»Ich lese fast nie in Buchhandlungen« 
von Thorsten Nagelschmidt
8.11.2022

Ein Gespräch mit dem Buchautor und Sänger der Band Muff Potter Thorsten Nagelschmidt

[erschienen in: Christoph Jürgensen (Hg.): Pop goes literature – Musiker:innen und Autorschaft,  Bielefeld 2022.]

Das Interview führten: Christoph Jürgensen, Lotta Mayer, Michelle Mück, Sarah Wenk

Transkription und Redaktion: Celine Buschbeck, Julia Ingold

 

» … als hätte ich mich in den Betrieb irgendwie reingemogelt … «

Wir schreiben ein Buch über einen gewissen Künstlertypus, den Du auch verkörperst: Einen Typus, der Pop-Musiker und Pop-Star ist und gleichzeitig Autor, Schriftsteller im starken Sinne, also nicht nur Pop-Lyrics schreibt. In unserem Buch geht es um Dich, aber auch um Sven Regeners ›Magical Mystery‹, die Lyrik von Judith Holofernes, Hendrik Otremba kommt vor sowie Dirk von Lowtzow mit seinen autofiktionalen Strategien. Eine bunte Mischung, die verbindet, dass alle erst Popmusiker:innen waren und dann einen Feldwechsel – entweder komplett oder teilweise – vollzogen haben. Die Idee war, dass wir nicht nur aus der wissenschaftlichen Perspektive analysieren, sondern auch mit jemandem, der das selbst gemacht hat, sprechen. Uns interessiert, wie man sich auf diesen beiden Feldern bewegt, in welchem Verhältnis die Kunstformen stehen. Du musst doch sicher ab und zu amtliche Dokumente ausfüllen wegen irgendwelcher Anträge oder eines Umzugs: ›Was machen Sie beruflich?‹ Was trägst Du da ein?

Schriftsteller. Das kommt allerdings nicht oft vor, ich ziehe nicht so oft um. Als ich das letzte Mal umgezogen bin, habe ich nicht gesagt, dass ich Schriftsteller bin, weil ich dachte, da bekomme ich die Wohnung auf keinen Fall. Damals habe ich – das ist schon sehr lange her, ich lebe schon sehr lange in meiner Wohnung – behauptet, ich wäre Verlagsmitarbeiter bei Universal. Wir waren damals mit unserer Band bei Universal unter Vertrag. Ich dachte, ich sage lieber nicht, dass ich in einer Band bin, sondern tue besser so, als sei ich auf der anderen Seite. Der Seite mit dem geregelten Einkommen. Wenn ich heutzutage irgendwo einen Beruf angeben muss, dann meist beim Reisen. Auf diese Zettel für den Zoll schreibe ich immer ›Schriftsteller‹, muss aber jedes Mal wieder erst überlegen. Das ist nichts, was mir selbstverständlich von der Hand geht. Und das hat glaube ich damit zu tun, dass die Sachen, mit denen ich mein Geld verdiene, anfangs nicht mein Beruf waren.

Das heißt, ich habe irgendwann eine Band gegründet. Nicht, weil ich dachte, dass ich damit Geld verdienen würde. 1993 war es nicht abzusehen, dass man mit deutschsprachiger Punkmusik jemals Geld verdienen könnte. Schon der Begriff Musiker war mir suspekt. Musiker, das waren die Leute, die im Musikladen, wo wir unsere Kabel gekauft haben, am Tresen standen und Schnürlederhosen anhatten und über Blues Rock gefachsimpelt haben und alle unfassbar gut spielen konnten, aber trotzdem nichts Interessantes auf die Beine gestellt haben. Das waren Musiker. Wir waren keine Musiker, wir waren Punks, die in einer Band spielen. Mit dem Schreiben ist es ähnlich. Ich habe immer geschrieben. Ich habe in den 90ern ein Fanzine gemacht, ich habe Songtexte geschrieben. 2007 ist mein erster Roman erschienen, beim Ventil Verlag – einem kleinen linken Subkultur-Verlag. Das hat sich für mich angefühlt, als würde ich eine neue Ausgabe von meinem Fanzine herausbringen, wenn auch in Buchform. Seitdem ist natürlich einiges passiert. Trotzdem habe ich mich oft gefühlt, als hätte ich mich in den Literaturbetrieb irgendwie reingemogelt. Als dürfte ich dort eigentlich gar nicht mitmachen, weil ich das alles nicht gelernt habe. Ich habe nicht in Leipzig oder Hildesheim studiert. Ich habe überhaupt nicht studiert. Ich bin Autodidakt. Ich kann keine Noten lesen. Ich habe das Musikmachen nicht gelernt. Ich habe das Schreiben nicht gelernt. Ich wollte das einfach machen und habe versucht, es so gut wie möglich zu machen. Ich komme nicht aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus.

Bei uns zuhause gab es keine Bücher. Ich habe relativ spät angefangen, zu lesen. Ich habe schon viel gelesen, Fanzines und Underground Sachen, Literatur aber erst später, in meinen Zwanzigern. Ich hatte zwar einen Deutsch-LK, aber auch da habe ich die Bücher nicht gelesen, die wir behandelt haben. Ich konnte aber immer schreiben, irgendwie. In meinem Roman Der Abfall der Herzen habe ich die Anekdote verbraten, dass ich mal eine Eins minus über Effi Briest geschrieben habe, ohne das Buch gelesen zu haben. Darauf bin ich bis heute stolz. Weil es sich für mich anfühlt, als hätte ich mir etwas ergaunert. Mittlerweile lebe ich seit gut 16 Jahren ausschließlich von meiner Kunst und es ist klar: Ich bin Musiker, ich bin Künstler, ich bin Schriftsteller. Trotzdem kommen mir diese Berufsbezeichnungen immer noch manchmal seltsam und prätentiös vor. Eben weil ich schon immer geschrieben habe, aber die meiste Zeit nicht als Schriftsteller galt.

