Bühnenhaftigkeit medialer Existenz
»Popular culture no longer applies to me« (Art Brut 2005: Track 10). So sangen Art Brut, genauer: ihr Sänger Eddie Argos in ihrem Song Bad Weekend, aus dem Jahr 2005. Obwohl jedes Popprodukt einen solchen Zeitstempel aufgeprägt trägt, so führt dieser Satz doch die Pop-Geste schlechthin vor: Die Geste eines grandiosen Verwerfens und Schöpfens in einem. Verachtung und Selbsterhöhung: eine Unterscheidung wird gefällt. Pop prozessiert in Distinktionen. Ich bin deeper als Du. Ich bin mehr Indie als Du. Ich bin weniger kredibil als Du. Anno 2012 etwa reinszeniert in Kraftklubs Eure Mädchen.
Kraftklub: Eure Mädchen (2012)
Historisch lässt diese große Geste sich zurückverfolgen zur Habitusform der Dekadenz und des Dandys: die Geste eines verwöhnten, in Genuss schwelgenden Heranwachsenden. Ganz da in seinem (viel seltener: ihrem) eigenen Begehren. Beharren auf Narzissmen und Idiosynkrasien – ganz entgegen vermeintlich zwingender Forderungen eines »erwachsenen« oder »richtigen« Lebens. Der Ernst des Lebens wie die deutschen Ideal ihr zweites Album aus dem Jahr 1981 tauften. Ein Album, das das erste war, das bei einer größeren Plattenfirma erschien. Ideal erschienen nicht mehr bei Innovative Communications / Deutsche Austrophon des Elektronikers Klaus Schulze; sondern nun bei WEA – Warner-Elektra-Atlantic, einem der vier sprichwörtlich großen Plattenverlage, den sogenannten ›Majors‹: ein Wort wie aus einer längst vergangenen Antike. Die Person auf Ideals Plattenhülle zeigt den Ernst des Lebens: Während der kopflose Anzugträger auf ihrem Debutalbum 1980 sich in vorauseilender Begeisterung noch seine Krawatte bindet – springt er auf dem zweiten Album ganz leistungsbereit, unternehmungslustig, in karrieristischer Nicht-Verschlurftheit, Nicht-Hippietum, naturbekokst und in need for speed über die Hürde: elegant im Schersprung ohne die Latte zu reißen. Die Aktentasche ruhig bei Fuß.
Diese Person – obwohl kein vordergründig erkennbares Mitglied von Ideal – ist charakteristisch für den Umgang des Pop mit Abbildungen seiner Protagonisten: ein stilisierter, globalisierter Personenkult, der in den letzten Jahren anhand von Begriffen wie ›Starsystem‹, ›Celebrity‹ oder ›Prominenz‹ diskutiert wurde an Beispielen der Filmindustrie, der Yellow Press und Netz- sowie TV-Formaten (vgl. etwa Decker 2005). Dieser Beitrag unternimmt dagegen den Versuch, dieser Vielfalt detailfreudiger Kasuistiken – die sich mal kulturkritisch und -pessimistisch, mal campy und weird geben – ein dispositivtheoretisches Modell vorzuschlagen: ein begriffliches und analytisches Instrumentarium, das den spezifischen Formen der Performanz, der Narration und des Mediengebrauches, die die Popkultur prägen, angemessen sein soll (vgl. hierzu auch: Klein/Martínez 2003). Mein Artikel hat drei Teile: im ersten Teil erkunde ich zwei spezielle Dispositive des Pop: die mediale Bühne und die mediale Erzählung; dieses mediale Erzählen des Pop wird im zweiten Teil näher bestimmt: anhand exemplarischer Elemente dieses Erzählens wird die mediale Persona im Pop als emergentes, drittes Dispositiv entwickelt; zum Abschluss möchte eine beispielhafte Dispositiv-Analyse vorlegen – anhand zweier Videoclips, von Johnny Cash und von den Gorillaz.
Dispositive des Pop
(1) Die mediale Bühne: Eminente Performanz
In einer Popkultur zu leben heißt, auf medialen Bühnen sich darzustellen. Die mediale Bühne (vgl. Schulze 2012, 2013) als solche ist das erste Dispositiv, das den Pop prägt. Den Begriff des Dispositivs gebrauche ich in seiner Ausdeutung durch Rolf Großmann (Großmann 2008), der den musikwissenschaftlich gebräuchlichen Begriff der Aufführungspraxis kritisierte, er sei zu stark auf menschliche Akteure verengt und anthropozentrisch ontologisierend. Als Alternative schlug er vor, den theoriehistorisch breiter verankerten, subtileren und versatileren Begriff des Dispositivs zu nutzen. Großmann beruft sich auf die klassisch-filmwissenschaftliche Definition von Jean-Louis Baudry (Baudry 1970, 1975). Baudry hatte das Dispositiv ganz auf die Apparatur des Kinofilmes und seiner Projektion, Produktion und Perzeption durch ein Subjekt zugeschnitten; mit dem Ziel, die »effets idéologiques«, die ideologischen Effekte, die in dieser Apparatur liegen, zu untersuchen. Weitergedacht wurde das Dispositiv der Apparate in Michel Foucaults Reformulierungen (Foucault 1977/2003) als Machtstruktur in den Dingen; und schließlich in Giorgio Agambens Deutungen (Agamben 2006) im Sinne von affordances, Angebotscharakteren (Gibson 1977, 1979). An diese Begriffsgeschichte schließe ich an, wenn ich Großmanns Materialität der medial-apparativen Aufführung weiterdenke in die Vielfalt medialer Darstellungsformen der Gegenwart.
