Reality-TV als Gegenmittel
von Robin Curtis
9.8.2021

Verwundbarkeit, Höflichkeit und Solidarität bei »Queer Eye« und »The Great British Bake Off«

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 99-102]

Während der ersten Debatte der U.S.-amerikanischen Demokraten im August 2019 verwies der noch unbekannte Kandidat Andrew Yang auf die zentrale Rolle des Reality-TV in der heutigen U.S.-amerikanischen Politik: »Weʼre up here with makeup on our faces and our rehearsed attack lines, playing roles in this reality TV show«, sagte Yang. Er fuhr fort: »Itʼs one reason why we elected a reality TV star as our president. We need to be laser-focused on solving the real challenges of today«. 

Was wird hier moniert? Geht es um die zunehmende Verwischung der Grenze zwischen Fiktionalität und Faktualität, d.h. zwischen »The Real World« (MTV, 1992-2017) – sprich: Fiktionalität oder wenigstens ›scripted reality‹ – und dem, was z.B. die Kommunikationswissenschaftlerinnen Karyn Riddle und J.J. De Simone in ihrer Forschung als »the ›Real‹ Real World« (sprich: Faktualität) bezeichnen? Oder geht es nicht vielmehr um die Qualität der Performanz (z.B. der Demokraten) auf einer öffentlichen Bühne, die durch das Format Reality-TV grundlegend verändert wurde? Was sind dann genau »the real challenges of today«? In »Understanding Celebrity« gab Graeme Turner bereits 2004 eine mögliche Antwort: Die Jetztzeit sei von der wachsenden Bedeutung der Kamera als Mittel zur Konstituierung und Validierung der Alltagswirklichkeit geprägt, was eine grundsätzliche Trennung von mediatisierter und nicht mediatisierter Erfahrung immer weniger zulasse. Kann die Aufforderung Michelle Obamas, »when they go low, we go high«, die vor einer Angleichung in punkto schlechten Benehmens warnen wollte, darum 2019 überhaupt noch einen Platz im öffentlichen Raum finden?

Blickt man auf ihre nun dreißigjährige Geschichte zurück, scheinen Spannung, Streit, Aggression und allgemeines, öffentliches Fehlverhalten Wesensmerkmale von Reality-TV-Sendungen zu sein; auf diese Verschiebungen in den Regeln des öffentlichen Verhaltens wies Yang ebenfalls hin. Der amerikanische »screenwriting guru« Syd Field, der zur anfänglichen Blütezeit des Reality-TV in den 1990er Jahren eine besonders präsente Stimme im Filmgeschäft war, betonte stets die essenzielle Rolle des Konflikts für das Drehbuch: »All drama is conflict. Without conflict there is no action; without action there is no character; without character there is no story. And without story there is no screenplay.« Doch welche Konsequenzen hat diese Perspektive auf die zentrale Rolle von Konflikt bei der professionellen Strukturierung narrativer Form bisher gehabt – etwa bei der Anwendung jener Prinzipien bei der Strukturierung einer ›scripted reality‹-Sendung –, wenn es zugleich darum gehen sollte, »the real problems of today« im Fernsehformat Reality-TV zu reflektieren? 

Neuere Forschung zu Reality-TV mit Titeln wie »A Snooki Effect? An Exploration of the Surveillance Subgenre of Reality TV and Viewers’ Beliefs about the ›Real‹ Real World« oder »Is Reality TV a ›Bad Girls Club‹? Television Use, Docusoap Reality Television Viewing, and the Cultivation of the Approval of Aggression« wendet die ›Cultivation Theory‹ (wieder) an; sie besagt, dass das Fernsehen kumulativ die Art und Weise, wie man die Welt betrachtet, beeinflusst. Die Annahme ist schlicht diese: Je mehr Lebenszeit man beim Fernsehen verbringt, umso mehr glaubt man eine Kongruenz zwischen dem Alltag und dem zu erkennen, was im Fernsehen zu sehen ist. Untersucht wird ebenfalls der zunehmende Einfluss des sog. ›mean world syndrome‹: die durch diese Erfahrung geförderte Annahme, dass die Welt gefährlich und unheimlich sei. Dementsprechend wird in beiden hier erwähnten Studien insbesondere anhand der ›Cultivation Theory‹ die wachsende Akzeptanz aggressiven Sprechens und Agierens im Alltag etwa von jungen Frauen, die viel Reality-TV schauen, festgestellt. 