Das ist in vielerlei Hinsicht eine spannende Antwort, weil die Zugangsberechtigung zu einem Feld ja ziemlich kompliziert ist. Es gibt kein Zertifikat, das man erwerben kann, keine Ausbildung, die sich absolvieren ließe. Klar, es gibt Popakademien und Schreibakademien, aber sonst ist ziemlich unklar, wer eigentlich zu einem Feld gehört und wer sich so nennen darf. Beziehungsweise andersherum: Wer einen so nennt, wer berechtigt ist, einen so zu nennen. Wer darf jemanden auszeichnen als Schriftsteller oder Musiker? Und dann ist man es. Dass Du jetzt das renommierte Alfred-Döblin-Stipendium bekommen hast, verliehen für Romanmanuskripte im Werden, ändert das Deine Haltung dazu nochmal oder kommt das so spät, dass diese typische Schriftsteller-Auszeichnung Deinem Selbstverständnis nichts mehr hinzufügt?

Ich kann das genießen. Ich freue mich darüber und es gibt auch ein bisschen Geld. Das ist schon gut. Ich freue mich auch über die Anerkennung, aber gleichzeitig ist es nach wie vor etwas, das mir eigentlich fremd ist. Ich bin nicht dieser Schriftsteller-Typus und ich möchte auch nicht dieser Schriftsteller-Typus sein, der sich von Stipendium zu Stipendium hangelt, der sich in so einer Clique oder auch Blase befindet, wo sich alle gegenseitig Stipendien und Preise zuschustern. Ich war immer Pop. Bis zu diesem Stipendium, bis zu diesen Vorschüssen, wie ich sie jetzt beispielsweise vom Fischer Verlag bekomme, war es immer so, dass ich oder meine Kunst genau so viel Wert sind, wie es Menschen gibt, die bereit sind, dafür Geld auszugeben. Man bekommt nichts vorab oder einfach schon mal so, man lebt von seinen Verkäufen. Bei Auftritten gibt es einen Door-Deal und man bekommt 50, 60 oder 70 Prozent von dem, was am Abend reingekommen ist. Das heißt, anders als so manch anderer Künstler-Typus kennt man immer seinen Marktwert. Ich kann mir natürlich eine nicht-kapitalistische Welt vorstellen, in der das nicht so sein muss. Und gleichzeitig merke ich, dass dieser Leistungsgedanke in mir elementar verankert ist.

»Pop und Akademie. Das sind Antagonisten.«

Darüber haben wir gar nicht gesprochen, während unser Buch hier entstanden ist. Es gibt literaturspezifische Produktionszyklen: einen kurzen Zyklus, der auf unmittelbaren Erfolg beim Publikum setzt, das ist eher die ästhetisch niederrangige Massenliteratur, und einen für die long distance, da wird erst für die happy few produziert, und erst die nächsten Generationen verstehen das Konzept. Aber zu diesem Modell könnte es sein, dass vielleicht Popmusiker:innen, die Schriftsteller:innen werden, eher noch ein popökonomisches Kalkül verfolgen und nicht gleich in diese Stipendien-Logik einsteigen können, die letztlich auf ein Publikum verzichtet.

Bei Musikern ist es ja so: Klassische Musik wird von vorne bis hinten durchsubventioniert, Popmusik nicht. Die Trennung von sogenannter E- und U-Kultur ist in Deutschland immer noch ausgeprägt. Als ich angefangen habe, Popmusik oder Rockmusik oder Punkmusik oder wie auch immer man es jetzt nennen möchte, zu machen, da gab es noch keine Popakademien. Ich fand das ganz schön komisch, diese Popakademien. Was soll man da lernen? Ist natürlich Quatsch, natürlich kann man da was lernen. Aber das waren für mich zwei Welten: Pop und Akademie. Das sind Antagonisten.

Wie gesagt: Bei uns zuhause standen fünf Bücher auf einem Regal. Drei davon waren von Konsalik. Ich habe nie jemanden darin lesen sehen. Es gab jedoch einen Plattenspieler und ein Radio und es lief die Musiksendung Formel 1 im Fernsehen. Ich komme aus einer 70.000-Einwohner-Stadt im Münsterland. Popmusik war für mich das Tor zur Welt. Ich habe durch Popmusik Sachen gesehen, von denen ich bis dahin nicht wusste, dass es sie gibt. Eine Band wie Frankie Goes to Hollywood. Da habe ich zum ersten Mal Crossdresser gesehen oder geschminkte Männer oder schwule Männer. Da dachte ich: Was ist denn hier alles möglich? Die hatten auch noch so komisch anspielungsreiche Texte und im Inlay der LP waren lauter Verweise auf Oscar Wilde, Knut Hamsun, Melville und Baudelaire. Worauf ich hinaus will: Diese Songs und Platten waren für mich der Zugang zu jeglicher Art von Kunst, auch zu bildender Kunst. In meiner Familie wurden keine Ausstellungen oder Museen besucht. Ich bin durch Plattencover zum ersten Mal mit Fotografie und mit bildender Kunst in Berührung gekommen und dann mit den Songtexten, die ganz schnell wichtig waren. Worüber singen die denn da? Was nehmen die denn da für Rollen ein, meinen die das ernst? Ich habe in meinem Buch Drive-by Shots darüber geschrieben, wie ich mir in der dritten Klasse selbst Englisch beigebracht habe, mithilfe des BRAVO-Song-Book. In jeder Ausgabe der BRAVO war der Text eines aktuellen Pop-Songs abgedruckt, daneben die deutsche Übersetzung. Damit habe ich mir Englisch beigebracht. Und mich dann gewundert, warum so ein einfaches Wort wie ›zerbrechlich‹ auf Englisch so kompliziert ›china in your hand‹ heißen musste, wie bei der Band T’Pau und ihrer Power-Ballade China in Your Hand. Als ich in der 5. Klasse auf’s Gymnasium gekommen bin und der Englischunterricht endlich losging, hatte ich zumindest einen Bezug zur englischen Sprache.