Jede mediale Bühne ist dann ein solch ein Dispositiv der Aufführung des Pop: Facebook-pages, Talkshows, twitter-accounts, Musikvideos, acceptance speeches oder Moderationen bei Preisverleihungen. An diesen Orten ereignet sich Pop auf eminente Weise: auf Bühnen mit spezifischen Aufführungssituationen aktualisiert sich das Arsenal von Handlungen, Figuren, Situationen und Artefakten des Pop in seiner spezifischen Performanz. Die mediale Bühne des Pop kann vieles sein: die stage eines Club- oder Open Air-Konzerts, der Dancefloor eines House-Clubs oder Open Air Raves; Bühne werden auch gleichermaßen prominente wie verhasste und unaufhörlich genutzte Straßen, Vorplätze, Flohmärkte oder ganze Stadtteile pop-notorischer Städte; und natürlich sind alle aktuell weit ausstrahlenden Sendeformate als Bühnen des Pop anzusehen: ob radiophon, televisionär, schriftmagazinisch, datenbankbasiert oder in heute noch undenkbaren Formaten.
Mit dem Begriff des Dispositivs einer medialen Bühne kann eine etwas naive Kultur- und Medienkritik an jedweder Performanz in der Popkultur zurückgelassen werden – bei Liebhabern des Kulturpessimismus. In einer Popkultur zu leben bedeutet, die Bühnenhaftigkeit medialer Existenz nicht nur notgedrungen sich einzugestehen – sondern sie als grundlegend, lustvoll, ja erkenntnis- und glücksbringend anzunehmen und aufzusuchen: Performanz ist die eminente kulturelle Form des Pop. Zu beobachten etwa bei einem Auftritt der Sängerin Karin Dreijer Andersson alias Fever Ray bei ihrem Auftritt 2010, um den Preis Dance Artist, Årets Dans im schwedischen Göteborg entgegenzunehmen:
Karin Dreijer Andersson, Acceptance Speech – P3 Guld Award Show Göteborg/Schweden (15. Januar 2010)
Gekleidet in eine stilvolle rote Gaze-Burka der Haute Couture kommt eine Elephant Man-artige, hautfarbene Maske als deformiertes, zerstörtes Gesicht zum Vorschein: als Dankesrede erlaubt sie nur ein hilfloses Keuchen, Ächzen und Stöhnen, moribund und leidend. Die kulturhistorisch topisch beklagte Verlogenheit oder Falschheit öffentlicher Selbstdarstellung auf Theater-, Film- oder Netzbühnen, all die Posen und Affektiertheiten, die lustvoll genossenen Selbstwidersprüche werden vor dem Hintergrund eines Dispositivbegriffs der medialen Bühne deutlich erkennbar als Aufführungen genau für diese Bühnen. Alle Kulturkritik daran, mindestens so alt wie das antike Theater, alle Kritik an mangelnder Authentizität muss schlichtweg als ein Kategorienfehler angesehen werden. Die eminente Performanz als solche wird verkannt.
Denn die Popkultur liebt diese medialen Bühnen: potenziell jede Person, die sich performativ als herausragend zeigt, kann hier zur beeindruckenden Persona, zur Protagonistin werden: Sängerinnen und Politiker, Sportlerinnen oder Tänzer; Straftäterinnen und Journalisten, Unternehmerinnen und Autoren, Wissenschaftlerinnen und Künstler, Schauspieler oder Regisseurinnen, Programmiererinnen und Küchenchefs. Dabei zeigen diese Protagonistinnen sowohl ihre Liebe zu wie auch ihren Hass auf die Bühnen des Pop: Jede Hymne auf die Bühnenexistenz kann bald schon gefolgt werden von ihrer symbolhaften Schmähung und Verweigerung. Wer mediale Bühnen so sehr liebt, der genießt darin sich selbst als eine Persona seiner selbst: als stilisierte Figur oder Maske – die in jedem Akt des Handelns und der Sprache nur von sich selbst erzählt.
(2) Die mediale Erzählung: Exaltierte Abgrenzung
Auf medialer Bühne zeichnet sich die mediale Persona des Pop vor allem durch ihre spielerische Freude an Selbstüber- und -untertreibung aus: durch lustvollen Exhibitionismus und Selbstbestätigung im Widerhall durch Viele. Splatterhaft-kreischende Pornographie ist hier ebenso Stilmittel wie die beinerne Askese der Weltverachtung: beides sind lediglich Erzählformen, die eine mediale Persona sich wählt. Die Stimme solcher Protagonistinnen schallt durch diese »per-son«, die Maske, hindurch und zeigt sich. Denn der performative Stolz einer Pop-Persona besteht nicht darin, nur eine einzige Person darzustellen; sondern einen ganzen Schwarm von Masken und Rollen, Habitusformen und Stilebenen intensiv zu leben und auszufüllen: jede einzelne Persona in aller Dramatik, ja Melodramatik, bis hin zu queerer Überspanntheit und in vollem drag auszuspielen. Dieser Reichtum an Lebens- und Darstellungsmöglichkeiten, aus erzählerischer und performativer Fülle, der eine Pop-Persona ausmacht, er begründet die exaltierte Abgrenzung, die sich daraus ergibt. Oder wie Rainald Goetz anno 2007 in seinem Weblog zu jener Zeit schrieb: »Keine schönere Art von Zustimmung zur eigenen Bemühung und den Resultaten gibt es, als die Ablehnung durch die, die man selber für totale Deppen hält.« (Goetz 2007: 3. April)
Hierin zeigt sich das Gemeinsame von drei Figuren, die gerne in Überschneidung betrachtet werden: dem Dandy, der Diva und dem (Pop-)Star (vgl. etwa Hawkins 2009, Bronfen & Straumann 2002, Dyer 1980/1998) – zwischen David Bowie, Jim Morrison, Diamanda Galas, Brian Eno, Boy George, Björk, Billy Corgan, Antony Hegarty, Emily Haines, Karen O. Dandy, Diva und Star, Diese drei charakteristischen und herausragend stolzen medialen Personae betonen jeweils unterschiedlich ihre eigene, exaltierte Abgrenzung von zeitgenössisch geltenden Normalismen (Link 1997).