In jüngerer Zeit muss aber beim Reality-TV eine Gegenbewegung festgestellt werden, die im ›binge watching‹ von Serien wie »Queer Eye« (Netflix 2018-2019) und »The Great British Bake Off« (BBC 2010-2016, Channel 4 2017-2018) mündet: zwei Sendungen, die sich offenbar etwas vorgenommen haben, das im Gegensatz zu der Konfliktorientierung der Prinzipien Syd Fields steht. Beide stellen ›good behaviour‹ unterschiedlich zur Schau und bieten somit eine alternative Perspektive von ›Cultivation Theory‹ an, die in einer positiven Sicht auf menschliche Interaktion resultiert.

Beide Serien lassen sich als generische Mischformen bezeichnen, keine Seltenheit in der Reality-TV-Landschaft der Jetztzeit, die von Misha Kavka als »generic haziness« bezeichnet wird. Dementsprechend plädiert Kavka für eine genealogische Perspektive auf Reality-TV, auf stetige Prozesse der Verschmelzung der vermeintlichen ›ursprünglichen‹ acht einzelnen Reality-TV-Genres (diese wurden von Murray und Ouellette 2009 als »gamedocs«, »dating programs«, »makeover programs«, »docusoaps«, »talent contests«, »court programs«, »reality sitcoms« sowie die »celebrity«Versionen dieser Genres klassifiziert). 

Auch wenn »Queer Eye« sich demnach als ›makeover‹-Sendung bezeichnen ließe, geht es bei ihr weniger um eine Neugestaltung der Äußerlichkeiten einer Person, deren Ist-Zustand von der Öffentlichkeit selbstverständlich – so normalerweise die Annahme – zu verurteilen wäre, als um die Reaktivierung der sozialen Bindungen der Hauptfigur und die grundsätzliche Entstehung einer Situation, die Offenheit und Verwundbarkeit bei allen Beteiligten zulässt. Eine Person (sehr häufig ein etwas verwahrloster Mann) wird von einer befreundeten Person oder einem Familienmitglied als Kandidat*in vorgeschlagen und dann von den fünf Experten der Sendung über eine Woche lang besucht. 

Natürlich wird hier konsumiert (Möbel und neue Kleidung werden vom Sender für die Person eingekauft, wobei insbesondere bei der neuen Kleidung die Angewohnheiten der Person und die Lebenssituation berücksichtig und respektiert werden), Konsum spielt dennoch insgesamt eine untergeordnete Rolle: Hauptattraktion der Sendung ist, wie die Kulturkritikerin Laurie Penny es formuliert hat: »people on this show are extremely sweet to one another«, eine Seltenheit nicht nur beim Reality-TV, sondern auch in der heutigen Öffentlichkeit grundsätzlich. Es geht nicht um Wettbewerb – eine Fortsetzung des neoliberalen Wettkampfes im Alltag –, sondern um Kooperation, Offenheit und die Pflege sozialer Bindungen. Queerness wird hier als Gegenmittel zur Krise der Männlichkeit in den USA vorgeschlagen, die sich im Spätkapitalismus als ›toxic masculinity‹ äußert. Laut Penny: »There are no winners on Queer Eye – just better losers«. Diese Bemerkung hebt das Außerordentliche an dieser Sendung hervor: dass es darum geht, statt ›sore losers‹ ›good losers‹ zu pflegen, die miteinander über ihre Schwächen und Ängste sprechen und somit auch, wie Penny es formuliert, »to fail with grace and dignity«. 