Ich habe mich deswegen immer schwer getan mit Poesie. Pop-Musik hat mir die Poesie versaut, glaube ich. Gedichte haben mich selten begeistert, ich habe aber ständig welche geschrieben. Mein ganzes Schreiben kommt eigentlich durch die Musik. Als erstes waren das so BRAVO-, pop Rocky– oder später ROCK HARD– oder Metal Hammer-mäßige Berichte über erfundene Bands, in denen immer ich der Frontmann war. Dann habe ich angefangen, Tagebuch zu schreiben, Songtexte zu schreiben, Gedichte zu schreiben, ein Fanzine rauszugeben. Und irgendwann im Jahr 2005 hat Jörn Morisse, ein Literaturagent, der auch mal ein Fanzine gemacht hatte, bei mir angerufen und gesagt, er hätte mein Fanzine damals so gut gefunden – Wasted Paper hieß es – und ob ich mir vorstellen könnte, einen Roman zu schreiben. Ich habe zwei Sekunden überlegt und gesagt: Ja klar, mach ich. Dann habe ich das erste Buch geschrieben. Ohne Musik, ohne Pop und ohne die DIY-Idee des Punk wäre das alles nicht passiert.

Wir hätten nur eine winzige Zwischenfrage, weil Du gesagt hast, dass das Englische so wichtig für Dich war. Muff Potter war eine der Bands, die für die deutschsprachige Musik sehr wichtig war. Du schreibst auf Deutsch, obwohl Dir das Englische so wichtig ist?

Ja, das finde ich auch interessant. Bei mir kommt noch dazu, dass bei uns nicht viel gereist wurde. Meine Eltern sprachen keine Fremdsprache. Deswegen hat sich durch das Englische eine ganz neue Welt für mich aufgetan. Mein allererster Songtext war auf Englisch. Der hieß Junkfood Nightmare und hat sich kritisch mit Junk Food auseinandergesetzt, wie man sich bei dem Titel eventuell denken kann. Dann war ich aber gleich mit meinem Latein – meinem Englisch – am Ende, weil ich dachte: Das kann man alles machen, aber das hat es schon gegeben und wahrscheinlich in ein bisschen besser, weil ich eben kein native speaker bin. Ich habe dann angefangen, auf Deutsch zu texten, weil ich wirklich gute Texte schreiben wollte, und das ging nur in meiner Muttersprache. Tatsächlich höre ich aber bis heute nur sehr wenig deutschsprachige Musik.

»Ich finde es reizvoll, prosaisch an Songtexte ranzugehen.«

Wir haben uns immer damit beschäftigt, wie Leute aus der Musik heraus zum Schreiben kommen. Du hast in einem Interview zu dem Roman ›Arbeit‹ gesagt, dass Du einige Zeilen des Romans gerne auch mal singen würdest. Das wäre genau die andere Richtung. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Musik und Literatur, gerade was die Sprache und ästhetische Verfahren angeht?

Es ist zumindest ein großer Reiz, Schnittstellen herzustellen. Ich habe das bei meinem zweiten Roman Was kostet die Welt gemacht. Es gibt eine musikalische Umsetzung, die beim Hamburger Label Audiolith raugekommen ist, wo ich Passagen aus dem Roman spreche, spoken word mit Beats und Songs unterlegt. Ich habe mich da ein bisschen auf Gil Scott-Heron bezogen, ein afroamerikanischer Musiker und Schriftsteller, der Romane geschrieben hat, Gedichte und Songs. Die Frage ›Wie kann man das umsetzen?‹ war der Reiz daran. Natürlich auch das Erzählerische. Ich finde es reizvoll, prosaisch an Songtexte ranzugehen. Das ist nicht leicht. Allein schon wegen der Menge an Text, die man braucht. Ich finde es zum Beispiel immer schön, Dialoge zu singen, Zeilen, die auf gesprochener Sprache basieren oder Wörter, die sonst nicht gesungen werden. Andersrum werde ich in Interviews häufig gefragt, ob meine Erfahrung als Musiker und Songschreiber mir beim Verfassen von Romanen helfen würde, etwa weil ich dadurch ein besseres Gefühl für Rhythmus hätte. Ich finde die Idee schön und es ist natürlich schmeichelhaft, wenn meiner Prosa ein guter Rhythmus attestiert wird, aber ich weiß nicht genau, ob das stimmt, weil es zumindest für mich, in meiner Motivation als schreibender Mensch, viele Gemeinsamkeiten zwischen Musik und Literatur gibt, die tatsächliche Arbeit an einem Roman oder einem Songtext sich aber natürlich enorm unterscheidet.

In ›Fotoautomat‹ singst Du die Satzzeichen mit: »Hallo Komma Absatz/Wie geht’s Punkt neue Zeile«

Stimmt, es fängt sogar so an.

 Inszeniert als gesungene Literatur.

 Wobei man bei der Literatur ja alles dafür tut, dass Absatz und Komma nicht mitgedacht werden. Dass diese Dinge überhaupt nicht in Frage gestellt werden, dass klar ist: Es kann nur so sein, dass hier ein Absatz ist und an dieser Stelle das Kapitel endet und dort das nächste beginnt, alles völlig selbstverständlich. Das trifft zumindest auf die Art Literatur zu, die mich begeistert.

Gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen Erzählprosa und Lyrics? ›Arbeit‹ ist ein Text, der einerseits extrem kunstvoll ist, weil dieser das Shortcut-Verfahren mit 13 Figuren hat, die sich ständig wieder begegnen. Einer ist der Link zum nächsten, oder? So wie ein Reigen. Anderseits ist der Text realistisch und hat eine Authentizitätsanmutung, was sicher mit Recherche und mit der Sprachgestaltung zu tun hat. Gibt’s da Ähnlichkeiten zu dieser fingierten Authentizität in der Popmusik, die das lyrische Ich auf die Bühne bringt, gleichzeitig aber Kunstsprache ist?

Ich habe neulich einen Text von Martin Büsser gelesen, wo es um Pop und Rock geht, am Beispiel von Hubert Fichte, der für Büsser ganz klar Pop und kein Rock und kein Beat oder sowas ist, weil es im Pop um diese Künstlichkeit geht. Da auch Hubert Fichte zum Beispiel wahnsinnig viel mit dem Authentizität spielt, indem er diese ganzen Interviews geführt und in Kneipen mitgeschrieben hat, was geredet wurde. Gleichzeitig ist die Künstlichkeit in dieser Alltagsverwertung die ganze Zeit mit angelegt und versucht sich auch nicht zu verstecken. Ich glaube dieses Artifizielle, das ist das Interessante und das, was mich am Anfang fasziniert hat. Ich habe damals ein Interview in einer BRAVO mit Daniel ›Dee‹ Snider, dem Sänger der Band Twisted Sister gelesen. Musikalisch finde ich das grauenhaft, aber der war geschminkt und die Überschrift des Interviews war In meiner Band nennen sie mich Drecksack. Das habe ich bis heute nicht vergessen, weil ich dachte: Sowas gibt es? Menschen, die so miteinander reden, aber Sachen zusammen auf die Beine stellen? Und dann ist er auch noch ein Mann und grell geschminkt! Deswegen folge ich Büsser in seiner Argumentation nicht ganz, sondern ich finde, dass sich das nicht unbedingt gegenseitig ausschließt und dass diese Verbindung von Künstlichkeit, die er ›Pop‹ nennt, mit diesem Authentizitätsversprechen, die er ›Rock‹ nennt, ein interessanter Spagat ist.

Im Falle von Arbeit zum Beispiel war mir enorm wichtig, dass meine Figuren glaubhaft wirken, dass man denen nahekommt. Dafür braucht man diese Brüche und diesen jeweils eigenen Duktus und Habitus der Figuren, eine eigene Sprache, nicht nur in ihrer Verbalisierung, sondern eben auch in ihren Gedanken und Handlungen und Affekten. Dass der Erfahrungshorizont, die Milieus und Klassen, aus denen sie kommen, in jedem einzelnen Wort stecken. Zumindest war das mein Anspruch. Und gleichzeitig ist natürlich klar, dass das künstlich hergestellt ist. Dass das nicht alles auf Erfahrungen des Autors basieren kann. Ich bin kein aus Guinea geflüchteter Mann, der im Görlitzer Park steht und Gras verkaufen muss, weil er keine Arbeitserlaubnis hat. Da war ganz klar: Ich kann nicht aus dessen Perspektive schreiben, weil ich das nicht kenne, weil das sehr weit von mir weg ist. Es war mir aber trotzdem wichtig, dass diese Welt vorkommt im Buch. Ich habe lange überlegt, wie man das machen kann und in diesem Kapitel zeigt sich die ganze Künstlichkeit des Buches, indem diese Figur einer anderen Figur, die zum Beispiel ich sein könnte, für Geld ihre Geschichte erzählt. Bei einer Fahrradfahrerin, die gerade einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich hat, kann man auch annehmen, dass das keine eigene Erfahrung von mir ist, da ist es halt offensichtlich. Aber ich bin auch kein Ostberliner Taxifahrer, das ist vielleicht genauso weit von mir weg, egal wie männlich, weiß und deutsch der ist. Da geht es sehr viel um Identität und Kulturalismus, das reicht weit in aktuelle Debatten über Identitätspolitik hinein. Ich glaube, dass das ein interessantes Spannungsfeld in der Literatur und im Pop ist, zwischen dem vermeintlich Authentischen und dem Künstlichen.

Deine Romane ›Wo die wilden Maden graben‹ oder ›Der Abfall der Herzen‹ werden auch autobiographisch gelesen. Ist das was, das bei Dir eher im Zuge des literarischen Schreibens entstanden ist oder ist das auch Teil des Schreibens von Lyrics? Spielen verarbeitete Erfahrungen auch bei den Lyrics eine Rolle?

Für mich durchaus. Wobei das nicht heißt, dass das alles eins zu eins so passiert ist. Weder bei den beiden erwähnten Romanen noch bei meinen Songtexten. Aber ich beute durchaus mein eigenes Leben aus, um eigene Erfahrungen zu Kunst zu machen. Das ist mir bewusst, das habe ich immer getan, das gefällt mir auch, auch bei anderen, als Fan. Es bedeutet aber nicht, dass das schon alles wäre, sondern das natürlich eine Frage ist, wie man das macht: Was man weglässt, was man hinzufügt, welchen Bildausschnitt man wählt. Bei Der Abfall der Herzen zum Beispiel geht es ja genau darum, dass ich mir am Ende nicht mehr sicher sein kann, ob das alles wirklich so passiert ist. Das Phänomen, dass man die eigene Biographie nur als Fiktion erzählen kann, weil es so viele widersprüchliche Versionen von Ereignissen gibt und man sich selbst und seiner Erinnerung nicht mehr traut. In dem Fall hat es ein richtiges Eigenleben entwickelt. Es gibt Passagen im Buch, von denen ich weiß, dass ich sie erfunden habe, die mir seit dem Erscheinen und all den Lesungen damit aber vorkommen, als hätte ich sie selbst erlebt. Es ist nicht damit zu Ende, dass ich dieses Buch rausgebracht habe, es läuft weiter. Was Songtexte angeht habe ich die Vermutung, dass bei einer Band wie uns Teile des Publikums automatisch davon ausgehen, man hätte das alles selbst erlebt.