Deutlich zeigt sich das poptypische Oszillieren zwischen Dandy- und Diventum wohl an den folgenden Song- und Albumtiteln eines britisch-irischen Sängers: Irish Blood, English Heart. You are the quarry! You have killed me. I have forgiven Jesus. First of the Gang to die. The Youngest was the Most Loved. Die Pop-Persona Morrissey lebt in ihren Songs und Auftritten und Videos besonders deutlich durch und aus der Fülle ihrer Masken: ihrer luxurierenden Empfindungen und Gedanken. Gerade weil sie darin vor allem ihre eigene Niederlage, Selbstaufgabe, die Minderwertigkeit und gesellschaftliche Nutzlosigkeit unaufhörlich betont. Exaltierte Abgrenzung von der Norm euphorischer Selbsterhöhung kann somit in Selbsterniedrigung am besten erfolgen. Durch Kapitulation: »Das schönste Wort in deutscher Sprache«, wie Tocotronic oder ihr Sänger Dirk von Lowtzow, einst kundtaten.
Die folgenden Zeilen wurden denn auch – in besonders exaltierter Abgrenzung – nicht gesungen sondern gesprochen, auf der B-Seite einer Single mit dem Titel Sag alles ab: »Viel mehr als das ordinäre Scheitern ist die Kapitulation vor allem dies: Ein Zerfall. Ein Fall. Eine Befreiung. Eine Pracht. Eine Hingabe. Die endgültige Unterwerfung. Die größte aller Niederlagen. Und gleichzeitig unser größter Triumph.« (Tocotronic 2007a: Seite B) Es ist diese Erzählung von exaltierter Abgrenzung, von arroganter Freude am Abgelehntwerden (von jenen, die wiederum selbst höchst ablehnungswürdig sind), die die Protagonisten solcher Erzählungen auch zu Heroen und Heroinen der Genderverschiebung gemacht hat.
Denn wer eine Vielfalt an überspannten Personae in sich zu vereinen versucht – wie etwa Brian Joseph Burton alias DJ Dangermouse oder Richard D. James alias Aphex Twin – der oder die missachtet aktuell geltende Kategoriengrenzen: Epochen und Kontinente, Schichten und Rassen, Geschlechter und Charaktere – das alles will mit Chuzpe, mit Aplomb und Verve zusammengeworfen sein.
Von Südenfed alias Mouse on Mars & Mark E. Smith: Fledermaus Can’t get It (2007)
Der Dandy verbindet dies in seiner Performance: Momente dekadenten (Selbst-)Genusses mit dezidierter, teils asketischer Entsagung des vulgären Konsums seiner Zeit; die Diva dagegen scheint eben diese Entsagung sogar hochmütig zum Kern ihrer elitären Überlegenheit hochzustilisieren. Die Raumverdrängung einer Diva auf medialen Bühnen ist dabei eindeutig größer als die eines Dandys. Popstars schließlich mischen diese Verhaltensweisen und entwickeln eine Persona sui generis. Eine solche Pop-Persona aus sich zu machen ist nichts anderes als eine Omnipotenzphantasie aufzuführen: lustvoll gewählt im Bewusstsein, sich selbst niemals verlieren zu können – sondern immer und ausschließlich nur sich selbst begegnen zu können; den eigenen Neigungen und Idiosynkrasien. Eine Pop-Persona, die idealerweise schon zu Lebzeiten zur Ikone wird – als perfekte Projektionsfläche und Personalitätstraining der Adoleszenz: James Dean, Marilyn Monroe, Elvis, Michael Jackson, Madonna, Kurt Cobain, Lady Gaga. Ego in Kategoriendrift. Noch in größten Selbstwidersprüchen ist eine Pop-Persona stets sie selbst.
Popstars müssen also weder Diva noch Dandy werden – die Neigung hierzu besteht aber. Denn die Intensität und Intimität dieses exaltierten Selbstverständnisses braucht ein Medium: das größtmögliche Medium des Pop – auf größtmöglicher Bühne. Der große Auftritt. Was aber erzählt die exaltierte Abgrenzung genau? Erzählt sie nur, wie Morrissey etwa: »There is no such – thing in life as normal!« (Morrissey 2006: Track 4)
Die mediale Erzählung des Pop
(1) Elemente medialen Erzählens: Aboutness jenseits der Sprache
Eine mediale Erzählung ist keine verbale Erzählung. Sie bedient sich einer potenziell immer neu erweiterbaren Vielfalt von Objekten, Artikulationsformen und Artefakten. Diese Vielfalt an Gegenständen und Materialitäten, durch die erzählt wird, sie wird verbunden durch ihre aboutness (Danto 1981): sie werden sowohl als affizierende, begeisternde, auch fetischisierbare Materialitäten präsentiert – und zugleich nimmt diese Präsentation eine besondere Bedeutung an im Kontinuum zeitgleicher oder historischer Artikulationsformen des Pop.
Auf einer medialen Bühne des Pop propagiert jede einzelne Artikulation (in Dingen oder Worten oder Handlungen) das größtmögliche Narrativ – je dezidierter und alternativloser umso wirkmächtiger. Sprache ist im Rahmen medialer Erzählungen also kein Hauptträger der Narration – eher im Gegenteil. Die Lyrics von Popsongs entstehen vielmehr heteronom in Abhängigkeit zur grundlegenden Musik, einer Performance und medialen Bühne.