»The Great British Bake Off« kann in etwa zum Genre der ›gamedocs‹ gezählt werden, in denen es darum geht, möglichst gut eine vorgegebene Aufgabe zu lösen. In diesem Fall handelt es sich um eine ausgeprägte britische Backkultur mit einer Vielfalt an Backtraditionen, die allgemein vertraut sind (etwa ›Victoria Sponge‹, ›Battenberg Cake‹, ›Pavlova‹, ›Tea Cakes‹ usw.).

Aufgefordert werden die (inzwischen) zwölf Teilnehmenden, in jeder Folge drei Aufgaben zu lösen; während zwei davon ihnen vorher bekannt sind (und das Üben zu Hause ermöglichen), wird eine Aufgabe erst am Tag der Aufzeichnung bekannt gegeben. Es gibt Gewinner und Verlierer: Jede Woche scheidet eine Person aus, jede Woche wird eine Person als ›Star Baker‹ ausgezeichnet. Zunächst scheint sich die Sendung also wenig von anderen Gameshows im Fernsehen zu unterscheiden, darum klingt das nicht wie ein Erfolgsrezept. Bei der letzten Staffel im Herbst 2018 jedoch schauten 6,5 Millionen Zuschauer (30,4 %) in Großbritannien zu, was für den Sender Channel 4 als Erfolg galt (obwohl bei der BBC durchschnittlich noch 10 Millionen die Sendung angeschaut hatten).

Es ist schon häufiger bemerkt worden, dass »The Great British Bake Off« eine Zurschaustellung traditionell britischer Tugenden ist (die sonst zurzeit im Lande nur selten zu beobachten sind): ›humility‹, ›good sportsmanship‹, ›cooperation‹. Besonders bemerkenswert ist an der Sendung die Solidarität der Teilnehmenden. Wenn ein Kuchen oder eine Torte vom Kampfrichter Paul Hollywood gelobt wird, hört man Rufe wie »well done!« oder »well done you!« von den anderen Teilnehmenden, die durch kurze ›cutaways‹ zu der kommentierenden Person auch entsprechend markiert werden, um diese ›good sportsmanship‹ hervorzuheben. Niederlagen werden von den Betroffenen fast ausschließlich als selbstverschuldet betrachtet; Frustration oder Aggression richtet sich nie gegen andere. Eine Ausnahme stellte das sog. ›Bingate‹ in der fünften Staffel der Serie dar, als es darum ging, an einem sehr heißen Tag ein Baked Alaska vorzubereiten: Teilnehmer Iain Watters’ Eis schmolz, aus Frustration warf er sein ganzes Baked Alaska einfach weg (›he binned it‹) und konnte den Kampfrichter*innen darum nichts präsentieren. Dies war unerhört: Es zeigte ›poor form‹, weil Watters Wut zur Schau stellte und zudem einer anderen Teilnehmerin die Schuld für das geschmolzene Eis gab. Er schied erwartungsgemäß aus – ein deutlicher Beleg der Spielregel, die Demut und Selbstkritik, aber nicht Wut akzeptiert.

Das oberste Gebot in beiden Sendungen ist, dass man höchstens über sich selbst verärgert sein und Wut und Ärger oder Enttäuschung über andere nicht empfinden, zumindest aber nicht preisgeben darf. Vielmehr herrscht ein Geist von Kooperation und gegenseitigem Wohlwollen. Kann man durch die Rezeption jener Sendungen und eine positive Form der ›Cultivation Theory‹ eine andere Alltagswirklichkeit konstituieren und validieren als diejenige, die man etwa aus den Nachrichten kennt? Beide Sendungen postulieren, dass die Art der individuellen Performanz durchaus auch als Hinweis auf die Bedeutung der Umgangsformen für eine mögliche gesamtgesellschaftliche Utopie eines verständigen und unterstützenden Miteinanders dienen kann. 

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