Es gibt ein tolles Buch von Diedrich Diederichsen, ›Über Pop-Musik‹ heißt das, wo er genau über diese Authentizitäts- und Identitäts-Anmutung, die Popmusik hat, spricht. Er würde auch nicht von Pop und Rock sprechen, wie Du es gerade zitiert hast. Für ihn ist Pop insgesamt diese performative Dimension oder dieser Gesamtzusammenhang. Und die Vermutung, dass der, der auf der Bühne etwas singt, am besten noch in Ich-Form, das wirklich erlebt hat, ist im Publikum unglaublich hoch. Da ist dieser ganz starke Authentizität-Gedanke, der aber natürlich fingiert ist, auf der Bühne steht natürlich eine Kunstfigur. Die Anschlussfrage wäre dann vielleicht, ob es so eine Entwicklung bei Kunstwerken gibt, entweder insgesamt bei Dir oder jeweils für die Kunstform, weg von ihrem Anlass. Angefangen mit etwas eher autobiographisch grundiertem oder der Ausbeutung – wie Du sagst – des eigenen Lebens hin zu immer stärkerer Künstlichkeit. Das wäre so ein Move. Viele Autor:innen greifen viel auf ihr eigenes Leben im ersten Roman zurück, ohne dass es autobiographisch wird und entfernen sich dann immer weiter davon, indem sie sich distanzieren, ihre Werke ›verkunsten‹. In der Pop-Musik ist es auch häufig so. Tocotronic haben mal in ›Neues vom Trickser‹ gesungen »Eins zu eins ist jetzt vorbei.«, als ob man autobiographisch grundiert anfängt und sich dann wegbewegt und künstlerischer spricht.

Ich und so

Ein Song, in dem der Text sehr im Vordergrund steht, ist der Titelsong unserer Platte Von Wegen. Auch weil er gesprochen wird und weil er eine Geschichte erzählt: Dann ist das passiert und dann ist dies passiert und dann haben sie mir mein Handy geklaut und ich wollte es zurück und es gab was aufs Maul. Das ist mir so nicht passiert, aber die Idee fand ich schön und es gab auch schon Schlägereien in meinem Leben. Ich konnte da also auf etwas zurückgreifen, und doch ist diese Geschichte komplett erfunden. Ich weiß nicht, ob ich das damals bewusst gemacht habe, aber es sind ein paar Störstellen drin. Irgendwo werden Spuren hinterlassen im unberührten Schnee und eine Strophe weiter liegt der Erzähler still im Gras und schaut sich das ganze Geschehen aus der Ferne an. Da ist dieser Bruch mit der vermeintlichen Authentizität relativ klar.

Für mich ist es in Musik und Literatur immer interessant, wenn man nicht alles auf dem Silbertablett serviert bekommt, sondern sich fragen muss: Was ist denn hier eigentlich los? Ohne das unbedingt immer auf so eine prätentiöse Weise verkunsten zu müssen, weil man etwas beweisen muss oder Pfiffigkeit oder Intellektualität oder Deepness vortäuschen möchte. Das ist sehr unangenehm und das entlarvt man relativ schnell. Ich möchte schon das Gefühl haben, dass ich weiß, wovon meine Texte handeln und dass sie mehr sind als eine Aneinanderreihung von gutklingenden Zeilen oder Aphorismen oder Sprüchen, die man an die Wand sprühen kann.

Das mag ganz typisch sein – von Thomas Mann bis Jan Brandt. Der erste Roman ist natürlich nicht autobiographisch, aber ob nun gegen die Welt oder die ›Buddenbrooks‹, da ist viel eigenes Leben drin, um den Stoff zu finden. Das ist jetzt eine steile Entwicklungsthese, eher eine gesprächsgeborene Idee.

Auf dem letzten – bisher letzten – Muff Potter-Album von 2009 gibt es einen Song namens Ich und so. Es werden Romanfiguren aufgezählt und es gibt diesen Satz »Besser als am eigenen Dasein zu kleben, ist es, in den allerbesten Geschichten der Welt zu leben.« Es wird der Eskapismus gefeiert, es gibt dieses große ICH im Song-Titel, und dann geht es nur darum, dieses Ich zu überwinden und sich davon zu lösen. Tocotronic ist auch ein ganz schönes Beispiel. Auf der dritten Tocotronic-Platte fängt die Hälfte der Songtitel mit dem Wort Ich an. Mein liebster Songtitel ist: Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren. Das geht mir genauso. Ich wünschte wirklich, ich würde mich für so etwas Nettes, Unverfängliches interessieren.

Jetzt, wo ich drüber nachdenke, fällt es schon auf, dass es in der Literatur eher akzeptiert ist, sich eher durchgesetzt hat mittlerweile, nicht eins zu eins vom Werk auf den Autor zu schließen. Sodass ich jetzt sogar manchmal das Bedürfnis habe, dagegen zu steuern. Dass ich dann sage: Jetzt können wir uns diesen Quatsch auch mal sparen, in der dritten Person über etwas zu sprechen, was mir wirklich passiert ist. Ich habe heute früh bei Deutschlandfunk Kultur ein Interview mit Sophie Passmann gehört, wo der Interviewer dann die ganze Zeit – ich habe das neue Buch von Sophie Passmann nicht gelesen – von ›der Erzählerin‹ gesprochen hat und Sophie Passman ihn irgendwann darauf hingewiesen hat, dass das schon sie ist, die da spricht. Und das fand ich interessant, weil das bei einer Popsängerin vielleicht umgekehrt gewesen wäre. Bei Popmusik wird das – da gehe ich dann eher mit Diedrich Diederichsen als mit Martin Büsser – eher automatisch angenommen, dass es biographisch grundiert sein muss.