Frank Zappa etwa, der Vorsokratiker unter den Popkomponisten, konnte Lyrics schreiben, die im Kern nichts anderes waren als dienstbare Klänge, mit denen ein Mund durch Sprechgesang einen Song begleiten kann: trotz aller nonkonformistischen Semantik, inklusive misandrischer und misogyner Untertöne (Zappa 1990). Worte im Pop erfüllen – wie in diesem Beispiel – eine begleitende Funktion. Sie entstehen oft nachgeordnet und eingeflochten, ganz zuletzt im Prozess der Genese eines Songs. Neben Instrumentation, Songtitel, Plattencover, Bühnenkostüm oder auch Makeup, entstehen auch sie im Wechselschritt mit allem anderen.
Das meiste an solcher Pop-Performance erzählt wortlos: die Kleidung auf der Bühne; die Gestaltung von Plattenhüllen durch Hausgraphiker; die Songtitel in den Playlists. Sie alle erzählen weniger durch Semantik als durch stilistische Wahl, durch poetische Funktion. Was erzählt zum Beispiel diese Serie aus sechs Albumtiteln und Plattenhüllen: Ich-Maschine (1992), L’état et moi (1994), Old Nobody (1999), Testament der Angst (2001), Jenseits von Jedem (2003), Verbotene Früchte (2006).
Diese Serie ist eine Erzählung: eine Erzählung von Individuation und Reifung, fast ein Bildungsroman, über vierzehn Jahre hinweg. Der Bezug auf einen titelgebenden Sonderling in einer Kafka-Erzählung bleibt zwar unerwähnt, jedoch spürbar. Nicht nur Pop-Produkte allein aber erzählen – sondern jeder einzelne (Nicht-)Auftritt erzählt medial, durch Dinge: jedes Paparazzi-Foto, jedes Gerücht, jede Homestory und jeder Blogeintrag, jeder Tweet oder Facebook-Status wird zum Bestandteil der medialen Erzählung einer Pop-Persona. Solches Konzept des Erzählens hat mit auktorialen Erzählformen des 19. Jahrhunderts wenig gemein. Das Handeln erzählt hier in allen Kontexten und Situationen, auf allen denkbaren kleineren oder größeren medialen Bühnen.
Die Erzählung einer Pop-Persona erzählt also durch all diese medialen Manifestationen ihrer Existenz. Sie erzählen – in einem nicht-trivialen, nicht-linearen Sinne – wie erwähnt durch Kleidung, visuelle Gestaltung, Versprecher oder Wutausbrüche, Talkshowauftritte und vorübergehende romantische Partner, die Wahl eines Songtitels, auch durch den gewählten Regisseur eines Musikvideos und durch die Plattform, auf der dieses Musikvideo zuerst gezeigt wird. Die Autorschaft medialer Erzählungen ist somit noch weiter und noch weitaus unbeherrschbarer verteilt als in allen anderen und vertrauten Formen kollaborativer Autorschaft in Teams und Agenturen. Die Persona im Zentrum fungiert hier bestenfalls noch als künstlerische Leiterin ihrer selbst – manchmal aber auch nur noch als ein dankbarer, publikumstauglicher Erzählanlass für neue Produktionen und Projekte.
https://www.youtube.com/watch?v=8lzAzzcFlWg
Nina Hagen in der Talkshow Club 2 des ORF 2, 9. August 1979
(2) Die mediale Pop-Persona: Apodiktische Existenzrahmung
Mediale Personae singen und erzählen also von sich selbst: in medialen Erzählungen jenseits oder doch am Rande der Schriftkultur. Sie bespielen das Dispositiv der medialen Bühne – als Teil dieses medialen Dispositivs. Oder wie der Autor Thomas Palzer einmal sagte, in seinem Hörstück Journal intime, LP: »Es fing an, glaub’ ich, weil ich dachte, irgendwann Mal beim Abhören, irgendwie beim Hören von Hörspielen, dass ich dachte: die Leute wollen eigentlich lieber – Musik machen; sie machen es über den Umweg der ganzen abendländischen Geistesgeschichte: Warum machen sie nicht gleich Musik?« (Palzer 1996)
Was erzählt also diese Musik im engeren Sinne? Was erzählen Popsongs als mediale Erzählungen über das Dispositiv einer Persona? Ich werde im Folgenden weder versuchen noch behaupten, das Sprechen über Popsongs ganz neu erfinden zu wollen. Aber ich möchte auf ein höchst charakteristisches und vielleicht maßgebliches Sprechen hinweisen, das Pop-Personae als Dispositive offenbaren: das Sprechen über das eigene Leben, die eigene Performanz, das Leben auf den Bühnen des Pop. Anhand von drei Beispielen aus dem historischen ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
Mike Skinner etwa, britischer Rapper und Produzent und alle Mitglieder von The Streets, performte seine exaltierte Abgrenzung in jenem Jahrzehnt wie folgt, textlich: »The thing that’s got it all fucked up now is camera-phones. How the hell am I supposed to be able to do a line in front of complete strangers, when I know they’ve all got cameras?« (The Streets 2006: Track 7) Mike Skinner erzählt sich als Drogenkonsument; strukturell verkokst wie üblich im medial-publizistischen Komplex der Agenturen und Produktionsteams: Handykameras, diese neue Errungenschaft der 2000er Jahre, sind hierfür (vor allem in Verbindung mit sozialen Netzwerken) eine bedrohliche und die koksende Persona verunsichernde Tatsache. Wie verändern diese Handybilder meine mediale Erzählung?
