechungen in ausgeprägtem Individualismus, Selbstverwirklichungswünschen, Karriereambitionen, Eigensinn, Konsumfreudigkeit und Prestigeorientierung. Die plötzliche Indienstnahme des Gemeinsinns wirkt auch unter veränderten Bedingungen dagegen bemüht. Raphael Brinkert von der gleichnamigen Werbeagentur hat in der Spartensendung »Menschen Marken Medien« des Regional-TV-Senders »Hamburg 1« ein Glaubwürdigkeitsproblem seiner Branche identifiziert, wenn er darauf hinweist, dass bei dringlichen gesellschaftlichen und sozialen Bedrängungen nicht mehr die Regeln der Normalsituation Gültigkeit beanspruchen können. Der Subtext ist deutlich genug: Die Werbebranche kann sich vergreifen, wenn sie nicht begreift, dass grundsätzliche Gesetzmäßigkeiten des Marktes nicht mehr in Funktion sind.

An diesem Punkt kommt die zweite Erwägung ins Spiel. Unternehmen stehen unter dem Dauerdruck, Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten. Die Entscheidung für ein Marketing des Mitfühlens und der Gemeinsamkeitsbetroffenheit resultiert aus einer schlichten Grundregel der Marketing-Lehre: Kommunikationsmaßnahmen müssen auf Erwartungshaltungen von Zielgruppen Rücksicht nehmen. Die soziale Seuchenlage kann als Krise und Umbau von Lebensweltverhältnissen bezeichnet werden. Suche nach neuen Fraglosigkeiten, Abwehr von Kontingenz, Durchsetzung von etwas Allgemeinem gegen das Besondere standen auf der gesellschaftlichen Agenda. Werbung kann nicht anders, als affirmativ darauf zu reagieren. So wird erklärlich, dass McKinsey-Unternehmensberater Jesko Perrey im »Handelsblatt« der Mercedes-Kampagne »#stayhome« attestieren konnte, »kommunikativ klug auf die Krise reagiert und viel Sympathie bei den Menschen geerntet« zu haben. Klugheit besteht in nichts anderem als in den Möglichkeiten der symbolischen Versicherung von längst Akzeptiertem. Dahinter steht aber keineswegs die seriöse Beschäftigung mit der Krise, denn am Ende sollen weiter die Premiumfahrzeuge erfolgreich verkauft werden.

Allerdings ist zu dieser Einschätzung ein Einwand zu formulieren: Noch das wunschträumerischste Werbeformat muss zur realen Ware eine Referenz aufweisen, ansonsten wäre Werbung nichts als Lüge. Aber genau dieses Risiko sind die Unternehmen mit dem Corona-Marketing eingegangen. Was können sie tatsächlich bieten, um Solidarität und Dankbarkeit in der Gesellschaft als Werte zu verankern? Wenn Shell und Starbucks den Einsatzkräften und Mitarbeitern des Gesundheitssystems einen »Heldenkaffee« spendieren, dann verdeckt diese Aktion lediglich, dass es an Ideen und systemrelevanten Eingreifoptionen in der Krise mangelt. Die plötzliche Neuorientierung erscheint wie ein künstlich appliziertes Ornament auf einer armseligen Ware. Die Bildwelten von harmonischem Zusammenleben in den Videos, sprachliche Pathosformeln und Hollywood-Klangschmelz sind Oberflächen ohne Hintergrund. Es kostet nicht viel, den Kunden und Mitarbeitern Verhaltensregeln mitzuteilen, die sie längst kennen. Mitgeteilt wird allein die Behauptung, dass man zur selben Welt gehört, die wie aus Zauberhand aus einer soliden Community zu bestehen scheint. Diese harsche Kritik an Gutgemeintem muss allerdings hartherzig erscheinen, denn wieso sollte man in einer ernsten Gesamtlage einem Unternehmen davon abraten, das eigene Geschäft mit dem Lichtschein der Betroffenheit zu versehen, denn diese liegt ja real vor.