Die meisten Literaturkritiker:innen haben Literaturwissenschaft oder Germanistik oder sowas studiert, das ist fast in allen Fällen so. Die haben alle ›eingebimst‹ bekommen, dass man erzählendes Ich und Autor:in unbedingt trennen muss. Während Rock- und Popkritiker eben nicht Rock und Pop studiert haben und nicht auf wissenschaftliche Paradigmen eingestellt worden sind. Jede:r Literaturkritiker:in heute weiß ganz genau, wie er:sie einen fiktionalen Text behandeln muss, um keinen Ärger zu bekommen. Sobald er:sie Erzähler:in und Autor:in identifiziert, gibt’s die Widerrede von allen: Da hat jemand mal wieder nicht verstanden, wie das läuft. Sich davon zu lösen und zu sagen ›Der Autor und der Erzähler haben was miteinander zu tun‹, das ist gar nicht so leicht. Das stimmt. Während das in der Rock- und Popmusik diesen Ausbildungskontext nicht gibt und so ganz anders ist.

Ja, das ist interessant.

Sophie Passmann hat wohl gesagt: ›Ich bin es, die hier spricht.‹ Du meintest eben auch, dass Du gegen diese Trennung von Erzähler und Autor steuern möchtest. Wie darf man sich das denn vorstellen? Wie steuert man da dagegen?

Ich hab gar kein Beispiel dafür parat, weil es beim aktuellen Roman nicht vorgekommen ist, aus offensichtlichen Gründen: 13 verschiedene, sehr unterschiedliche Figuren. Ich kann mich aber daran erinnern, dass es bei dem Roman davor, bei Der Abfall der Herzen, oft Thema war. Dass es manchmal wie ein komisches Vexierspiel wurde, dass man dachte: Das ist so ein alberner Tanz, den wir hier aufführen. Indem wir so um das Authentische kreisen, das im Feuilleton oft als künstlerisch minderwertig angesehen wird. Vor zehn Jahren hat man kein Tocotronic-Interview gelesen, in dem sich Dirk von Lowtzow nicht von dem Begriff des Authentischen distanziert hat. Das hat in mir eine Lust oder diesen Trotz geweckt: Nein, es ist einfach ganz klar eins zu eins und das finde ich auch gut und das soll auch so sein. Die sogenannte autofiktionale Literatur wird ja auch teils belächelt: ›Ach, da schreibt wieder jemand nur über sich selbst‹. Dabei kann das einen großen Wert haben. Rückkehr nach Reims von Didier Eribon hat genau diese Sprengkraft, weil es in dem Text einen konkreten, persönlichen Bezug zu den Themen gibt, über die Eribon schreibt, Klassengesellschaft, Homophobie, selbstgerechte linksliberale Akademikermilieus, rechts wählende Arbeiter und so weiter. Ich habe mir auch alles reingezogen, was von Annie Ernaux übersetzt wurde, die ganzen Knausgård-Bände, Tagebücher von Erich Mühsam oder Fritz J. Raddatz oder jetzt gerade einen der ausufernden autobiographischen Romane von Peter Kurzeck.

Bei Letzterem mit seiner Detailverliebtheit wird es für mich auch echt schwer verdaulich, trotzdem finde ich die Radikalität des Projekts interessant. Ich glaube, dass das autobiographische Schreiben seinen Reiz niemals verlieren wird. Wenn andere Menschen aus ihrem Leben erzählen, wird es eigentlich immer interessant. Viele Menschen glauben, sie hätten nichts zu erzählen, sie hätten ja eigentlich nichts erlebt, weil sie nie den Kilimandscharo bestiegen haben oder im Dschungel verloren gegangen sind. Aber die kleinen Lebenserfahrungen gibt es trotzdem, die Familien, aus denen man kommt und die Berufe, die die Eltern ausgeübt haben oder die man selbst ausüben musste, die ganzen Kränkungen und die Scham und die Verluste. Diese ganzen beruflichen Tätigkeiten, das ganze vermeintlich Langweilige, finde ich zum Beispiel sehr interessant. Auch deswegen, weil es zumindest in der deutschsprachigen Literatur so wenig vorkommt. Ich glaube, dass das für Menschen, die empathiefähig sind und sich für die Gesellschaft interessieren, in der sie leben, immer interessant bleiben wird: Von anderen Menschen zu erfahren, was sie umtreibt, warum sie denken, wie sie denken, warum sie handeln, wie sie handeln.

»Privatsphäre und Glamour«

Wie ist das denn bei Musiker:innen? Oder bei dieser Inszenierungspraktik rund um Musiker:innen? Authentisch sein? Nicht authentisch sein? Ist das ›sexy‹, wenn Musiker:innen authentisch sind? Oder will man nicht gerade da auch so ein bisschen dieses Unerreichbare, Ungreifbare aufrechterhalten?