Eine ganz andere Geschichte von sich selbst erzählte Damon Albarn in jenen Jahren; der Sänger von Blur, zu Zeiten der Bush-Blair’schen Irak/Afghanistankriege in einer seiner vorübergehenden Bands, The Good, The Bad And The Queen singt lieber von einer: »Friday night in the Kingdom of Doom. Ravens fly across the room. All in now there’s a noise in the sky following all the rules and not asking why. Drink all day ‘cos the country’s at war; you’ll be falling on the palace floor. I can’t be anymore than I see in the flood get washed away.« (The Good, The Bad And The Queen 2007: Track 4) Er erzählt vom Kriegszustand, vom Trinken und dem fraglosen Regeln befolgen; und von einer Flut. Im Hintergrund dieser Erzählung hören wir noch die Jubelrufe von Cool Britannia!, ein Slogan, mit dem es New Labour unter Blair sogar fast gelungen war, sowohl Blur als auch Oasis als seine Unterstützer zu gewinnen: in der Rückschau ein absurdes Theater neoliberal-esoterischen Wahns der 1990er Jahre.
Die letzte kleine Erzählung stammt von James Murphy vom New Yorker LCD Soundsystem jener Jahre, der singt und spricht: »I don’t know, I don’t know, oh, where to begin when we’re North American. But in the end we make the same mistakes all over again. Come on North Americans: We are north american scum! We’re from North America!« (LCD Soundsystem 2007: Track 3) Gleichfalls – wie Albarns Erzählung – geprägt vom Ansehensverlust der Bushjahre und eines War against Terror, der nach wie vor unsere Gegenwart als Geisel der Sicherheitskontrollen, Überwachungskameras und Vorratsdatenspeicherung hält.
Eine ganz poptypische Pose der Selbsterniedrigung und des Dennoch, eben der exaltierten Abgrenzung: Natürlich bin ich, sind wir nichts anderes als nordamerikanischer Abschaum; und wir sind auch noch stolz darauf, bauem immer wieder den gleichen Scheiß! Diese drei Auszüge aus Lyrics der 2000er Jahre erzählen – jenseits der wortwörtlichen Erzählungen – von in sich gebrochenen, weißen, männlichen Songwritern und Textern und Produzenten. Abgesehen von diesen konkreten Beispielen – ich könnte andere wählen – stilisieren diese Texte aber nicht nur. Sie erzählen vor allem auch über die Selbstwahrnehmung, das Selbsterleben als öffentliche Figur, als mediale Persona.
Die mediale Persona des Pop (und das heißt in diesem Fall: des idealtypisch weißen, westlichen, wohlhabenden und männlichen Pop) der 2000er Jahre ist überrascht und irritiert: sie kann nicht mehr ohne weiteres lines ziehen; sie kommt nicht über den Irakkrieg unter New Labour hinweg; sie wird von Fans gerne für britisch gehalten. In allen diesen drei Auszügen – und mehr wären zu zitieren – präsentieren sich auch mediale Erzählungen als Selbsterzählungen. Die eigene Existenz wird in einer gesteigerten Interpretation auf den Punkt gebracht und eben in einer exaltierten Abgrenzung inszeniert. I am what I am. This is my life: eine apodiktische Existenzrahmung. We’re never stop living that way.
Diese Existenzrahmung, die Popmusik immer auch für ihre Hörerinnen und Hörer bedeutet, beginnt in diesen medialen Selbsterzählungen. Die Persona rahmt sich selbst in ihren Produkten; und wir, begeisterte Hörer, Fans, nehmen dieses Angebot an und lassen unsere Existenzen vielleicht davon mitrahmen. So werden Pop-Personae zu Vorbildern im performativen und körperlichen Sinne.
Ich hätte hierzu auch die ganz grands récits der klassischen Weltpop-Personae zitieren können wie Lady Gaga, Madonna, Björk, Michael Jackson oder Prince; doch entsteht die Existenzrahmung nicht durch die Größe der Verkaufszahlen. Mediale Personae erleben und singen sich gerade in ihren kleinen, mutmaßlich lakonischen alltäglichen Handlungen. In Verwechslungen, Erwartungen und Begehren.
Mike Skinner noch einmal, aus dem gleichen Song: »When you’re a famous boy, it gets really easy to get girls: It’s all so easy you get a bit spoilt. But, when you try to pull a girl, who is also famous too: It feels just like when you wasn’t famous« (The Streets 2007: Track 7) Die Fama, das Gerücht um medialer Personae, sie trägt zur Existenzrahmung ganz entschieden bei. Die Größe einer Persona belegte sich nicht zuletzt auch im assimilieren, transformieren und verkörpern solcher Projektionen.
Mediale Personae ähneln darin den Figuren der Commedia dell’Arte, sie sind Hanswurste und Columbinen, Pantalones. Anno 1998 wird die Commedia dell’Arte der Gegenwart denn auch von Rainald Goetz wie folgt erzählt, in seinen Frankfurter Poetik Vorlesungen Ästhetische Praxis. Praxis Dr. Wirr:
»Man sieht Till Schweiger und Edmund Stoiber, Arabella Kiesbauer, Georg Kofler, Jörg Heider und den großen Lindenstraßen-Darsteller Georg Schröder, neben Peter Handke, der an dem Abend einen Lebenswerk-Bambi bekommen sollte, oder noch schöner natürlich: schon bekommen hat. Aus der Hand, wir sehen die Aufzeichnung, diesen bewegenden Moment, seines Freundes Hubsi Burda. Applaus brandet auf, Sloterdijk verneigt sich – und Bernd Eichinger, der große Amerikaner, steigt jetzt aus dem Bus, so lässig es geht, die Waffe Rössners am Kopf.« (Goetz 1999: 257) Die mediale Bühne ist ein solcher Verstärker, ein Vergrößerungsglas der jeweiligen Eigenheiten. Oder wie Goetz schreibt: »Die BÜHNE ist eine LUPE.« (Goetz 1999: 257)
Durch diese Lupe sieht das Duo Die Zimmermänner – ihr vorletztes Album erschien 1984, Titel: Goethe; ihr letztes, Fortpflanzungssupermarkt, erst 23 Jahre später, 2007 –, diese Zimmermänner also, Timo Blunck und Detlef Diederichsen, viele mediale Personae gegenwärtig stolzieren. Personen, die ihre Existenz nicht nur durch mediale Pop-Erzählungen rahmen, sondern auch durch Pop-Design, -Politik und -Ergonomie.