Zum Gesamtbild des Marketing-Dilemmas gehört der politische Kontext, der ebenfalls in entscheidendem Maße aus Kommunikation besteht. Parallel zum Wirtschaftssystem ist für diesen Bereich eine ähnliche Diagnose zu stellen, wobei jedoch ein bemerkenswertes rhetorisches Detail einen symbolstarken Unterschied markiert. Politik musste mit Einschränkungen und einhergehend mit Störungen der Lebensweltzuständlichkeiten operieren. Die erstaunliche Akzeptanz der eingeforderten Verhaltensänderungen wurde durch eine umfängliche Informationskampagne unter Einbeziehung seriöser Wissenschaftler und renommierter Forschungsinstitutionen erreicht. Das Politik-Marketing erzeugte neue Wirklichkeiten, die zur Vorlage für die Wirtschaftskommunikation wurden. Mit leichter Verzögerung kam es also zu einem Einklang zwischen Wirtschaft und Politik.

In den ersten Wochen der täglichen Verlautbarungen durch Politiker, aber auch im Sprachgebrauch der anerkannten Medien, tauchte ein Wort wieder und wieder auf: Solidarität. Die Penetranz des Wortgebrauchs hatte etwas Beschwörendes. Ein Eingedenken oder gar Widerspruch zu dieser Formel gab es nicht. Was gemeint war, schien zweifelsfrei zu sein: Neben den eher einfachen Maßgaben zu Hygiene und Distanzeinhaltung, die kaum das Wort gerechtfertigt hätten, sollte wohl vor allem eine emotionale Aura des großen Zusammenhalts insinuiert werden. Die Tatsache, dass das Wort von einer konservativen Kanzlerin, von wirtschaftsliberalen Führungspolitikern und vom Bundespräsidenten (»Solidarität ist jetzt existenziell wichtig«) und eben nicht nur von Sozialdemokraten oder Linken-Politikern ohne Zögern im Mund geführt wurde, kann als Zeichen einer sprachspielerischen Freiheit und situativen Angemessenheit gedeutet werden. In gleichem Maße hätte es ebenso Misstrauen erwecken können, denn »Solidarität« transportiert eine wuchtige historische Semantik zwischen Ehrwürdigkeit und prekärer Verwahrlosung. Als Begriff aus der traditionellen Arbeiterbewegung war dieser Signifikant Synonym für ein Klassenschicksal, dem man in Gemeinschaftsaktion und gegen einen übermächtigen Gegner zu entrinnen hoffte. Im Ostblock-Kommunismus wiederum verkam »Solidarität« zur hohlen Phrase eines Internationalismus, hinter dem sich systemische Abhängigkeit und Unterdrückung versteckten. Und auch heute noch wird »Solidarität« von Anarcho-Linken benutzt, um den Größentraum der revolutionären Weltverbesserung ins Schlagwort zu bringen.

Die ausfransende Unschärfe und aufgeladene Semantik des Wortes erzeugen ähnlich wie die Redeformen aus der Wirtschaft das Bild einer Gemeinschaft der Gleichen, die faktisch nicht existiert. Thomas Fischer ist einer der wenigen, der die Rührseligkeit des Ausdrucks kommentiert hat. In seiner spiegel.de-Kolumne stellt er im für ihn typischen sarkastischen Duktus fest, »dass der Ruf nach Gemeinschaft, Solidarität und Schicksalstoleranz derzeit besonders von Menschen und Bevölkerungsgruppen erschallt, die ihn in Friedenszeiten gern für sentimentales Geschwätz halten.« Diesem Einspruch könnte man entgegenhalten, dass es Situationen geben mag, in denen Mythenkonstruktionen für eine gesellschaftliche Gesamtorientierung wichtiger sind als der »Rigorismus der Wahrheit«, wie es Hans Blumenberg formuliert hat. Die Anspielung auf das mythische Bild einer geschlossenen Gemeinschaft hat Überzeugungskraft, gerade weil die Zumutungen des konkreten Lebens ausgespart bleiben.

Dass vor dem Hintergrund der realen Politikentscheidungen durch den versorgenden Wohlfahrtsstaat die Hymne von der vergesellschaftenden Kraft der Solidarität bald in Missklang umschlagen kann, weil es zu Verteilungsungerechtigkeiten kommt, soll an dieser Stelle nur angedeutet werden. Mythen-Dekonstruktion erfolgt zumeist durch die Wirklichkeit und nicht durch mythenkritische Intellektuelle.