Das ist eine gute Frage. Ich finde es erstmal gut, dass ich Nick Cave bei Facebook keine Nachricht schreiben und davon ausgehen kann, dass er sie sofort liest und beantwortet. Das gibt es kaum noch. Durch die sozialen Medien und durch die Art, wie sich Künstlerinnen vermarkten, sind sie immer zum Greifen nah. Vieles von dem, was mich an Pop mal interessiert hat, geht dabei verloren. Dieses ›Hemdsärmelige‹ wird teilweise bis zum Erbrechen überinszeniert. Das ist mir immer sofort suspekt, nicht nur bei Musikern und Schriftstellerinnen, sondern auch bei Radiomoderatoren oder so. Auf einmal erzählen die alle was aus ihrem Privatleben und wie sie heute drauf sind und dass die Sonne scheint und dass sie heute schon joggen waren. Man denkt so: Ja, das wollte ich eigentlich gar nicht wissen. Es geht natürlich darum, dass diese Bindung hergestellt werden muss und alle müssen niedrigschwellig angesprochen werden. Diese Rumkumpelei, diese Dienstleistungsmentalität. Das finde ich eher ›unsexy‹ insgesamt.

Und ich sage das als jemand, der Rockmusiker ist und der mit seiner Band immer total DIY war. Wir haben alles selbst gemacht. Ich habe unsere Touren gebucht, ich habe die Platten rausgebracht. Am Anfang stand sogar meine Telefonnummer hinten auf den Platten. Wir haben in irgendwelchen Jugendzentren und autonomen Zentren und besetzten Häusern gespielt, wo man nachher im Pennraum auf den Matratzen lag. Da war nichts groß mit Privatsphäre und Glamour. Da gab es gar nichts, hinter dem man sich verstecken konnte. Man konnte sich nicht groß verstellen, man konnte auch nicht groß eine Persona aufbauen, die man darstellen wollte. Das wäre ein 24/7 Job gewesen, weil man nie allein war. Eine Persona aufrecht zu erhalten, wäre sehr, sehr anstrengend gewesen. In so einer Szene wird dann aber auch verlangt, dass man immer nur man selbst ist, bescheiden, dankbar und umgänglich. Vielleicht ist es auch dieser Erfahrung und dieser Perspektive geschuldet, dass es für mich einen gewissen Reiz hat, nicht immer nur ich selbst sein zu müssen.

Oder die Rolle sein zu müssen. Der Druck im popmusikalischen Feld seiner Rolle zu entsprechen, die sichtbar zu machen, ist höher als im literarischen Feld. Schriftsteller:innen sind eher mit Texten verbunden als mit einer öffentlichen performativen Dimension, während Popmusiker:innen das immer sein müssen, bei jedem Auftritt.

Bei Touren finde diesen Unterschied wirklich interessant. Das Performative ist für mich wahnsinnig wichtig, auch als Autor. Ich trage meine Texte gern vor. Ich habe auch schon mal ein Buch gemacht, nur um danach wieder auf Tour gehen zu können. Das war Drive By Shots, eine Sammlung von Reisetexten und Fotos. Das Buch ist aus Performances heraus entstanden. Ich finde dieses Unterwegssein interessant, weil ich natürlich lange mit einer Band unterwegs war. Am Anfang waren wir immer nur zu viert, irgendwann waren wir zu fünft, wenn man noch jemanden dabeihatte, der T-Shirts verkaufte, dann war man zu sechst, wenn man seinen eigenen Soundmann hatte, dann war man zu siebt, weil man auch noch jemanden hatte, der das Licht gemacht hat und auf einmal konnte man Leute bezahlen und hatte eine Crew.

Als ich meinen ersten Roman rausgebracht habe, war ich dann plötzlich ganz allein auf Tour, und auch nicht in einem Bus, sondern mit der Deutschen Bahn. Ich musste keinen langen Soundcheck machen, ich hatte viel mehr Zeit für mich und war gleichzeitig auf eine Art ungeschützter. Wenn ich abends dann am Büchertisch stand und Bücher signiert habe, dann hingen die Leute oder Freunde und Bekannte, die man in den unterschiedlichen Städten so hat, alle nur an mir. Ich fand das dann auch oft anstrengend, allein damit umzugehen und mein eigener Tourmanager zu sein, der mit der Veranstalterin spricht und dem Soundmann und der Frau von der Buchhandlung und dem Booker.

Das ist für mich der größte Unterschied zwischen dem Schreiben und dem Musikmachen. Beim Schreiben ist man überwiegend allein und beim Musikmachen eben nicht. Und das auf allen Ebenen: Organisatorisch und auch auf einer künstlerischen Ebene. Musik funktioniert viel intuitiver. Selbst, wenn ich einen Song alleine schreibe und ihn schon zuhause mehr oder weniger fertig im Kopf habe, macht es einen Unterschied, dass da ein Schlagzeuger sitzt und durch den Austausch etwas ganz anderes entstehen kann. Man weiß, dass etwas gut ist, auch wenn man keine Ahnung hat, warum das so ist. Es ist dann auch egal. Diese Momente gibt es beim Schreiben von Romanen nur sehr selten.

Du hattest schon erzählt, dass manche Texte auch musikalisch umgesetzt worden sind. Zu ›Arbeit‹ hast Du eine Before, After & Zwischendurch-Playlist auf Spotify erstellt. Was spielt man denn da, wenn man zu einer Lesung geht? Und warum ist Musik auch bei der Präsentation Deiner literarischen Texte so wichtig?

Eine Lesung ist eine Abendveranstaltung, bei der man Eintritt zahlt, Leute trifft, Spaß hat, vielleicht was trinkt und so weiter. Ich betrachte die Lesung als einen eigenen Wert, unabhängig vom Buch, aus dem gelesen wird. Das ist vielleicht wirklich ein Unterschied zu vielen Schriftsteller-Schriftstellern, für die es nur darum geht, ihr neuestes Werk zu präsentieren. Und die es teils gar nicht mögen, auf einer Bühne zu sein, aber nicht auf das Geld verzichten wollen, Das finde ich furchtbar. Ich habe keine Lust, jemanden auf einer Bühne zu sehen, der da gar nicht sein will. Beim Auftritt einer Band möchte man ja auch nicht einfach nur die neue Platte möglichst perfekt nachgespielt hören, sondern diese Unmittelbarkeit und diese Anfälligkeit für Fehler erleben. Dieses Interpretieren macht es interessant, die Tagesform, das Unvorhergesehene. Es können Sachen schiefgehen. Es wird ja gerade in der Musik alles immer perfekter. Es gibt kaum noch Produktionen, wo nicht der Gesang getuned oder das Schlagzeug geradegerückt ist, auch nicht bei Rockmusik. Eigentlich braucht man gar keine Schlagzeuger mehr im Studio, der Computer wird immer tighter sein, und man kann es sogar so machen, dass es dabei noch richtig menschelt. Und je perfekter alles wird, desto aufregender werden Fehleranfälligkeit und Spontanität. Das ist zumindest das, was mich an Konzerten interessiert oder was etwas in mir auslöst, wenn ich eine Band oder was auch immer anschaue. Und so ist es bei Lesungen auch. Es geht für mich nicht darum, das Buch zu präsentieren. Das Buch kann jeder viel besser zuhause in Ruhe lesen. Bei einer Lesung geht es darum, zu unterhalten, eine Show zu bieten. Im positiven Sinne. Im Deutschen ist das Wort Unterhaltung negativ behaftet. Wir denken dabei alle an ProSieben und ›We love to entertain you.‹ Ich würde den Begriff Unterhaltung positiv besetzen.

Es geht nicht unbedingt um Zerstreuung, es muss nicht immer lustig und voller Schenkelklopfer sein, aber man hat vielleicht ein bisschen über Dramaturgie, Ablauf und so weiter nachgedacht. Und dazu gehört zum Beispiel – um auf die Frage zurückzukommen – die Musik. Ich lese zum Beispiel fast nie in Buchhandlungen. Ich liebe Buchhandlungen, ich kann an kaum einer Buchhandlung vorbeigehen, was es für meine Freunde recht anstrengend macht, mit mir durch die Straßen zu laufen. Ich finde allerdings, dass Buchhandlungen meistens keine guten Orte für Abendveranstaltungen sind. Sie sind zu autoritär. Das Licht, die Innenarchitektur, die Stühle. Oft läuft keine Musik beim Einlass und man kann von Glück reden, wenn es ein lauwarmes Bier zu kaufen gibt. Dann beobachtet man, dass die Leute sich während der Veranstaltung gar nicht trauen, ihre Bierflasche auf den Boden zu stellen, weil das ein Geräusch machen könnte. Weil ein Geräusch zu machen offensichtlich nicht erwünscht ist, denn man ist nur das Publikum und soll den schlauen Menschen auf der Bühne zuhören und ein Buch kaufen und sich wieder verpissen. Warum kann das nicht so funktionieren wie ein Konzert auch, nur ohne Schlagzeug?

In Literaturhäusern ist das auch oft so. Wenn überhaupt Musik läuft, dann ganz leiser Lounge-Jazz. So Fahrstuhlmusik eigentlich. Musik, die nicht stört. Da wird mir sofort ganz beklemmend zumute, weil ich selbst nicht aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt komme. Ich denke direkt: Das ist hier nicht für mich. Ich bin hier nicht willkommen. Das ist nicht meine Idee von Kunst und Kultur. Wenn ich hingegen reinkomme und es läuft etwas Schmissiges und ich sehe da hinten sitzt Lieselotte und ich traue mich zu sagen ›Hey!‹ und ›Ich geh‹ zur Bar, möchtest Du auch was?‹ und wir können noch reden, weil es sowieso erst in einer halben Stunde losgeht … – So möchte ich, dass meine Kunst vermittelt wird. Weil es mich auch nur so angesprochen hat als ich dreizehn, vierzehn Jahre alt war. Ich wusste von der Existenz von Theatern, aber da sind die anderen Leute hingegangen. Da sind wir nicht hingegangen. Das ist auf jeden Fall ein Klassending. Und das verstehen viele Menschen aus gutsituierten Bildungsbürgerfamilien nicht. Wie sehr sie ihr kulturelles Kapital einsetzen, um andere auszugrenzen und sich über den Pöbel und die Prolls zu erheben. Und wie sehr sie sich in dieser Rolle klammheimlich auch noch gefallen. Widerlich.

In meiner Arbeit-Playlist sind einfach Sachen, die ich zur Zeit meiner Lesetour selbst gern gehört habe. Ich mache meist eine Pause in der Mitte des Auftritts, das ist gut für die Dynamik des Abends. In der zweiten Hälfte herrscht oft nochmal eine ganz andere Energie im Raum als in der ersten Hälfte. Die Leute sind anders drauf. Ich selbst bin anders drauf. Und in der Pause höre ich Backstage gern ein bisschen Musik. Darüber hinaus gibt es vielleicht einen Erziehungsauftrag. Das Wort Erziehungsauftrag benutze ich jetzt ironisch. Ich meine damit, dass man noch auf anderem Wege auf neue Sachen gebracht und inspiriert werden kann als immer nur durch Algorithmen. Es ist toll, bei einer Veranstaltung zu sein, bei der man sich fragt: ›Was läuft da? Das ist gut, das kenne ich gar nicht.‹ Es gibt ein paar Klassiker in dieser Playlist, Shugie Otis, Roxy Music, die Pretenders, Kate Bush, aber auch unbekanntere Sachen. Dann kommt später beim Bücher Signieren vielleicht jemand an und sagt: ›Hey was lief denn da vorhin?‹ und muss den Song vorsingen oder so. Das führt zu guten Situationen und diese Situationen gefallen mir einfach sehr.

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