Diese Gruppe von Menschen – zu denen vermutlich nicht wenige Leserinnen und Leser dieses Artikels, wohl auch sein Autor, mehr oder weniger gehören – besingen die Zimmermänner denn auch wie folgt, in sarkastischer Affirmation im Song Nirwana: »Du willst einen Porsche mit Elektroantrieb und ein ergonomisches Bett. Ein Leichtmetallrad. Ein Beet mit Salat. Und endlich einen perfekt regierten Staat. Du willst einen iPod für Deinen Nintendog. Eine Araukarie fürs Bad. Deine Kindheit zurück. Deinen Anteil vom Glück. Und vom Käsekuchen der Liebe ein Stück. Du willst, dass die Blödmänner anfangen zu schweigen. Dass Pure Vernunft endlich siegt« (Die Zimmermänner 2007: Track 8) Pure Vernunft darf niemals siegen lautete bekanntermaßen der Titel einer Albumerzählung von Tocotronic: Widerstand gegen den von den Zimmermännern karikierten, weißen Faschismus kalifornischer Vernunft-Ideologie (Barbrook/Cameron 1995) – herausragend im Apple-Konzern, der letzthin immer mehr in seiner Ideologiehaftigkeit begriffen wird.
Zwei Dispositiv-Analysen
Das Dispositiv der Pop-Persona zeigt sich in Handlungen und in Dingen: in Sprechhandlungen und in audiovisuellen Artefakten. Ein historisch eminentes Genre ist dabei das Musikvideo. Dinge und Handlungen bespielen diese herausragende mediale Bühne. Zwei Beispiele für mediale Erzählungen möchte ich an dieser Stelle zeigen und untersuchen; Beispiele für eine Dispositiv-Analyse des Pop.
(1) Johnny Cash: Hurt
Was sehen wir in diesem Musikvideo? Wir sehen – und hören – einen Lebensrückblick. Hurt war die letzte Single der medialen Persona Johnny Cash, vielleicht ihr größter Welterfolg in den Charts, ein Jahr vor ihrem Tod. Produziert hat diesen Song wie auch die letzten Alben von Cash, Produzent Rick Rubin als American Recordings, so der Name von Rubins Label – in den 1980ern hatte Rubin das Hip Hop-Label Def Jam Recordings mitgegründet und für die Beastie Boys gedeejayt. Die mediale Videobühne wurde inszeniert von Mark Romanek aus Chicago; für Madonna, David Bowie, Michael und Janet Jackson sowie für Trent Reznors Nine Inch Nails hatte dieser elegant-stilisierte dystopische Szenarien entworfen: im Platinschimmer gerundeter Armaturen begegneten sich Stilisierung und die Rebellion dagegen.
I hurt myself today
to see if I still feel
I focus on the pain
the only thing that’s real
Medial wird uns hier erzählt von der Persona Cash und ihrer Erkrankung des äußeren Nervensystems; die ihrer eigenen Geschichte begegnet im House of Cash Museum in Nashville, ein Mausoleum zu ihren Ehren, seit einiger Zeit schon geschlossen. Cash verschüttet Wein auf einem üppig gedeckten Tisch; seine Preise, seine alten Filme, Filmauftritte sind zu sehen. Der Rückblick auf ein Leben, seine Frau June Carter Cash bei ihm, die noch vor ihm sterben sollte; an uns zieht sein Leben vorbei. Am Ende des Videos schließt Cash die Abdeckung des Pianos, woraufhin die Einblendung erscheint: »Songwriter: Trent Reznor« Die mediale Erzählung, die uns hier so sehr ergreifen und berühren kann, sie beruht ganz auf einer Coverversion; einem Lied, dass Reznor (geboren 1965) in seinem Indie-Erfolgsalbum The Downward Spiral von 1994 zum ersten Mal produziert und selbst interpretiert hatte.
Die mediale Bühne, die Cash hier bereitet wurde und die er als mediale Persona wie gewohnt souverän füllt, wird von ihm bespielt anhand der Vorlage einer anderen medialen Persona: ein ganz gewöhnlicher Vorgang der theatralen Interpretation und der bestmöglichen Verkörperung. Die mediale Persona Cash verkörpert Reznors Lied Hurt weitaus besser, stimmiger und in seiner Gebrochenheit konsistenter als Trent Reznor dies je hätte tun können. Seine exaltierte Abgrenzung wie auch die Rahmung seiner eigenen Existenz im House of Cash erfüllen diesen Song mit Leben. Cashs Kunst der Performanz wird hier eminent spürbar.