Dass allerdings in dem angesammelten Bedeutungskapital des Wortes etwas steckt, das auf Unerledigtes und vielleicht auch Unerwünschtes hinweist, ist den konkreten Sprachhandlungen zu entnehmen. So übermäßig »Solidarität« von Politikern eingefordert wurde, so sehr zeichnet sich das rhetorische Vorgehen in der Wirtschaftskommunikation durch vollständige Abwesenheit des Wortes aus. Weniger belastete Synonyme wie »Gemeinschaft«, »Zusammenhalt«, »Gemeinsamkeit« und die Anrufung eines großen »Wir« finden wiederkehrende Verwendung. Egal, ob »Solidarität« im Einzelfall kalkülhaft oder in naiver Selbstverständlichkeit Eingang in die politische Rede gefunden hat, allein die Kundgabe signalisiert Politizität. Die Scheu der Werbetexter hingegen, sich des Terminus zu bedienen, obwohl doch alles Trachten auf Einhelligkeit mit dem herrschenden Gebotswesen ausgerichtet war, kann sich nur aus ihrer Sprachsensibilität erklären. Sie mussten wissen, dass allerhand Konnotationen darin resonieren, die in vollständiger Disharmonie zum System des kapitalistischen Wirtschaftens stehen. Das Wort war von Beginn an Ausdruck einer anti-kapitalistischen Haltung sowie eines Bewusstseins, das gesellschaftliche Ungleichheit als zukunftsfeindlich erachtete.

Man darf es sagen: Die Kommunikation auf beiden Seiten konnte nur so ablaufen, wie sie ablief; der gefühlsbeladene Moralismus hatte vor allem legitimitätsbildende Funktion in einer Situation ständig wechselnder Datenlagen und Unsicherheiten. Es war nicht die Zeit für Abwägungen oder Einsichten in das Dilemma der Kommunikation und des Handelns: Man musste so tun, als gäbe es Einverständlichkeit ohne die Möglichkeit eines anderen Verstehens und Verhaltens.

Ungerechter Nachtrag: Zum Komplex des Corona-Marketing gehört auch der »Song der Stunde«, wie die »Süddeutsche Zeitung« schrieb und damit Tocotronics »Hoffnung« bezeichnete. Was von der Zeitung als Lob gemeint war, lässt sich auch als Soundtrack des großen Marketing-Films kritisieren. Veröffentlicht als Video, schmiegen sich Bild- und Klangästhetik sowie Textbotschaft an die vorgegebenen Ausdruckswerte der Marketing-Rhetorik an. Über einer Bildmontage aus menschenleeren Straßen und getragen von glissandierenden Streichern, die eine Sehnsüchtigkeit illustrieren sollen, hebt Dirk von Lowtzow an zu singen: »Hier ist ein Lied, das uns verbindet.« Selbstreferentiell erhebt sich das Stück, romantisierend »Lied« genannt, zur Medizin, die Erlösung bringt. Denn es beseitigt »Vereinzelung«, bringt »Hoffnung« und realisiert »Aktion in jedem Klang«. Und so geht es weiter zum »Neuanfang«, zum »neuen Zusammenhang« und zur »Transformation«. Der gesamte Text wird in fetter Headline-Typografie über die Stadtleere gelegt. Die melodiöse Gestaltung, die Handhabung der akustischen Gitarre und der gesangliche Vortragsstil in seinem distanzlosen Ernst erinnern an den Sound von Kirchentags-Erbauungsmusik und DDR-Singefest-Bekenntnis-Sound. Es wird ein Überpathos evoziert, das mit den tatsächlichen Verhältnissen nichts zu tun hat, nur eben die Einfachheit des Fühlens hochtreibt. Paraphrasiert werden Solidaritätsvereinnahmung und Wir-bewältigen-die-Krise-Demut, die im gesellschaftlichen Raum kursieren. Der Popmusik ist nicht vorzuwerfen, dass sie überzogen oberflächlich ist, mit gespielten Emotionen hantiert und Freude aus der Unechtheit bezieht. In diesem Fall jedoch folgt die Inszenierung exakt den Mechanismen der Marketing-Angebote: Sie hält keinen symbolischen Abstand und fügt ihnen daher auch nichts Neues hinzu. Insofern dementiert der Song, was er behauptet. An ihm ist alles alt, transformierend ist er nicht.

 

 

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