Was in populärer Kultur gern als inauthentisch gescholten wird, geschieht im Schauspiel Tag für Tag: der Übertrag, die inkorporierende Aneignung fremder Texte und fremder Handlungsanweisungen – um diese möglichst überzeugend in actu darzustellen. Diese Nutzung fremder Texte, Artefakte, Libretti oder Skripte ist ebenso Teil medialer Bühnenpraxis. Reznors Text ist nunmehr integraler, indetifikatorisch zentraler Teil von Cashs medialer Erzählung. Cash ist Hurt.
everyone I know
goes away in the end
and you could have it all
my empire of dirt
I will let you down
I will make you hurt
Zusammengefasst: Die Pop-Persona Cash erzählt durch Trent Reznors Song, in der Studioproduktion durch Rick Rubin und der Musikvideoinszenierung durch Mark Romanek seine eigene mediale Erzählung des Mannes in Schwarz mit der Dornenkrone. Eine stimmige Verkörperung.
(2) Gorillaz: Feel Good Inc.
Hingegossen in rotem Licht liegt das Publikum vor der Band. Die vermeintlichen Zeichentrickfiguren – perfekte mediale Personae – der Gorillaz werden begleitet von den drei Rappern von De La Soul und später ebenfalls begleitet und abgelöst von Madonna im ABBA-Loop, begleitet und umtanzt von jugendlichen Tänzern und Tänzerinnen. Die medialen Erzählungen dieser drei Künstler oder Bands werden auf der eminenten medialen Bühne des Grammys-Awards miteinander verflochten: die Kür jeder großen US-Preisverleihung.
Eine Zeichentrickfigur ist immer stilisiert. Die medialen Pop-Personae der Gorillaz können darum anomale und ins exaltierte Extrem gesteigerte Körperformen und Handlungen zeigen – was handelsüblichen Pop-Personae oft unmöglich scheint, sichtbar am trainiert-meditiert-hypernormalisierten Beispiel Madonna. Die menschlichen Personae auf dieser Bühne erscheinen formatierter und klischierter als die animierten Personae: sie können sich Freiheiten erlauben, sie inszenieren großartig ihre eminente Performance. Die mediale Erzählung der Gorillaz allerdings präsentiert vergleichsweise offen die Produzenten im Hintergrund, Damon Albarn und Tank Girl-Zeichner Jamie Hewlett. Während die Personae Madonna und De la Soul ihre Integrität durch Kontrollwahn- und Mastermind-Posen bekräftigen müssen, ist bei den Gorillaz klar, wie gestaltet, produziert und kalkuliert sie sind. Genau darum können sie sich rebellischer zeigen. Die Menschen sind zu brav.
Als allzu-brave Betriebs-Personae arbeiten sie sich ab an ihrer Künstlerbiographie und ihren Medienkampagnen. De la Soul inszenieren sich auf medialer Bühne als böse Geister, obwohl sie schon länger nicht mehr als stilvolles, schlechtes Gewissen des Rap respektiert werden. Die Madonna-Persona dagegen muss sich exzessiv als Sängerin/Tänzerin immer wieder auf sich selbst zurückbeugen im ABBA-Loop, der in den Clubs der gay community nie vergessen war. Ihre mediale Erzählung – nunmehr in mauve-farbenem Spandexbody, mauve-farbener Corsage, hautfarbenen Strumpfhosen, Straßohrhänger – beugt sich zurück zu ihren eigenen Anfängen, zwanzig Jahre zuvor in weißen oder schwarze Bustiers, Like a Virgin, Like a Prayer propagierte, dann die Mutterschaft Madonnas mainstreamfähig machte, ein Ray of Light, gar patriotisch-kritisch sich gebärden wollte, American Life – und nunmehr ein antikisierendes Tableau begehrender Körper auf offener Bühne zeigt, am Ende ihres vierten Lebensjahrzehnts.
Das größte Charisma, die freieste Unverstricktheit und Unkorrumpiertheit zeigen also die medialen Personae der Trickfiguren. Exaltiert und apodiktisch bieten sie eine Existenzrahmung für uns an. Regulatorien und Disziplinierungen der Popkontrolle überspringen sie, was dialektischer Weise nun einmal ebenso von ihnen erwartet. Sie verkörpern bestmöglich die Rolle der Rebellen. Ich erinnere mich, wie genau diese Rolle des geskripteten Outlaws Kurt Cobain an den Rand des Suizids brachte: Schon Wochen zuvor lief er vor seinen frenetisch applaudierenden Fans umher, äffte sie nach, veräppelte ihr Applaudieren: »Was seid denn Ihr für Trottel!? Ich sing hier von Haß und Leid, Blut und Galle, und das findet Ihr auch noch schön! Ich nicht.«
Es sind die mutmaßlich menschlichen Personae, die als leicht manipulierbare Muppets erscheinen. Streberhaft passen sie sich ein in den Show-Algorithmus des Grammy-Awards. Die animierten Personae rebellieren: sie führen ihre offensichtliche Stilisierung vor, leicht konsumierbar, und zeigen im gleichen Moment deren Ablehnung. Oder wie eine deutsche, exaltiert und abgrenzungsfrohe Persona einst deklamierte, 1989, im Prolog zum Haus der Lüge der Einstürzenden Neubauten:
Meint ihr nicht:
wir könnten unterschreiben
auf dass uns ein bis zwei Prozent gehören
und Tausende uns hörig sind
Meint ihr nicht:
wir könnten uns im Äther braten lassen
und bis zum letzten Tropfen
im Verpackungshandel fronen
Wir könnten, aber —
Woraufhin infernalischer Lärm erklingt, nahe dem Weißen Rauschen.
Meint ihr nicht:
Wir könnten unsere Züge
zigtausendfach, in falschen Farben
weltbewegend scheinen lassen
Meint ihr nicht:
wir könnten es signieren
vielleicht sogar auch resignieren
und dieses Land
gleich Eintagsfliegen
nur noch auf und ab und ab und auf bespielen
um später dann zurückzukehren
ganz aufgedunsen
längst vergessen
nur noch kleine Kreise ziehen
Wir könnten, aber —
White Noise. White Light.
Gegen die mediale Erzählung
Was bleibt einer Persona des Pop also noch zu tun? Prozessiert das Dispositiv Pop besser mit animierten Musikern, mit Vocaloids und virtuellen, gerenderten Schauspielern? Welche Formen exaltierter Abgrenzung wären noch zu zeigen? Welche Existenzrahmung kann Pop heute bieten? Eine Variante möchte ich zum Abschluss erzählen und zeigen. Was passiert, wenn die Selbsterzählung eminenter Performance selbst zum Gegenstand einer exaltierten Abgrenzung eben davon wird? Wenn der Erfolg der eigenen Performance kaum mehr eminent, sondern erwartet und öde ist? Dann bietet allein der Nichterfolg eine Exaltation, die sich wiederum als Selbsterzählung darstellen lässt: Kapitulation. Wenn das Produkt Pop so gut funktioniert – auch in deutscher Sprache und bei aller Klage um Digitalisierung und Urheberrechtsverletzungen, die eher Transformations-Schmerzen der Gesellschaft anzeigen als Rechtsverletzungen; wenn die mediale Selbsterzählung so geschmiert und aggregiert funktioniert wie nie, dann lohnt es sich, ein noch dekadenteres, albernes Spiel mit ihr und ihren Markt(ing)gesetzen und -routinen zu treiben, die auch eine Band wie Tocotronic im Schraubstock halten. Zur ersten Single (Titel wie zuvor erwähnt: Sag Alles Ab) ihres 2008er Albums erschien kein Video; zum ersten Video allerdings, Kapitulation, erschien nie eine Single. Der obsessive Synergiezwang der Werbemittel, der so üblichen medialen Erzählung in Produkten wurde entkoppelt. Die Medien senden so für sich hin. Und ebenso kontraintuitiv erschien darum auch statt des üblichen Pressetextes und Waschzettels zum Album ein »gesprochenes Manifest« als B-Seite der ersten Single: ein Pastiche, in marktunüblich deklamatorischer Form aus Phrasen und Slogans des Albums kompiliert: eine wahrhaft mediale Erzählung. Depressiv und dandyesk sieht die Persona auf sich selbst; wundert sich über die Leichtigkeit ihrer Verbreitung; und handelt wider sie, verschwenderisch. »Fuck it!«
Kapitulation
Das schönste Wort in deutscher Sprache
Ka-pi-tu-la-tion
Wie Töne die Tonleiter hinauf
So gleiten die Silben die Zunge hinab
Viel mehr als das ordinäre Scheitern
Ist die Kapitulation vor allem dies :
Ein Zerfall
Ein Fall
Eine Befreiung
Eine Pracht
Eine Hingabe
Die endgültige Unterwerfung
Die größte aller Niederlagen
Und gleichzeitig unser größter Triumph.
Mit der Gitarre in der Hand
Und dem Lorbeerkranz auf der Stirn
Sind wir tief in die Unterwelt gereist
Und auf die allerschönste Weise daraus hervorgegangen
Unser Besuch in der Vorhölle
war die Vorraussetzung für das Gelingen unserer Vorhaben.
Der Ausbruch aus der Festung
Monatelang sind wir herumgestolpert
Komatös, doch auf den Beinen
Draußen auf den Wiesen und Feldern
Sind wir durch den frischen Tau geschlurft
Flüchtig und ungehorsam
Wir staunten und waren voller Glück
Und wir wussten:
Keinesfalls würden wir uns wieder ihren Blicken aussetzen
Wie die Wölfe im Gehege
Oder die Stars in der Manege
Wir müssten nie wieder zeigen was wir konnten
Und müssten nie wieder sagen was wir dachten
Wir würden nur die Kälte spüren
Wie sie uns an den Kopf greift
Wir würden unsere eigene Nutzlosigkeit genießen
Wir würden uns in Luft auflösen
Wir würden einfach atmen
Kapitulation
Die absolute Niederlage
Die endgültige Unterwerfung
Die totale Hingabe
Dadurch werden wir so stark lieben können
Und so stark geliebt werden
Dass wir wie Imitationen des jeweils anderen werden
Alles was einmal unser war wird von uns abfallen
Aber auch alle Sorgen
Alle Qualen
Wir werden uns gegen uns selbst verschwören
Wie alle Geister dies tun
Viel mehr noch
Wir werden Krieg gegen uns selbst führen
Wenn wir am Boden sind,
werden wir einfach liegen bleiben
Das wird unserer größter Trost sein
Wir werden die Augen schließen
Und ein Feuerwerk in der Nacht sehen
Alles in uns
Um uns
Und um uns herum
wird explodieren
Alle Türen werden durch Zauberhand geöffnet werden
Und kein Wille wird triumphieren
Wir werden irre sein
Wir werden zornig sein
Und wir werden den Leugnern in ihre Gesichter spucken
Wir werden im Besitz der magischen Formel sein:
FUCK.IT.ALL.
Kapitulation ist alles
Und wir alle müssen kapitulieren
Wir werden viele sein.
Jeder einzelne von uns.
Und wir werden unter euch sein.
Niemand von uns wird über einen anderen sagen können:
Er sei dies oder das.
Wir werden uns gegenseitig ein Fanal sein.
Und wir werden mit der ganzen Welt in Verbindung stehen:
Mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Mineralien.
In uns werden Stimmen laut werden
Und für uns im Chor singen.
Ein neues Lied, ein neues Glück.
(Tocotronic 2007a)
Tocotronic: Ein gesprochenes Manifest (2007)
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Holger Schulze ist Gastprofessor für Sound Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin.